Hermann Paul - Deutsches Wörterbuch
vor
ahd. fora, mhd. vor, verwandt mit ↑ "für". Die beiden Wörter sind urgermanisch (ahd. fora furi) und gehen auf indogermanische Grundlage zurück (vgl. {{link}}ver{{/link}}-). Ursprünglich hatten beide die gleiche lokale Bedeutung, nur mit dem Unterschied, daß für die Richtung bezeichnete und vor die Ruhelage, weshalb ersteres nur mit dem Akkusativ, letzteres nur mit dem Dativ verbunden wurde. Im Niederdeutschen und einem großen Teil des Mitteldeutschen fielen dann beide zusammen in der Form vor, wie noch jetzt landschaftlich norddeutsch. Die Folge davon war, daß vor auch in der Literatur sich anstelle von für eindrängte und umgekehrt (letzteres namentlich auch bei Luther). Sehr stark ist die Unsicherheit z. B. noch bei Schiller. Allmählich hat sich dann eine neue Unterscheidung herausgebildet: vor, nun auch mit dem Akkusativ verbunden, löste für in der Verwendung für die ursprünglichen und die sich daran zunächst anschließenden Bedeutungen ab, während für sich nur für weiter abgeleitete Funktionen behauptet hat. Im 18. Jahrhundert finden sich noch viele Schwankungen, und einzelne Anomalien sind bis auf den heutigen Tag geblieben. Der heutige Stand im Kern bei L004 Johann Christoph Adelung;1 Präposition:
1.1 Die lokale Verwendung von vor (⇓ "S115" Gegensatz "hinter")wird ursprünglich durch die Beschaffenheit des menschlichen Körpers bestimmt: er steht vor dir, fällt vor mir nieder, geht vor mir her (Dativ trotz der Bewegung, weil keine Veränderung in dem Verhältnis der Gegenstände zueinander eintritt), er stellt sich vor mich, er hat ein Brett vor dem Kopf(redensartlich ), etwas liegt mir vor den Füßen, vor Augen haben (auch übertragen), jmdm. vor die Augen, das Angesicht kommen, jmdn. vor den Kopf stoßen, sich vor die Brust, die Stirn schlagen, jmdm. etwas vor die Füße werfen. Nach der Stellung, die der menschliche Körper normalerweise bei der Bewegung hat, wird an anderen Gegenständen, die sich in Bewegung befinden oder der Fortbewegung dienen, die Vorderseite bestimmt, daher z. B. die Pferde vor den Wagen spannen. Andererseits betrachtet man diejenige Seite eines Gegenstandes als die Vorderseite, der man seine eigene Vorderseite zukehrt, oder die einem zunächst liegt, wir kehrten vor dem Walde um, wir blieben vor dem Graben stehen. Da man seine Stellung zu einem Gegenstand wechseln kann, so können die verschiedensten Punkte in dessen Umgebung als vor ihm liegend gedacht werden, und so begreift es sich, daß vor in bezug auf Räumlichkeiten, in die man sich hineinbegeben kann, Gegensatz zu 1"in" geworden ist, vor dem Hause (das Haus), vor der (die) Stadt; dementsprechend hat sich auch der gewöhnliche Sinn von vor der (die) Tür, vor dem (das) Tor gestaltet; vgl. dazu den Gebrauch von "hervor". Übertragen gebraucht wird vor der Hand, jetzt mit zeitlichem Sinn und zusammengeschrieben "vorderhand" ›einstweilen‹, aber doch auf einer räumlichen Grundanschauung beruhend; vgl. auch "vorhanden". Räumliche Anschauung, wenn man dabei auch an etwas Zeitliches denken kann, liegt auch zugrunde den Wendungen vor einer Entscheidung, einer Alternative stehen; das ergibt sich aus dem Gegenstück vor eine Entscheidung usw. stellen. Die Raumvorstellung ist verblaßt in vor jmdm. fliehen, da es auch gebraucht wird, wenn gar keine Verfolgung stattfindet, und man sagt danach auch vor jmdm. davonlaufen. Wenn ein Gegenstand sich vor einem anderen befindet, so hindert er eventuell einen dritten an dem Zugang zu diesem oder umgekehrt, jmdm. vor dem Lichte stehen; danach dann übertragen einem einzigen Kind mag man doch auch nicht vor seinem Glück sein(Schiller) u.dgl. Der spezifische Sinn von vor tritt weniger scharf hervor bei Bewahrung des lokalen Charakters in Fällen wie vor jmdm. erscheinen, spielen, reden, aufstehen, den Hut abnehmen; vor deutet hier überhaupt auf Anwesenheit. Daran schließen sich dann mit weiterer Verblassung des ursprünglichen Sinnes Wendungen an wie sich vor jmdm. demütigen, entschuldigen, vor jmdm. bestehen, vor Gott und der Welt strafbar. Durch die Verbindung von vormit dem Akkusativ eines reflexiven Pronomens kann ausgedrückt werden, daß von dem bisher eingenommenen Standpunkt aus eine Bewegung nach vorwärts stattfindet, gehe ich nun stracks vor mich(Gegensatz gehe ich zurück) (Luther). Jetzt ist in dem lokalen Sinne nur vor sich hin üblich, während vor sich gehen einen Vorgang bezeichnet: der Kampf, die Trauung geht vor sich. Reste der Verwendung von für sind z. B. wie der berühmte Name eines Richardson für ein Buch komme (Lessing), daß ich gleich für die rechte Schmiede ginge (später geändert in vor; Goethe), für welchen Richterstuhl das Geheimnis gehöre (Goethe), ich ging im Walde so für mich hin (Goethe);
1.2 wenn sich eine Person oder Sache vor einer andern Person oder Sache befindet, ist sie leicht deren Absichten preisgegeben. Von dieser Anschauung aus sind Verbindungen entstanden wie jmdn. / etwas vor jmdm. / etwas schützen, bewahren, verwahren, beschirmen, verbergen, verstecken, verhehlen, sich vor etwas vorsehen, sich vor jmdm. / etwas. hüten, vor etwas sich die Ohren verstopfen, das Herz verschließen; substantivisch: Schutz, Ruhe, Frieden vor; adjektivisch: sicher, geheim vor Vgl. hierzu "für"(2);
1.3 von dem Sinn ›in Gegenwart von‹ ausgegangen ist der Gebrauch von vorneben Wörtern, die eine Gemütsbewegung ausdrücken wie sich schämen, sich scheuen, erschrecken, sich entsetzen, sich fürchten, zittern, sich ekeln, es graut einem, bange, Scham, Scheu, Furcht, Angst, Ekel, Abscheu, auch Achtung, Ehrfurcht, Respekt vor. Vgl. hierzu "für"(1.2) und (1.3);
1.4 die Gegenwart eines Gegenstandes kann die Veranlassung sein, daß eine Wirkung von ihm ausgeht, und so erklärt es sich, daß vor in ausgedehntem Maße zur Anknüpfung einer Veranlassung gebraucht wird, vor Hunger, Durst, Frost, Hitze umkommen, vor Zorn/ Wut beben, mit den Zähnen knirschen, außer sich sein, sich nicht fassen können, vor Freude weinen, vor Neid erblassen, sich vor Lachen nicht halten können, vor Mattigkeit nicht weiter können, er sieht den Wald vor Bäumen nicht. In dieser Funktion erscheint noch im 18. Jahrhundert häufig für statt vor, ein abgeleiteter Gebrauch, wie die Verbindung mit dem Dativ zeigt: da lief das Kind nach Hause und konnte für Freuden nichts reden und fiel seiner Mutter um den Hals und weinte für Freuden (Goethe), und weinen für Schmerzen und Freude (Schiller), Bäume, die sich für der Last der Früchte zur Erde beugen (Goethe), für Prügeln sterben (Goethe), die Steuerleute wissen sich für großer Furcht nicht Rat (Schiller). Der Dativ wird auch anzunehmen sein, wenn der Kasus nicht erkennbar ist, ich sterbe für Wut (Goethe), ich wäre für Sehnsucht vergangen (Goethe, Briefe);
1.5 auf Wert und Rang übertragen ist vor mit Dativ üblich: er hat nichts vor ihm voraus, er hat den Vorzug, Vorrang, Vorteil vor ihm; häufig besonders vor allen andern, vor allen Dingen, vor allem; auch welche von beiden, die Tragödie oder die Komödie, vor der anderen den Rang verdiene(Schiller). Der (entsprechende) Gebrauch mit dem Akkusativ ist untergegangen, während im Mittelhochdeutschen für in diesem Sinn sehr üblich war, noch solches geht vor alle Fröhlichkeit (Luther). Jetzt gebraucht man dafür "über", wodurch auch vor mit dem Dativ eingeschränkt wird;
1.6 die schon uralte Übertragung auf die Zeit, wobei vorGegensatz zu "nach" geworden ist, ist von solchen Fällen ausgegangen, in denen es sich um Vergleichung zweier Gegenstände handelt, die sich von dem gleichen Ausgangspunkt nach dem gleichen Ziel bewegen, er kam vor mir an (die angegebene Bedingung vorausgesetzt). Gewöhnlich zusammengeschrieben vordem, wie ehedem usw. Immer vom Standpunkt der Gegenwart (Sprechzeit) aus gebraucht wird vor drei Tagen, Wochenusw., dagegen in der Erzählung drei Tage vorher. Zuweilen erscheinen genitivische Zeitbestimmungen nach vor: vor Morgens, Abends, Nachts, Winters (Goethe), allgemein vor altersfrüher, ehedem‹ (1662; L059 DWb);
2 mit Verben geht vor unfeste Zusammensetzungen ein, wobei es teils auf mhd. vor, teils auf für zurückzuführen ist,
2.1 vor liegt zugrunde mit lokalem Sinn in vorliegen, "vorsitzen", "vorstehen"(1), vorschweben, "vorhaben", vorfinden, "vorgehen"(1), vorlaufen, "vortragen"(1), vorleuchten, "vorsagen", "vorsprechen"(1), vorbeten, vorjammern, vorlesen, vorlügen, vorrechnen, vorschwindeln, vorsingen, vorspielen, vorweinen, vorwinseln, vorzählen, vorschreiben, vorzeichnen, vorschneiden, vormachen, "vorenthalten"; auf Vorrang bzgl. in vorherrschen, "vorwalten"; mit zeitlichem Sinn in vorbereiten, "vorrichten", "vorbilden", vorgreifen, vormerken, "vorbehalten", "vorgeben"(1);
2.2 für liegt zugrunde mit dem Sinn ›vor einen (oder vor sich) hin‹ in vorfahren, "vorfallen", "vorkommen"(1.2), "vorsprechen"(2), "vorbinden", vorführen, "vorgeben"(2), "vorhalten", vorhängen, vorladen, vorlassen, vorlegen, "vornehmen", "vorrücken"(2), "vorschieben"(2), "vorschlagen", "vorsetzen"(2), vorspannen, "vorspiegeln", vorstecken, vortun (eine Schürze), "vortragen"(2), "vorwerfen"; mit dem Nebensinn, daß der vor einen anderen gebrachte Gegenstand zur Abwehr dienen soll, in "vorkehren", "vorschützen", vorwenden; mit dem Sinn, daß der Gegenstand, der durch das eigentlich von vor abhängige Wort bezeichnet wird, abgewehrt werden soll, in "vorbauen", "vorbeugen", "vorkommen"(4); mit dem Sinn ›vorwärts‹ in vordringen, vordrängen, vorrücken(1), "vorschieben"(1), "vorsetzen"(1), vorstoßen; mit dem Sinn ›hervor‹ in vorbringen, "vorgeben"(3), "vorspringen"(2), "vorstehen"(3), "vorzeigen", gelegentlich auch in anderen; auf Vorrang bezogen in "vorziehen", vorwiegen.Mit dem jetzigen Sinn von für sind keine verbalen Zusammensetzungen üblich, doch vgl. "vorsprechen"(3);
3 in selbständigerer Stellung finden sich adverbiales vor und für nur noch in Resten,
3.1 in lokalem Sinn, speziell auf die Anordnung in einem Schriftstück bezogen, hat sich vor lange in der Kanzleisprache erhalten neben Partizipien, mit denen es dann zusammengeschrieben zu werden pflegt, vorstehend, vorbesagt, vorgenannt. Südwestdeutsch ist mir ist vormir kommt es vor, es ist mir, als ob‹, mir war vor, ich fühle mein Gehirn in seiner Höhle kochen (F.Th.Vischer; so öfters bei ihm). Früher wurde vor sein analog wie "vorhaben" gebraucht, also ›bevorstehen‹, häufig in Goethes Briefen, z. B. als wieder eine Reise nach Braunschweig vor ist, vgl. dazu "vorstehen"(2);
3.2 im 18. Jahrhundert erscheint in zeitlichem Sinne noch öfters einfaches vorstatt des jetzt üblichen "zuvor" oder "vorher", doch endlich siegte der vor noch ungesicherte Frühling (E. v.Kleist), der Adler, der vor in die Sonne sah (Lessing), bessern Ausgang als vor der Anschein war(Wieland), die Nürnberger henken keinen, sie hätten ihn denn vor (Schiller), vor war nun alles Kinderspiel, und jetzt usw. (Goethe), mit dem vor angeführten Mann(Goethe, Briefe). Erhalten hat sich nach wie vor (Gottsched, L059 DWb) und vor wie nach (bei Goethe auch vor oder nach). Den oben angeführten kanzleimäßigen Zusammenschreibungen entsprechend vorgefaßte Meinung; auch das sprichwörtliche vorgetan und nachbedacht. Sonstigen Analogien entsprechend (siehe "her"[1]) ist ↑ "hervor", älter herfür (noch bei Mörike herfür mir) an die Stelle von einfachem für getreten;
4 nominale Zusammensetzungen geht vor zunächst mit Vorgangsbezeichnungen ein, im Anschluß an die betreffenden verbalen Zusammensetzungen, "Vorbehalt", "Vorfall", "Vorgabe", "Vorgang", "Vorhang", Vorlage, Vornahme, "Vorsatz", "Vorschlag", "Vorschrift", "Vorschub", "Vorschuß", "Vorspann", "Vorstand", "Vorstoß", "Vortritt", "Vorwand", "Vorwurf"; auch "Vorschein" wird hierher zu ziehen sein. Dabei liegt wieder teils vor, teils für zugrunde. Außerdem aber werden eine Menge andere ohne verbalen Anschluß gebildet, für die altes vordie Grundlage ist; mit lokaler Bedeutung von vor: "Vorgebirge", Vorgemach, Vorhalle, Vorhaus, "Vorhaut", Vorhemd, Vorhimmel, Vorhof, Vorhölle, "Vorhut", "Vorland", "Vorplatz", "Vorposten", "Vorsaal", Vorschuh, Vorstadt, Vortrab, Vorzimmer, "Vorrat" (isoliert wegen der abweichenden Bedeutung von vor); mit Bezug auf Rang: Vorliebe, Vorort, Vorrang, Vorrecht; mit zeitlichem Sinn: Vorabend, "Vorahnung", Vorarbeit, Vorbedacht, Vorbedeutung, Vorbericht, "Vorbildung", Vorbote, Voreltern, Voressen, "Vorfahr", Vorfrage, "Vorfreude", Vorgefühl, Vorgeschmack, Vorkauf, Vorkenntnis, "Vormärz", "Vormittag", Vorschule, "Vorspiel", "Vorwelt", Vorwissen, "Vorzeichen", "Vorzeit", mit besonderer Bedeutungsentwicklung der Zusammensetzungen: "Vorbild", "Vormund", "Vorname", Vorrede, "Vorsicht", "Vorteil", "Vorurteil", "Vorwort". Von adjektivischen Zusammensetzungen schließen sich voreilig, "vorläufig" an Verben an, dagegen nicht "vorlaut", vorschnell, der vorletzte; "vorzeitig" gehört zu vor der Zeit, entsprechend die neueren vormärzlich, "vorsintflutlich". An für in der jetzigen abgeleiteten Verwendung schließen sich wenige Zusammensetzungen: "Fürbitte", "Fürsprache", Fürsprech, "Fürwort".Auch in diesen findet sich früher daneben Vor-. Aus vor abgeleitet ist "vorig".Verwandt sind {{link}}vorder{{/link}}-, "vorn", "fort", "fordern", "fördern", "fürder", "Fürst", {{link}}ver{{/link}}-, weiterhin auch "fremd", "fromm", "früh".
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