Hermann Paul - Deutsches Wörterbuch
voll
ahd. fol, mhd. vol, altgermanisch (engl. full, got. fulls), auf indogermanischer Grundlage (litauisch pílnas), wurzelverwandt mit ↑ "viel"; dazu ⇑ "füllen", "Fülle";1gefüllt‹, ⇓ "S012" Gegensatz "leer": volles Faß, voller Schrank, volles Hausviel Besuch‹, auf das Theater bezogen ›ausverkauft‹: Was macht ein volles Haus Euch froh?(A075 Johann Wolfgang von Goethe, Faust I,122); mit vollen Backen, Händen; von einem Menschen ›satt‹, ›betrunken‹; auch auf die Bedeckung von Flächen bezogen: Papier vollschreiben, sein Gesicht ist voll von Narben; unpersönlich es war sehr voll im Theater, Konzert usw.; übertragen der Kopf ist ihr vollsie ist mit etwas sehr beschäftigt‹, ein volles Herz, substantivisch: aus dem vollen schöpfen, wirtschaften zur Bezeichnung von Überfluß; mit näherer Bestimmung ursprünglich im Genitiv: sie sind voll süßen Weines (Luther), die Erde ist voll der Güte des Herrn (Luther), der Herr hat mich voll Jammers gemacht (Luther), wes das Herz voll ist (Luther), des Liebesgottes voll und seiner süßen Wut (Wieland), des großen Planes voll (Schiller), zuweilen mit Dativ: voll ziemlich saurem Wein (Wieland), ein Kavalier voll Talenten und Kopf(Schiller), mit Akkusativ: voll Glanz und majestätischen Liebreiz (E. v.Kleist); in allgemeinem Gebrauch erscheint die Form des Nominativ/ Akkusativ Singular oder Plural ohne attributive Bestimmung ein Beutel voll Geld, eine Hand voll Leute, die Bestimmung durch von angeknüpft, übertragen: er ist noch ganz voll davonseine Seele ist noch ganz davon in Anspruch genommen‹, durch mit: Voll mit Rosen ist schon droben der leuchtende Schnee (A131 Friedrich Hölderlin, Heimkunft); als Prädikat und nachgesetztes Attribut auch die erstarrte Form voller, ursprünglich mit Genitiv: voller boshafter Schnurren (Lessing), zuweilen mit Dativ: voller tiefen Sorgen (Lessing); gewöhnlich mit der kasuslos gefaßten Form, mit welcher voller als Prädikat jetzt fast ausschließlich gebraucht wird: der Saal ist voller (nicht voll) Leute, dagegen voll von Leuten; bei Voranstellung des Attributs Konstruktion z. B. mit von: ein von Sorgen volles Herz, außerdem in Zusammensetzungen v. a. mit Vorgangs- und Zustandsbezeichnungen, auch prädikativ angewendet, Gegensatz "los": "ahnungsvoll", angstvoll, "anspruchsvoll", "bedeutungsvoll", blutvoll, charaktervoll, demutsvoll, dornenvoll, "drangvoll", ehrenvoll, ehrfurchtsvoll, einsichtsvoll, entsagungsvoll, erwartungsvoll, freudvoll, freudenvoll, gedankenvoll, "gefühlvoll", "gehaltvoll", "geheimnisvoll", "geistvoll", gemütvoll, geräuschvoll, glanzvoll, "gottvoll", "grauenvoll", "hochachtungsvoll", hoffnungsvoll, humorvoll, jammervoll, klangvoll, kraftvoll, kummervoll, kunstvoll, lebensvoll, leidvoll, lichtvoll, liebevoll, machtvoll, maßvoll, mühevoll, mutvoll, neidvoll, pietätvoll, planvoll, prachtvoll, prunkvoll, qualvoll, "reizvoll", respektvoll, reuevoll, ruhevoll, ruhmvoll, "salbungsvoll", schamvoll, schauervoll, schaudervoll, schmachvoll, schmerzvoll, schreckensvoll, schuldvoll, schwermutsvoll, seelenvoll, sehnsuchtsvoll, sorgenvoll, stimmungsvoll, talentvoll, tatenvoll, trostvoll, unglücksvoll, unmutsvoll, unruhvoll, "verhängnisvoll", vertrauensvoll, verzweiflungsvoll, vorwurfsvoll, wehmutsvoll, weihevoll, wertvoll, wonnevoll, "wundervoll"; als nachgesetztes Attribut bei Maßbestimmungen ein Teller voll Suppe, ein Löffel voll Arznei, daher die Verschmelzungen eine Handvoll, ein Mundvoll; prädikativ mit Verben verbunden, die im allgemeinen nicht mit prädikativem Adjektiv verbunden werden: vollgießen, vollschütten, vollstopfen, "vollpfropfen", vollschreiben, unverbunden voll hauen (den Buckel), weinen (das Taschentuch), nehmen (den Mund) übertragen ›angeben‹; reflexiv sich volltrinken, vollsaufen, vollfressen, vollsaugen. Zu der Verbindung gewisser Verben mit volltritt eine andere Art von Subjekt, als sie sonst neben diesen Verben steht: das Faß läuft voll (wie leer), die Bank sitzt voller Menschen, der Boden liegt voll von Toten, die Wiese steht voll von Blumen, die Augen stehen ihm voll Tränen, er steckt voll von Geschichten;
2 im Anschluß an den gewöhnlichen Sinn von "Fülle" ›reichlich ausgebildet‹: voller Busen, Arm, Am meisten lieb' ich mir die vollen frischen Wangen (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Faust I,320), dazu vollwangig, vollbusig, an die sich auch vollblütig, vollsaftig anschließen, ebenso der um 1930 entstandene ⇓ "S064" Euphemismus vollschlank;
3"S216"ganz, unvermindertder volle Mond (Vollmond), ein volles Pfund, eine volle Meile, die volle Summe, Zahl, eine volle Stunde, die Uhr schlägt voll, der volle Geschmack, Klang: zusammen tönt es unter dem Schlage / Des Wekenden und voll (A131 Friedrich Hölderlin, Der Mutter Erde), auf Abstrakta bezogen volle Kraft, Wahrheit, Gewißheit, voller Verstand usw.;
jmdn. nicht für voll nehmen (wohl eigentlich mit einem von Münzen hergenommenen Bild) umgangssprachlich ›nicht ernst nehmen, nicht anerkennen‹, bis Ende des 20. Jahrhunderts so als Adverb wenig gebräuchlich außer in voll und ganz (dafür völlig [s. unten], "vollständig", teilweise auch vollends [s. unten]), heute zunehmend ›uneingeschränkt‹, vor allem ⇓ "S105" jugendsprachlich voll geil, stark, voll die Härte; hierher Zusammensetzungen wie Vollblut (Ende des 18. Jahrhunderts Lehnübersetzung von engl. full-blood in der Pferdezucht), Vollbesitz, Vollgefühl, Vollgenuß, Vollkraft, "Vollmacht", Vollmilch (wohl um 1915), Volljurist, Vollkornbrot, Vollbauer, Vollspänner (vgl. Halbspänner), Vollbad, Vollbart, Vollmast (flaggen), volljährig, vollzählig, vollgültig, "vollständig"; ferner in festen Zusammensetzungen mit Verben, wie außer den alten Präpositionen nur noch miß-: ⇑ "vollbringen", "vollenden", "vollführen", "vollstrecken", "vollziehen"; außerdem das Partizip ↑ "vollkommen". Insgesamt zur Gegenwart hin als Bestimmungswort produktiv, Gegensatz "halb" bzw. "Teil", im Bereich von ⇓ "S220" Technik Vollautomat, Vollbremsung, vollelastisch, Vollgas, vollsynthetisch, institutionell Vollbeschäftigung, Vollinvalide, Vollversammlung, aufwertend mit z. T. positivem Grundwort: vollfruchtig, vollinhaltlich, vollwertig.
Völle ahd. folli, unorganische Bildung in etwas anderem Sinn als "Fülle" zu voll(3), in des Wirrwarrs Völle(A.W.Schlegel); besonders auf den Mond bezogen; nur noch gebräuchlich in Völlegefühl, ein Gefühl der Völle im Magen;
Völlerei (frühnhd. unumgelautet, daneben auch Füllerei); immer abwertend zur Bezeichnung von Unmäßigkeit: Trunkenheyt oder Vollerey (Luther), noch 1780 bei L003 Johann Christoph Adelung nur vom Trinken, aber 1811 bei L033 Joachim Heinrich Campe auch vom Essen (seit dem 17. Jahrhundert belegt);  
vollends (1600; L239 PBB(H) 97,244) mit sekundärem -s, früher vollend (Luther) mit sekundärem -d. Zugrunde liegt mhd. envollen zu volle schwaches Mask. ›Fülle, Vollständigkeit‹; auf Abschluß von etwas Angefangenem bezogen: ein Buch vollends zu Ende lesen; gewöhnlich zum Ausdruck einer Steigerung ähnlich wie "gar", wobei die Bedeutungsentwicklung die nämliche gewesen ist wie bei diesem: ich gebe ihm nicht nach, vollends wenn er mich zwingen will; mich geht's nichts an, und dich vollends gar nichts (L012 Otto Behaghel, Syntax 1,607);  
völlig ahd. follig, mhd. vollec; ›gänzlich, vollständig‹, jetzt am üblichsten als Adverb, als Adjektiv nur, soweit es bei Umsetzung des Ausdrucks adverbial werden kann: einem völlig Genugen thun (L305 Christoph Ernst Steinbach), völlige Gleichheit (L003 Johann Christoph Adelung 1780), Jemanden völlige Freyheit lassen(ebenda), Er ist ihm völlig gleich (ebenda), Darin bin ich völlig ihrer Meinung (ebenda), völlig gesund sein (L033 Joachim Heinrich Campe); frühneuhochdeutsch in ausgedehnterer Verwendung: bei Luther du sollst ein völlig und recht Gewicht und einen völligen und rechten Scheffel haben; daß ihr noch völliger werdet, noch bei Schiller jetzt ist es völligfehlt nichts mehr‹; vom 17. bis zum 19. Jahrhundert auch ›füllig‹.
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