Hermann Paul - Deutsches Wörterbuch
Wahn
ahd. / mhd. wan, gemeingermanisch (got. wens, altnord. van ›Erwartung‹), wurzelverwandt mit "gewinnen", "gewöhnen", "wohnen", "Wonne", "Wunsch";1 anfangs ›Vermutung, die der Gewißheit entbehrt, aber nicht irrig zu sein braucht‹, so noch in "Argwohn" (↑ "arg"), Gegensatz Wissen (↑ "wissen"); so sind auch in falscher, irriger Wahn die Adjektive ursprünglich nicht pleonastisch. Jetzt veraltet in, nach meinem Wahnmeiner Meinung nach‹ noch bei Gotter (L059 DWb);
2"S029" seit mittelhochdeutscher Zeit durchschimmernde, im 18. Jahrhundert sich durchsetzende Bedeutung (vgl. L059 DWb) ›falsche, unbegründete Meinung‹: dise ungegründete meinung von der gewisheit unserer erkäntnis wird ein wahn genennet (Ch.Wolff; ebenda), Gegensatz "Wahrheit";
3 unter Einfluß von Wahnsinn (das auf nicht verwandtes Wahn-zurückgeht, s. unten) ›krankhafte Vorstellung‹, Wahnvorstellungen, "Größenwahn", "Verfolgungswahn" (Gegensatz "Wirklichkeit"): wahn und wahnsinn sind überhaupt nicht so weit von einander, als man glaubt. so lange der wahn sich in einem winkel der seele aufhält, und nur wenige ideen angreift, behält er diesen namen; verbreitet er seine herrschaft weiter und macht sich durch lebhaftere handlungen sichtbar, so nennt man ihn wahnsinn (Herder; L059 DWb). ⇓ "S230" Vom Sprachgefühl an Wahn- in Wahnsinn, Wahnwitz, wahnschaffen (s. unten) angelehnt. Diesem Wahn-liegt ein im selbständigen Gebrauch untergegangenes Adjektiv (gemeingermanisch, got. wans ›mangelnd‹, engl. wan- in Zusammensetzungen, dazu wane want, urverwandt lat. vanus ›leer‹), mhd. wanmangelhaft, leer‹ zugrunde. Im Niederdeutschen erscheint eine Menge von Zusammensetzungen mit diesem wan, die z. T. auch von hochdeutschen Schriftstellern gebraucht wurden, z. B. wahnbürtigvon mangelhafter, d. h. unehelicher Geburt‹, Wahnkanteunvollkommene, nicht geradlinige Kante‹, Wahnmaßfalsches Maß‹.
wahnschaffenmangelhaft beschaffen, mißgestaltet‹ (1482; L345 Friedrich Karl Ludwig Weigand/ L345 Herman Hirt), nach ⇓ "S150" niederdt. wanschapen Ende des 18. Jahrhunderts schriftsprachlich; jetzt noch landschaftlich (↑ "schaffen");
Wahnwitz (L037 Petrus Dasypodius 1541, zunächst und bis 17. Jahrhundert Fem. ) eigentlich ›ohne Verstand‹ (↑ "Witz"), rückgebildet aus dem althochdeutschen Adjektiv wanawizzi, noch im 16. Jahrhundert wanwitzdes Verstandes beraubt‹, daher ›töricht, schwachsinnig‹, auch ›wahnsinnig‹;
wahnwitzigüberaus unvernünftig‹ (1433; L059 DWb), eine Erweiterung zu wanawizzi. Wahnwitz und wahnwitzig sind aus der Verwendung für eigentliche Geisteskrankheit durch Wahnsinn und wahnsinnig verdrängt und dienen jetzt in der Umgangssprache als starke Ausdrücke für (auch gefährliche) Torheit; wahnwitzig nachgebildet
wahnsinnig (15. Jahrhundert; L059 DWb), ursprünglich für alle Arten von Geisteskrankheit, dann auch übertragen von heftiger Erregung: es ist zum wahnsinnig werden, wahnsinnige freude (Jean Paul; L059 DWb); daraus »in der neueren umgangssprache« (Gutzkow; L059 DWb) ⇓ "S229" für einen überaus großen Grad von etwas (wie franz. délirant): ein wahnsinniges Tempo, ich habe wahnsinnig viel zu tun, auch ⇓ "S060" Entzückungswort wahnsinnig komisch, schön; ⇓ "S183" rückgebildet
Wahnsinn der Herr wird dich schlahen mit Wahnsin / Blindheit vnd Rasen des hertzen (A180 Martin Luther, 5.Mose 28,28). Wie das Adjektiv auch übertragen: es ist eine schlechte heldenthat, ein armes mädchen, das dich bis zum wahnsinn liebt, zu peinigen! (Wieland; L059 DWb); abgeblaßt ›Unvernunftheller Wahnsinn (1900; L059 DWb); heute auch (besonders ⇓ "S105" jugendsprachlich) ⇓ "S060" Entzückungswort: (echt) Wahnsinn!
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