Hermann Paul - Deutsches Wörterbuch
wahren
ahd. waron (biwaron), mhd. war(e)n, Ableitung von untergegangenem Substantiv ahd. wara, mhd. war Fem. ›Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, das Beobachten, Bemerken‹, also eigentlich ›beachten‹, wohl verwandt mit ↑ "Ware", wurzelverwandt "warnen", "warten"; ›aufrechterhalten‹, am häufigsten in den Zusammensetzungen ⇑ "bewahren", "verwahren" (vgl. auch "gewahren"), als Simplex anfangs hochdeutsch selten, dagegen dem Niederdeutschen geläufig und von da aus seit dem 18. Jahrhundert schriftsprachlich mit Genitiv: so dachte die Frau… ihrer Ehre zu wahren (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Reineke Fuchs 3,130), Talbot, der des Siegels wahret (Schiller), nun wahre Gott der Folgen (Grillparzer), Reinald versprach seiner wohl zu wahrensich in acht zu nehmen‹ (Musäus); aber auch, und heute nur noch, mit Akkusativ: die töricht gnug ihr volles Herz nicht wahrten(Goethe), du wirst die Heiligtümer wahren(Schiller), der Mutter, die ihn wie ihren Augapfel wahrte(Musäus); am üblichsten sein Recht, seinen Vorteil, den Schein wahren u.dgl.; veraltet sich wahrensich hüten‹, ich werde mich schon wahren (Goethe), wenn die Zeit kam, wahrte sich das Hofgesinde, zur Abendzeit den Kreuzgang zu betreten (Musäus).wahrnehmen ahd. wara neman, mhd. war nemen; erster Wortbestandteil untergegangenes Substantiv ahd. wara(s. oben wahren), dieser im Neuhochdeutschen (L059 DWb) zu einem Präfix geworden. Urverwandt griech. horãn ›schauen, betrachten‹, lat. vereri›verehren‹. Im Mittelhochdeutschen ist also war Objekt zu nemen (daneben mit der gleichen Bedeutung war tuon). Der Gegenstand, auf den sich die Beobachtung richtet, tritt dazu in den Genitiv. Dieser Genitiv ist eigentlich von dem Substantiv warregiert, wird aber als logisch abhängig von der Verbindung war nemen empfunden. Durch die Verschmelzung zu wahrnehmen wurde es möglich, stattdessen einen Objektsakkusativ zu setzen, der im 18. Jahrhundert allmählich den Genitiv verdrängt hat;
1 zunächst ›seine Beobachtung, Aufmerksamkeit auf etwas richten‹: nehmet wahr der Raben… nehmet wahr der Lilien; ihr Männer von Israel, nehmet euer selbst wahr an diesem Menschen, was ihr tun sollet (Luther); noch in neuerer Zeit: geh in dich, nimm dein Ende wahr (Mörike);
1.1für etwas sorgen‹: nimm meines Lebens gnädig wahr (Gellert), nehmet der Kinder wahr, vor allen andern des jüngsten (Goethe), wir wollen unsrer eignen Angelegenheiten wahrnehmen (Wieland), seine Patienten wahrzunehmen(Immermann);
1.2wahren‹: die Diplomatie hat dort tätiger als jemals ihre Interessen wahrgenommen (Heine); noch üblicher mit dem daran angeschlossenen Nebensinn
1.3nicht unbenutzt lassen, einhalten‹, besonders eine Gelegenheit, seinen Vorteil, einen Termin wahrnehmen; nimm der Stunde wahr, eh sie entschlüpft (Schiller);
2 am gewöhnlichsten seit althochdeutscher Zeit (L059 DWb) ›(unabsichtlich) sinnlich erfassen‹: Erst jetzt fing ich an, die Stadt, die ich vorher fast übersehen hatte, in mir wahrzunehmen (A102 Peter Handke, Brief 46); auch in dieser Bedeutung erscheint der Genitiv noch öfter im 18./ 19. Jahrhundert. Zu Wahr Fem. (s. unten Wahrzeichen) gehören noch "gewahr", "Gewahrsam", "verwahrlosen";
Wahrnehmung (L200 Josua Maaler 1561);
1 besonders von Sinneseindrücken: mein vergnügen über diese kleine freundschaftliche unterredung wurde durch die wahrnehmung des sichtbaren verdruszes, den Seymour darüber hatte, unendlich vergröszert (La Roche; L059 DWb);
2 als Teil des Amtsdeutschs: unter zu starker wahrnehmung persönlicher Interessen (1892 Fontane; L320 Trübner), jmdn. mit der Wahrnehmung seiner Geschäfte betrauen (L097 GWb);
Wahrzeichen mhd. warzeichen, mittelniederdt. warteken, zuvor (oberdeutsch) ahd. wortzeihhan (dieses noch bis ins 17. Jahrhundert neben Wahrzeichen, jedoch fast ausschließlich ›Losung‹, wo Anlehnung an Wort möglich ist; vgl. L059 DWb); eigentlich nicht zum Adjektiv, sondern zu veraltet Wahr Fem. ›Aufmerksamkeit‹, also eigentlich ›Zeichen zur Aufmerksamkeit‹, jedoch bereits mittelhochdeutsch (L320 Trübner) an wahr"S022" angelehnt und umgedeutet zu ›wahres Zeichen, Zeichen der Wahrheit‹ im Sinne von ›Erkennungszeichen, Kennzeichen einer Stadt, einer Landschaft o.ä.‹ Auch Städte haben ihre Wahrzeichen (L003 Johann Christoph Adelung 1777), das Brandenburger Tor ist das Wahrzeichen Berlins.
Sie können einen Link zu dem Wort setzen

Ansicht: wahren