Hermann Paul - Deutsches Wörterbuch
wahr
ahd. / altsächs./ mhd. / mittelniederdt. war eigentlich ›vertrauenswert‹, dann ›wirklich, gewiß, echt‹, zu vergleichen mit lat. verus, altirisch fir ›wahr‹ (Literatur bei L175 Friedrich Kluge/ L175 Elmar Seebold);1 wahrbezieht sich auf eine Aussage über oder Meinung zu einem Sachverhalt und gibt an, daß dieselbe mit der Wirklichkeit übereinstimmt: Schwört mir, ist's wahr? Ich bin / Betrogen? Bin ich's? Ist es wahr? (A222 Friedrich Schiller, Karlos 3,2). Bezieht sich die Aussage oder Meinung auf etwas Zukünftiges, so kann etwas noch wahr werden, man kann es noch wahr machen (z. B. eine Drohung, ein Versprechen), auch ›beweisen‹: daß auch der weiseste Mann wahr machen helfe, was unser Horaz von seinen Alten sagt(Wieland); das Gegenteil ist, sich der Wahrheit zu verweigern: Sie will es nicht wahr habenwill nicht zugeben, daß es wahr ist‹. Auf künstlerische Darstellung bezogen u. a. ›dem Urbild, der Idee entsprechend‹: die Farbe allein macht das Kunstwerk wahr, nähert es der Wirklichkeit (Goethe), wahr und schrecklich ist dein Gemälde von Monarchen (Schiller);
2 attributiv kann wahr fast zu jedem Substantiv hinzutreten, um auszudrücken, daß ein Sachverhalt wirklich dasjenige ist, als das er bezeichnet, nicht bloß als solches vorgegeben oder angenommen wird, ›richtig‹: wahrer Freund, Gewinn, wahre Liebe, Wissenschaft, Kunst, der wahre Gott (L004 Johann Christoph Adelung), der wahre Glaube (L033 Joachim Heinrich Campe), sein wahrer Name, Die wahre Geschichte Deutschlands ist die Geschichte der geistigen Bewegungen im Volke(H.Grimm, Essays 295). In verstärkender Bedeutung unterstreicht es die dem zugehörigen Substantiv eigene Tonstärke: eine wahre Flut von Schimpfworten, er ist ein wahrer Satan usw.;
3 von Personen und ihren Tätigkeiten ›aufrichtig‹, auch prädikativ: er ist immer wahr gegen mich gewesen; o! wärst du wahr gewesen und gerade (Schiller). Das Neutrum wurde im Althochdeutschen und Mittelhochdeutschen substantiviert wie ↑ "gut". Ein Rest dieses Gebrauchs liegt in wahrsagen (s. unten), ein anderer Rest in ↑ "zwar" vor. Auch das erst seit dem Mittelhochdeutschen auftretende für war (z. B. Fischart: ich glaub auch gentzlich disz für war; L059 DWb) gehört eigentlich hierher, wird aber nicht mehr als Substantiv empfunden, weil man auch für schön (halten) usw. sagt; es ist auch zu dem selbständigen Versicherungswort ↑ "fürwahr" geworden (vgl. unten wahrhaftig). Von der substantivischen Verwendung ist auch die seltene adverbiale ausgegangen: wie hat er so wahr gesagt: »kennt sie nur erst!« (Lessing), nicht so wahr gesagt als schön(Schiller), der Liebe Freuden laß dir schenken, wenn du sie wahr empfinden willst (Goethe);
4 phraseologisch in vielfältiger Funktion; als zustimmende Antwort: wahr und wahrhaftig (Iffland; L059 DWb), sehr wahr! (2. Hälfte des 18. Jahrhunderts; L059 DWb) (dann auch als parlamentarischer Zwischenruf); ach allzu wahr! (L264 Daniel Sanders); wie wahr (Fontane, Treibel); in Frage und Ausruf (im Anschluß an Gesprächsbeiträge), auch als Bekräftigungsformel: nicht wahr?! »eine in der vertraulichen Sprechart übliche elliptische Formel« (L004 Johann Christoph Adelung); als Schwurformel: So wahr als mir Gott helfe!(Heinrich Julius von Braunschweig; L059 DWb); So wahr Gott ist (L004 Johann Christoph Adelung); als Beteuerung, frühnhd. als wahr als, so war ich lebe, spricht der herr (A180 Martin Luther, 4.Mose 14,28), So wahr ich hier stehe! (L004 Johann Christoph Adelung); als Ausdruck von Erstaunen, Überraschung: Das kann doch nicht wahr sein!; von Skepsis: Das ist zu schön, um wahr zu sein!; veraltend: Das ist schon bald gar nicht mehr wahr! (L337 WdG); von Nachdruck: Was wahr ist, muß wahr bleiben! (L097 GWb); ⇓ "S168" substantiviert das Wahre, Gute, Schöne in der Philosophie als Ideal menschlichen Strebens (1774; L059 DWb), auch in der Kunstbetrachtung, daran ist etwas/ viel/ nichts Wahres (vgl. Wieland; L059 DWb), das ist das Wahre »oft das ist das Echte, Rechte« (L033 Joachim Heinrich Campe), das ist auch nicht das Wahre (vgl. G.Keller; L059 DWb). ⇑ "bewähren", "albern".
wahrhaft ahd. / mhd. warhaft, gebildet aus dem substantivischen war; zu wahr(3), s. oben: er ist wahrhaft gegen mich, und wahr(2): wahrhaft groß, es hat mich wahrhaft gefreut; denn einfaches wahr erscheint dafür selten (s. oben); selten als Attribut zu wahr(2): die wahrhaften Ursachen (L004 Johann Christoph Adelung), zur wahrhaften moralischen Freiheit (Schiller), eine wahrhafte Sprechschule(Grillparzer); die Weiterbildung
wahrhaftig (14. Jahrhundert; L345 Friedrich Karl Ludwig Weigand/ L345 Herman Hirt) wurde zunächst ebenso gebraucht, als Adjektiv: des Herrn Wort ist wahrhaftig (Luther), der Herr sei ein gewisser und wahrhaftiger Zeuge (Luther), der Ausgang wird die Wahrhaftigen loben (Schiller), ihrer Worte jedes ist wahrhaftig (H. v.Kleist) (dazu Wahrhaftigkeit); als Adverb: wahrhaftig große Kenner (Lessing), wer ich wahrhaftig bin (Schiller), daß ich den eigentlichen Lebenspunkt des Dargestellten wahrhaftig [›der Wahrheit gemäß, richtig‹] angegeben habe (Goethe); jetzt nur in einem von wahrhaft verschiedenen Sinne als Bekräftigung einer Aussage wie "wahrlich", "fürwahr", in Wahrheit;
Wahrheit ahd. / mhd. warheit;
1 wie wahr(1) (s. oben) in substantivischer Form: ich war keineswegs von der wahrheit seiner behauptung überzeugt(Goethe; L059 DWb); als Rechtswort (spätmhd.; L059 DWb) bedeutsam: die wahrheit suchen/ finden, die (reine) wahrheit sagen (frühnhd.; ebenda);
⊚⊚ ein Kern von Wahrheit (Rückert), ein Fünkchen Wahrheit(Goethe); sprichwörtlich die Wahrheit liegt in der Mitte(Lavater); die Wahrheit kommt an den Tag (Luther; alle L059 DWb); abgeblaßt, verstärkend: in Wahrheitaufrichtig gesprochen‹ (1711; älter in der Wahrheit; L059 DWb); oft mit intensivierenden Adjektiven: die reine, bloße, lautere, nackte Wahrheit; auch mit spezifizierenden Adjektiven: historische (Wieland; L059 DWb), subjektive (Nicolai; ebenda), innere Wahrheit (zuerst bei den ⇓ "S142" Mystikern; ebenda);
2 übertragen: jmdm. die Wahrheit sagenjmdm. Vorhaltungen machen‹ (schon mhd. ; L059 DWb); die Vernunft transzendierend Gottes Wahrheit (Römer 1,25); veraltet ›Aufrichtigkeit‹, auch ›Wahrhaftigkeit‹: um mir vertrauen zu der wahrheit deiner neigung einzuflöszen (H. v.Kleist; L059 DWb);
wahrlich ahd. warlihho, mhd. wærliche, ursprünglich allgemein Adverb zu wahr(s. oben), so wahrlich ich der Unruh, die dich quält, unschuldig bin, erhöre meine Bitte (Tieck). In der neueren Sprache nur als Bekräftigung einer Aussage mit ⇓ "S036" bibelsprachlichem Anklang, wahrlich ich sage euch, teils in einen Satz eingefügt, teils selbständig außerhalb des Satzgefüges stehend: ich weiß es wahrlich nicht wahrlich, ich weiß es nicht; umgangssprachlich dafür wahrhaftig oder "wirklich";
wahrsagen eigentlich Zusammenrückung des substantivierten Neutrums Wahr mit "sagen";
1die Wahrheit sagen‹; hier wird wahrals Adverb angesehen, daher noch da sagst du wahr (Lessing), ihr sagt immer wahr (Wieland). Dann (und heute nur noch)
2prophezeien, die Zukunft verkünden‹ (14. Jahrhundert; L059 DWb). Im Unterschied zu ↑ "weissagen" eher auf Aberglauben (Zauberei) bzw. Menschenkenntnis oder auch trickreichem Schwindel beruhende Voraussagen bezogen: eine wahrsagende Zigeunerin, die gegen gebühr gut glück… prophezeihte (Musäus; L059 DWb);
Wahrsager selten im eigentlichen Sinn ›jmd. , der die Wahrheit sagt‹ (frühnhd. und noch Anfang des 18. Jahrhunderts; L059 DWb); gewöhnlich ›Mann, der die Zukunft voraussagt‹ (15. Jahrhundert; L059 DWb);
Wahrsagerin"S140" nur zu wahrsagen(2) (s. oben) belegt (frühnhd.; L059 DWb);
wahrscheinlich um 1680 (Zesen, Thomasius, Bödiker; vgl. L059 DWb) als ⇓ "S124" Lehnübersetzung von niederländ. waarschijnlijk und lat. verisimilis (älter wahrähnlich). Das Adverb früher auch ›mit dem Anschein der Wahrheit‹: wahrscheinlich zu behaupten (Rabener), jetzt nur Modalwort ›Sprecher mißt dem Inhalt seiner Aussage einen hohen Grad an Gewißheit zu‹, ⇑ "wohl", "vermutlich". Dazu Wahrscheinlichkeit, Wahrscheinlichkeitsrechnung.
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