Hermann Paul - Deutsches Wörterbuch
Welt
ahd. weralt, mhd. werlt, westgermanisch, ⇓ "S242" Zusammensetzung (engl. world) aus ahd. werMann‹ (lat. vir; ⇑ "Wergeld", "Werwolf") und einem z. B. in got. alds›Menschenalter, Zeit‹ bewahrten germanischen Substantiv; L264 Daniel Sanders notiert Werlt (als veraltet; s. v. Gewerke); die Bedeutungen ›Menschenalter‹ und ›Zeitalter‹ noch mittelhochdeutsch; daneben bis ins Frühneuhochdeutsche1Menschenmenge‹, eine große welt volcks(Luther; L059 DWb), daneben wie jetzt nur speziell ›Gesamtheit der Menschen, unter denen man lebt‹, oder ›Gesamtheit‹ überhaupt: die böse Welt sagt, alle Weltjedermann‹ (ahd. ), synonym die ganze Welt (frühnhd.), sprichwörtlich die Welt will betrogen sein (lat. mundus vult decipi; frühnhd. Murner), vor der weltin aller Öffentlichkeit‹ (15. Jahrhundert; L059 DWb), in/ vor den augen der welt (Lessing; L059 DWb), urteil der welt (1815; L059 DWb), was die welt… bis itzt von elenden übersetzern gesehen hat(Lessing; L059 DWb), das seltsamste Werk… , was die Welt gesehen hat (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Brief vom 6.6.20), umgangssprachlich so was hat die Welt noch nicht gesehen (L059 DWb), zwiespalt zwischen innen und außen, zwischen ich und welt (Hesse; L059 DWb), "Außenwelt" (Goethe), "Innenwelt" (B. v.Arnim); ein "Allerweltskerl" usw., "Mitwelt", "Vorwelt", "Nachwelt"; häufig im 18. Jahrhundert unter Einfluß von franz. monde: die Welt [›die Leute‹] versammelt sich immer mehr an Fenstern und Türen (Jean Paul), getümmel der großen welt (1778; L059 DWb), in allen Häusern war große Welt, heute war viel Welt bei mir (Goethe), Mittags bin ich in der Welt und Sie des Abendsin Gesellschaft‹ (Goethe), auch ›Treiben der Menschen‹,
⊚⊚ so geht's in der Welt, durch die Welt kommen, sein Fortkommen in der Welt finden, Strom der Welt, die verkehrte Weltin der die bisherige Lebensordnung nicht mehr gilt‹ (L169 Matthias Kramer); jemand, der sich von dem gesellschaftlichen Treiben fernhält,
ist nicht von dieser Welt nach Johannes 8,23; in die Welt einführen, Welt haben [›Lebensart‹], ein Mann von Welt, Weltmann (s. unten), ↑ "Halbwelt".Gegensatz das Aufgeben der Welt durch den Eintritt in ein Kloster, in ein religiöses, spirituelles Leben, daher vor gott und der welt schwören, bekennen, bezeugen (1408; L059 DWb), Gott und die Weltalle‹: sollichs got und der welt ze clagen(1525; L059 DWb), Weltgeistlicher, Gegensatz Klostergeistlicher;
2.1Lebensraum der Menschen, Erdkreis‹ (ahd. ): in die weite Welt (Sachs; L059 DWb), auf der Welt nach dem Muster von auf der Erde, Europa der dritte Theil der Welt (L105 Georg Henisch s. v. Europa), an allen vier enden der welt(Lessing; L059 DWb), dieAlte Welt und die Neue Welt (1508; L059 DWb) ›der längst bekannte‹ und ›der erst später bekanntgewordene Teil der Erdoberfläche‹, also ›Europa‹ bzw. ›Amerika‹; Dritte WeltEntwicklungsländer‹; die entferntesten regionen der welt(Klinger; L059 DWb), das ist nicht aus der Weltliegt innerhalb der von Menschen bewohnten Erdfläche‹, daher ›ist nicht so weit‹ (16. Jahrhundert; L059 DWb); ähnlich am Ende der Welt (ahd. ; L059 DWb) übertreibend ›am äußersten Ende eines Landes, einer Stadt, weit abseits gelegen‹;
jmdm. steht die Welt offen (Knigge; L059 DWb) ›jmd. hat alle Möglichkeiten‹; nicht immer von (2.1) klar abzugrenzen
2.2das irdische Dasein, Leben‹, Lauf der Welt (frühnhd.), wann ich den lauf der welt betracht(Gerhardt; L059 DWb), so geht es in der welt(Rädlein; L059 DWb), du kennst die welt noch nicht(1761; L059 DWb), zur Welt kommen/ bringen, in die Welt setzen, das Licht der Welt erblicken, aus der Welt gehen/ scheiden, aus der Welt sein auch auf Lebloses bezogen: wäre doch dein degen aus der welt (1742; L059 DWb), aus der Welt räumen/ schaffen, da… der Newtonische Irrthum… aus der Welt zu schaffen ist (A075 Johann Wolfgang von Goethe, II 5,2,215); ›existieren‹, auf Menschen bezogen mit auf: auf der Welt sein, abstrakt mit in: sind denn nicht genug postillen genug in der welt? (1674; L059 DWb);
3Schöpfung‹ (ahd. ), hat gott den herrn für gut angesehen, die welt, das ist himel vnd erden vnd alles, so darinnen ist, zu erschaffen (1566; L059 DWb), in festen Wendungen: solange die Welt besteht, als ob die Welt untergeht, davon geht die Welt nicht unter(mundartlich siegerländisch); auch ›Weltall, Universum, Makrokosmos‹ (14. Jahrhundert; L059 DWb), das erdtreich… ain… mittel punct aller werlt (Konrad von Megenberg; L059 DWb); speziell ›Himmelskörper‹ (L004 Johann Christoph Adelung), seit dem 18. Jahrhundert im Plural aller welten himmelskreise (E. v.Kleist; L059 DWb), Gegensatz kleine WeltMikrokosmos‹ (14. Jahrhundert), der mensch, die kleine welt (Ch.Weise; L059 DWb), welt im kleinen (18. Jahrhundert; L059 DWb);
4Bezirk eines Gestirns‹ (⇓ "S126" häufig bei Klopstock), diese Welt, die irdische Welt;
5in sich geschlossener (Lebens-)Bereich‹: die junge, schöne, katholische, literarische, gelehrte Welt; die Welt der Träume, Phantasien, Wirklichkeit, Ideen, Sinne, sinnliche Welt (1772; L059 DWb), Welt der Philosophen, Kaufleute, ich hab… von seiner und meiner Welt geschwätzt (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Brief vom 17.-24.5.76), das ist meine/ ihre… welt (Herder), Bücher sind seine (ganze) Welt; wohl erst neuer
das ist nicht meine Welthier passe ich nicht her‹, die Pflanzenwelt, Tierwelt, Geisterwelt, Märchenwelt, Sinnenwelt; das ist eine Welt für sich, eine neue Welt schließt sich mir auf; in der ⇓ "S168" Philosophie (I.Kant) ›Erfahrungsbereich‹, welt begreift die physische und psychische natur in sich (Hegel; L059 DWb), jede sprache… [enthält] ausdruck für alle vorstellungen… , welche die nation sich von der welt macht (W. v.Humboldt; L059 DWb), die welt der inbegriff objektiver, begrifflich fixierter erscheinungen (1913; L059 DWb);
6eine große, schwer zu erschöpfende Masse‹ (frühnhd., v. a. 18./ 19. Jahrhundert; L059 DWb): eine Welt von Gedanken; eine Welt zwar bist du, o Rom(Goethe), mein Busen, von hundert Welten trächtig(Goethe);
7 abgeblaßt seit dem Althochdeutschen (L059 DWb) zur Verstärkung: der beste Mensch von der Welt; nichts, kein Ding, nirgends in/ auf der Welt; um alles in der Welt; wer/ was in der/ aller Welt.
Weltall um 1750 zur ⇓ "S241" Verdeutlichung von "All" ›Universum‹ (Wieland, I.Kant, Haller, Jean Paul; Herder u. a., dafür auch Weltenall;
Weltanschauung
1subjektive Vorstellung von der Welt‹ ⇓ "S238" zuerst 1790 bei I.A153 Immanuel Kant: dessen Idee eines Noumenons [›Verstandeswesen‹], welches selbst keine Anschauung verstattet, aber doch der Weltanschauung, als bloßer Erscheinung, zum Substrat untergelegt wird(Kritik der Urteilskraft; AA 5,255); so auch 1799 Schelling: daß unsere Weltanschauung bestimmt ist durch unsere ursprüngliche Beschränktheit (I 3,182); dann auch
2.1seelisch-geistige Grundhaltung‹: in diesem augenblicke empfing er in seiner melancholisch-humoristischen weltanschauung die gestalt des Till (Immermann; L059 DWb);
2.2philosophisches/ ideologisches System‹ (2. Hälfte des 19. Jahrhunderts; L059 DWb): der großen Ideensysteme, die wir Weltanschauungen zu nennen pflegen (H.A.Korff, Geist der Goethezeit, Bd. 1, 1923,6); ⇓ "S145" nationalsozialistisch scheinlegitimierend »ein von Rasse, Charakter und Schicksal bestimmtes Wertsystem, das für das deutsche Volk vom Nationalsozialismus repräsentiert wird« (L281 Cornelia Schmitz-Berning). A.Goetze, in: L068 Euphorion 25.1924,42–51; H.G.Meier, »Weltanschauung«, Diss. 1970;
weltanschaulich (Anfang des 20. Jahrhunderts), im ⇓ "S145" Nationalsozialismus in Verbindungen wie weltanschauliche PrüfungZensur‹, weltanschauliche Schulung: Bezeichnung totalitärer Herrschaftsinstrumente zum Zweck der Ideologisierung;
Weltansicht »Betrachtung der Welt« L033 Joachim Heinrich Campe 1811, so auch bei W.v.A137 Wilhelm von Humboldt (ohne metaphysische Zutat): Die Sprache ist… der Abdruck des Geistes und der Weltansicht der Redenden (1827 Ueber den Dualis VI,23); mit erweiterter Bedeutung wie Weltanschauung (s. oben);
weltbewegendbedeutende Wandlungen herbeiführend‹ (1839; L059 DWb), ⇓ "S227" verblaßt ›groß, bedeutend‹ Ende des 19. Jahrhunderts (L059 DWb); übertragen negiert ›belanglos‹: kein weltbewegendes werk (Th.Mann; L059 DWb);
Weltbild ahd. uuerltpilde (Notker; L059 DWb), entfaltet seit dem 19. Jahrhundert, verfestigt (gegenüber Weltansicht bei W. v.Humboldt) bei Weisgerber: die… leistung der sprache [ist], dasz sie dem menschen ermöglicht, alle seine erfahrungen in einem weltbild zu vereinigen (L059 DWb);
Weltbürger (1669 S.Birken; L345 Friedrich Karl Ludwig Weigand/ L345 Herman Hirt), ⇓ "S124" Lehnübersetzung von "Kosmopolit", unter Einfluß von franz. cosmopolite, im 18. Jahrhundert ⇓ "S192" Schlagwort der Aufklärung;
weltflüchtig 1517 (L059 DWb) nach 2.Petrus 1,4; rückgebildet
Weltflucht 1671 (L059 DWb), seit Ende des 18. Jahrhunderts häufiger;
weltfremdvöllig fremd‹ 16./ 17. Jahrhundert (J.Mechtel; L059 DWb), übertragen ›lebensfremd, wirklichkeitsfremd‹ 1827 (L059 DWb);
Weltfrieden 1552 (L059 DWb);
Weltgeist um 1650 (L059 DWb);
Weltgericht 16. Jahrhundert;
Weltgeschichte als ›MenschheitsgeschichteL308 Kaspar Stieler 1691 (↑ "Geschichte");
Weltgewissen 1919 F.W.Foerster Weltpolitik und Weltgewissen (Titel);
Welthandel um 1778 (L059 DWb);
Weltherrschaft die Römer waren aus einem engen… zustand zur groszen breite der weltherrschaft gelangt (Goethe; L059 DWb); älter »herrschaft weltlicher art, irdisches regiment der menschen« (J.Böhme; L059 DWb);
Weltjudentum 1908 A.Deißmann, ⇓ "S032" Anfang 1920 von Hitler u. a. als antisemitische Hetzprägung gebraucht und von der ⇓ "S145" NS-Sprache allgemein übernommen (W.Betz, in: Festschrift J.Spörl 1966,41ff.);
Weltkind 1520 (L059 DWb) nach ⇓ "S036" Lukas 16,8 (siehe dazu den Beleg unter "Prophet");
weltklugstaatsklug, politisch geschickt‹ (Luther; L059 DWb);
Weltkrieg vereinzelt seit 1599 (L059 DWb), häufig seit 1814 (L059 DWb), nach 1945 zumeist in den unterscheidenden Verbindungen Erster Weltkrieg, Zweiter Weltkrieg;
Weltkugel 1582 (L345 Friedrich Karl Ludwig Weigand/ L345 Herman Hirt);
Weltliteratur 1772 Schlözer in seiner ›Vorstellung der Universaltheorie‹; A.Berczik, in: Acta Germanica et Romanica 2,7; von ⇓ "S032" A075 Johann Wolfgang von Goethe im Januar 1827 theoretisch fundiert, Tagebücher 15.1.27, Brief vom 27.1.27; Gespräche 31.1.27: Nationalliteratur will jetzt nicht viel sagen, die Epoche der Weltliteratur ist an der Zeit;
Weltmacht L308 Kaspar Stieler 1691 »potentia terrestris, mundana«; ›Großmacht‹ 1868 L. v.Ranke (L059 DWb);
Weltmann ahd. weraltmanBewohner der Erde, Mensch‹, in der heutigen Bedeutung seit L134 Levinus Hulsius 51616;
weltmännisch (L033 Joachim Heinrich Campe 1811);
Weltmeisterschaft 1932 (L059 DWb) (L025 Brockhaus 141898 Weltmeisterschaftsfahren);
weltoffen 1851 (L059 DWb);
Weltöffentlichkeit 1931 (L059 DWb);
Weltpolitik 1855 Gotthelf;
Welträtsel 1804 A139 Jean Paul; das ungeheuere Welträtsel versprechen Nachtstimmen zu erraten (Vorschule der Ästhetik I, I, §5);
Weltraum 1680 (L059 DWb);
Weltregierung 1620 (L059 DWb);
Weltreich Luther (L059 DWb), eigentlich ›irdisches Reich‹; ›Großreich, Imperium‹ nach Daniel 2,37, Fischart (L059 DWb);
Weltrevolution das wandelbare Bild der Weltrevolutionen (1784 A121 Johann Gottfried Herder 30,109,3);
Weltschmerz 1831 A118 Heinrich Heine: welchen großen Weltschmerz hat der Maler hier… ausgesprochen (7,41), ›Inbegriff des irdischen Leids‹ 1823/ 24 A139 Jean Paul: die tausend Qualen der Menschen… Diesen Weltschmerz kann er [Gott] … nur aushalten (II 4,485,6), dann auch ›pessimistische Geisteshaltung‹ (1838–40; L059 DWb);
Weltseele 1617 (L059 DWb) im Anschluß an anima mundi (ebenda);
Weltstadt die Umgegend der alten Weltstadt (Rom: A075 Johann Wolfgang von Goethe, Italienische Reise Oktober 1787; Paris: Brief vom 26.5.26), vereinzelt auch »dem diesseits zugewandte, lebensfrohe stadt« (1595; L059 DWb);
Weltverbesserer (L033 Joachim Heinrich Campe) »Verbesserer der Welt, der Menschen, ihrer Fehler und Einrichtungen« (ebenda), die allgemeinen Welt- und Sittenverbesserer (1791; Allgemeine deutsche Bibliothek), häufig spöttisch: unbelehrbarer Weltverbesserer;
Weltweisheit spätmhd. werltwisheit, seit 1528 (vgl. L059 DWb) synonym zu "Philosophie", im 18. Jahrhundert sehr üblich;
weltweit (L308 Kaspar Stieler) zunächst ›weit in die Welt ausgedehnt‹, unsere teutsche Haubtsprache… dero Gräntze unumschlossen, sondern vielmehr weltweit ersträckt sind (L284 Justus Georg Schottelius 21); seit Mitte des 19. Jahrhunderts im Zuge zunehmender Internationalisierung ›große Teile der Welt erreichend‹, wohl unter Einfluß von engl. worldwide (vgl. L010 AWb), vor allem im Bereich der Politik und Wirtschaft: der englische handel mit seinen weltweiten konvulsionen und schwankungen (Engels; L059 DWb), auch allgemeiner: die erfolgreiche operation erregte damals weltweites aufsehen (Sauerbruch; L059 DWb);
Weltwirtschaft 1776 J.Merck (H.L.Stoltenberg, in: Jahrbuch für Nationale Ökonomie 148,558);
Weltwunder Mathesius (16. Jahrhundert; L059 DWb), wohl im Anschluß an lateinische Wendungen wie mirabilia mundi, miraculum orbis (L308 Kaspar Stieler);
weltlich ahd. weraltlih; ›was sich auf das äußere Treiben der Menschen bezieht, irdisch, materiell‹, Gegensatz "geistlich" ›was aus dem Leben hinaus in ein Jenseits weist‹, weltliche Obrigkeit, Fürsten, Gesinnung; auch ›sündig‹, ein Pfaff… der weltlich lebt (L169 Matthias Kramer);
verweltlichen (L284 Justus Georg Schottelius, dann erst wieder seit dem 19. Jahrhundert);
1sich der Welt zuneigen‹, verweltlicht und verdorben (Freytag; L059 DWb);
2kirchlichen Besitz verstaatlichen‹, synonym zu ↑ "säkularisieren".
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