Hermann Paul - Deutsches Wörterbuch
Wesen
ahd. wesan, mhd. wesen, ⇓ "S093" substantivierter Infinitiv (↑ 2"sein");1das Sein, Dasein‹: alles, dem man ein Wesen, ein Dasein zuschreiben kann(Goethe), den Gipfel des eigenen Werdens und Wesens (Goethe), Gegensatz "Schein": das Wesen nicht dem Schein aufzuopfern (J.Müller); dazu wesenhaftwirkliche Existenz habend‹;
2Natur, Inbegriff der Eigenschaften‹: Gottes unsichtbares Wesen, das ist seine ewige Kraft und Gottheit (Luther); im ⇓ "S074" geflügelten Wort Ausdruck nationalistischer Hybris: Und es mag am deutschen Wesen / Einmal noch die Welt genesen (1883 Geibel; L027 Büchmann); auch
2.1Inbegriff derjenigen Eigenschaften, auf die es eigentlich ankommt, im Gegensatz zu den nebensächlichen‹: an dem Wesen der Sache wird nichts dadurch geändert;
2.2die tätigen Äußerungen der Eigenschaften‹, gottloses, böses, angenehmes, freundliches Wesen; das böse Wesen auch vom krankhaften Zustand (Epilepsie): da sie bei zunehmendem Monde gewöhnlich das böse Wesen bekam(Wieland);
3Tun und Treiben‹, bei Luther Leben und Wesen, Wesen und Tun; hierher sein Wesen treiben; bei Schiller: Rauch ist alles ird'sche Wesen; der Friede wird kommen über Nacht, der dem Wesen ein Ende macht. Dazu Zauberwesen, Kupplerwesen und Zigeunerwesen (Goethe), Hauswesen, Armenwesen, Finanzwesen, Militärwesen, wohl auch "Leidwesen" (↑ "leid"); ferner ↑ "Unwesen". Der Begriff der Tätigkeit tritt noch stärker hervor in ein Wesen, viel/ großes Wesen [›viel Aufhebens‹] von etwas machen, mit Bewahrung der älteren Konstruktion (↑ "viel") viel Wesens machen und danach auch ein Wesens machen;
4.1das Sein an einem bestimmten Ort, der Aufenthalt‹, wiederholt bei Luther sein Wesen habensich aufhalten‹, dazu wirst du unter denselben Völkern kein bleibend Wesen haben; ⇑ "abwesend", "anwesend"; daher dann auch
4.2Ort, wo jmd. sich aufhält und sein Geschäft treibt‹, speziell ›Grundstück‹: dem Obristen das Wesen abhandeln(Iffland), dazu "Anwesen" (↑ "anwesend");
5"S168"ein Seiendes, eine Substanz‹; Haller gebraucht es für die Gesamtheit des Seienden: als mit dem Unding noch das neue Wesen rung und des Wesens ganzes Reich; gewöhnlicher für ein Einzelding: Träume werden um mich her zu Wesen (Schiller), je 2 zu 2 verbundene Wesen (Stoffe im chemischen Sinn; Goethe); allgemein üblich nur von etwas Lebendigem, so ein Gegenstück zu dem in der Regel nur auf Lebloses bezogenen "Ding" bildend, diesem sonst an Allgemeinheit des Begriffes gleich;
6ein Ganzes, dessen einzelne Teile zusammenwirken‹: das gemeine Wesen, jetzt "Gemeinwesen" (Staat, Gemeinde u.dgl.).
Wesenheit mhd. (⇓ "S142" Mystik) wesen(t)heit;
1 (ohne Plural) »das wesen eines dinges,.. der inbegriff.. der wesentlichen merkmale« (Krünitz; L059 DWb): die wesenheit der seel kan kein tyrann zerstören(Harsdörffer; L059 DWb);
2 (ohne Plural) ›wirkliche Existenz, Realität‹ (1657/ 75; L059 DWb): er will nicht wesenheit, schein will der thorentrosz(Rückert; L059 DWb);
wesentlich ahd. wesentliho, mhd. (v. a. ⇓ "S142" Mystik) wesenlich (in dieser Form bis Anfang des 16. Jahrhunderts; L059 DWb); allgemein seit dem 15. Jahrhundert
1 an Wesen(2.1) anknüpfend, zunächst ›real‹: wesentlich und wahrhafftig (Luther; L059 DWb), abstrakter ›bedeutend, wichtig, eigentlich‹: die erbsünde… ist die wesentliche sünde (1569; L059 DWb), Mensch, werde wesentlich: denn wann die Welt vergeht / So fällt der zufall weg / das wesen das besteht (Angelus Silesius, Zufall und Wesen; A319 Karl Otto Conrady, 51); seit dem 18. Jahrhundert »namentlich von ideellen gütern«: kein wesentlicheres glück als die freundschaft (Klopstock; L059 DWb), seit späterem 19. Jahrhundert auf Menschen bezogen (G.Keller); weiter abgeblaßt es ist wesentlich, daß… (1764; L059 DWb), das ist nicht wesentlich, im wesentlichen »hauptsächlich, im groszen ganzen« (L059 DWb);
2"S080" Gradpartikel: ihre Schwester ist wesentlich älter (Anfang des 18. Jahrhunderts; L059 DWb).
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