Hermann Paul - Deutsches Wörterbuch
Volk
ahd. folc(h), mhd. volc, gemeingermanisch (engl. folk); ⇓ "S026""S175" anfangs1.1Kriegerschar‹, unter die kaiserlichen Völker zu gehen (Miller), die schott'schen Völker empören sich (Schiller), Brutus und Cassius werben Völker an(A.W.Schlegel); im ⇓ "S145" Nationalsozialismus wiederbelebt in der militaristischen Organisationsbezeichnung der Hitlerjugend Jungvolk, erhalten in Kriegsvolk, "Fußvolk", Schiffsvolk; althochdeutsch verallgemeinert
1.2Menschenmenge‹, ohne Plural, vnder das Volck geen (L037 Petrus Dasypodius), Da sandte der Herr fewrige Schlangen vnter das volck (A180 Martin Luther, 4.Mose 21,6), Da er aber vom Berge her ab gieng / folgete jm viel Volcks nach (A180 Martin Luther, Matthäus 8,1), im Diminutiv ein lustiges, munteres Völkchen (L033 Joachim Heinrich Campe); speziell auf dem Theater Gegensatz zu den Einzeldarstellern: Johanna. Volk Hernach ihre Schwestern (A222 Friedrich Schiller, Jungfrau 4,9); auf bestimmte Merkmale bezogen fahrendes Volk (mhd. varndez volc) veraltet ›Schausteller‹, junges Volk (frühnhd.) ›junge Leute‹, auch ›Kinder‹: das man jung volck recht auffziehe(Luther; L059 DWb); verächtlich weniger hart als "Pack": ein Volk der Schmeichler… Die Pest der großen und glücklichen Welt (Gellert; L003 Johann Christoph Adelung 1780), Laß dich doch mit solchem Volke nicht ein (L033 Joachim Heinrich Campe), im Diminutiv: Den Teufel spürt das Völkchen nie (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Faust I,2181); dazu Volksmasse, Volksmenge, Volksauflauf; althochdeutsch
2eine durch gemeinsame Kultur und Geschichte verbundene Menschengruppe, Nation‹, Plural Völker: Volck eines lands (L200 Josua Maaler), Ein Volck wird sich erheben vber das ander (A180 Martin Luther, Lukas 21,10), Das Römische Volk (L308 Kaspar Stieler), Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern (A222 Friedrich Schiller, Tell 2,2), Wer zählt die Völker, nennt die Namen? (A222 Friedrich Schiller, Die Kraniche des Ibycus), Freiheit!… In deren Halle sich der Völker / Kronen begrüßen (A131 Friedrich Hölderlin, Männerjubel); dazu Volkskunde (1806 Wunderhorn), Völkerwanderung (Anfang des 18. Jahrhunderts, ⇓ "S124" Lehnübersetzung von lat. migratio gentium), Völkerrecht (1645 Zesen; L345 Friedrich Karl Ludwig Weigand/ L345 Herman Hirt), Volkswirtschaft (um 1830, ⇓ "S124" Lehnübersetzung von engl. national economy); im Nationalsozialismus unter Einschluß von (2.4) und im Sinn eines rassistischen Arguments (vgl. L281 Cornelia Schmitz-Berning) tragender Begriff mit Legitimationsfunktion, in festen Verbindungen: Volk ohne Raum (1926 H.Grimm, Roman-Titel; H.-U.Wagner, Volk ohne Raum, in: Sprachwissenschaft 17, 1992,68–109) zur Rechtfertigung territorialer Ansprüche, die Parole ein Volk, ein Reich, ein Führer zur Suggerierung von Einigkeit und Unterwerfung unter den Führergrundsatz (⇑ "führen", "Führer") und in zahlreichen, z. T. wiederbelebten Zusammensetzungen: Volksempfänger, Volksempfinden (bei A121 Johann Gottfried Herder Volksempfindung,10,232), Volksgemeinschaft (Schleiermacher; L059 DWb), Volksgenosse (L033 Joachim Heinrich Campe), Volkskanzler, Volkskörper (Dahlmann; L059 DWb), Volksschädling, Volkswagen ↑ "Käfer";
2.1 speziell biblisch, bereits ahd. Gotes folch (Notker; L059 DWb), das auserwählte Volk (nach Psalm 105,43) ›Israel‹;
2.2 mit speziellen Kennzeichen, der Sprache: Völcker ungleicher sprach (L200 Josua Maaler), der Bildung in der festen Verbindung Volk der Dichter und Denkerdie Deutschen‹ (Musäus 1782, Vorbericht zu den Volksmärchen), G.Kalow (Hrsg.) Sind wir noch das Volk der Dichter und Denker? 1964;
2.3 zur Abgrenzung von den höheren Schichten das gemeyn Volck (L037 Petrus Dasypodius), Verführer des Volcks (L169 Matthias Kramer), fest in der Verbindung Kaviar fürs Volk (nach Hamlet 2,2); bis ins 18. Jahrhundert verächtlich das gemeine Volk, von den erbaren Leuten unterschieden(J. L.L078 Johann Leonhard Frisch); dazu "Volksschule" (s. unten), Volkshochschule (Ende des 19. Jahrhunderts, ⇓ "S124" Lehnübersetzung von dän. folkehøjskole); seit der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts
2.4 aufwertend auf das Ursprüngliche, Bodenständige bezogen, besonders durch A121 Johann Gottfried Herder: Ein Volk schildern, heißt… , die Sitten und Denkart desselben… durch sich selbst zeigen:… ausmerken, was… am tiefsten sitzt (1744;25,82), in der Abgrenzung: Volk heißt nicht der Pöbel auf den Gassen, der singt und dichtet niemals (1779;25,323), so im Titel der 2. Auflage seiner Volksliedsammlung Stimmen der Völker in Liedern, Romane für das Volk (L003 Johann Christoph Adelung 1780), es hätt'… / Nicht umsonst… / Für das Volk dein liebend Herz geschlagen (A131 Friedrich Hölderlin, Griechenland), in der festen Verbindung: die ersten verkünder des christentums waren männer aus dem volke(F.Schlegel; L059 DWb); ⇓ "S127" Volksdichter, Volksdichtung, Volksbuch, Volkslied (1771 ⇓ "S071" Herder, ⇓ "S124" Lehnübersetzung von engl. popular song), Volksmärchen, Volkssage;
2.5 auf das regierte Gemeinwesen bezogen: ein fromme oberkeit, so jhr volck beschirmt (Erasmus Alberus; L059 DWb); als Begriff der Demokratisierung besonders unter Einfluß der Französischen Revolution ›Gesamtheit aller Staatsbürger‹: wer richtet denn itzt? / Richtet das einige Volk? / die heilge Gemeinde?/ Nein! (A131 Friedrich Hölderlin, Zu Sokrates Zeiten; 2.1,318), Und jedes Volk sich für sich selbst regiert (A222 Friedrich Schiller, Tell 2,2), dazu redensartlich Jedes Volk hat die Regierung, die es verdient (zuerst französisch 1811; L027 Büchmann); Wohl des Volkes (Wortrenner der DDR 1987 im Zuge des politischen Tauwetters, ↑ "Wohl"), ⇓ "S231" im Sprechchor am 29.September 1989 in Leipzig zum Ausdruck politischen Selbstbewußtseins Wir sind das Volk (L282 Wolfgang Schneider, Demontagebuch 1990,169; neben ↑ "Wende" Wortrenner der DDR 1989), am 11.Dezember 1989 auf Transparenten Wir sind ein Volk! (ebenda 154); als Verfassungsbegriff: Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus (Reichsverfassung 1919, Artikel 1; Grundgesetz, Artikel 20); Volksversammlung (Herder), Volksvertreter (L033 Joachim Heinrich Campe), Volksherrschaft (Ende des 18. Jahrhunderts ›Demokratie‹); seine Produktivität als Bestimmungswort zu (2) besonders im 18. Jahrhundert spiegelt diese Bedeutungsgeschichte wider; seit dem Mittelhochdeutschen
3 auf bestimmte Tiere bezogen: ain groz volk pinen [›Bienen‹] (Konrad von Megenberg; L059 DWb), ein Volk Rebhühner (L308 Kaspar Stieler). O.Ehrismann, Volk. Göppingen 1993; zu Volk(2)
Völkerbund (um 1775 I.A153 Immanuel Kant, AA 15/ 2,783; L086 GG1,636) zunächst allgemein ›Zusammenschluß von (Staats)völkern zu politischen, wirtschaftlichen, militärischen Zwecken‹; nach dem 1. Weltkrieg speziell ›Zusammenschluß von (Staats)völkern zur Kriegsverhütung und Friedensbewahrung‹, deutscher Name der 1919 gegründeten internationalen Institution; Sache und Name schon früh von der »Konservativen Revolution« und dann dem Nationalsozialismus diskreditiert (»nichts anderes.. als eine.. erpreßte Billigung des augenblicklichen Machtzustandes der Welt«, M.H.Boehm, Kleines politisches Wörterbuch. 1919);
Völkermord (um 1850 Strachwitz; L059 DWb) zunächst allgemein ›Krieg‹, nach dem ↑ "Holocaust"(2) an den Juden im Nationalsozialismus speziell ›Genozid‹; 1948 in UN-Abkommen völkerrechtlich definiert, nach 1954 in Deutschland juristischer fachsprachlicher Terminus für strafbare Handlungen, die in der »Absicht, eine nationale, rassische, religiöse oder durch ihr Volkstum bestimmte Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören«, begangen werden (§220aStGB),
volkseigen (1833; Bartholmes, in: L360 ZDW18,184ff.); anfangs ›national‹, so im ⇓ "S145" Nationalsozialismus zur vermeintlichen Stärkung des deutschen Bewußtseins, tatsächlich zur Verhinderung der Völkerverständigung; dann auch »landeigen, staatseigen« (L265 Daniel Sanders Erg.), 1948–89/ 90 in der ⇓ "S045" DDR Wort der Wirtschaft: ⇓ "S134" Volkseigener Betrieb (abgekürzt VEB), dessen Eigentümer das Volk sein soll (vgl. L320 Trübner);
Volksetymologie (1852 E.Förstemann; Zeitschrift für vergleichende Sprachforschung) ⇓ "S208"Angleichung eines unverständlichen Wortes an ein verständliches‹, K.G.Andresen, Über deutsche Volksetymologie 1876;
Volksmund (L264 Daniel Sanders) zunächst konkret: Damit aus deutschem Volkes-Mund des Herren Wille werde kund (1847; L264 Daniel Sanders), in den festen Wendungen im Volksmund, wie der Volksmund sagt metonymisch ›redensartlich‹: das papier ist geduldig, sagt der volksmund (Pückler; L059 DWb);
Volksschule zunächst
1Schule für Kinder der unteren Schichten‹ (L033 Joachim Heinrich Campe), Vom Nationalcharakter durch Volksschulen (1779 F. E.v.Rochow); dann
2Elementarschule‹, die volksschulen werden… gering geschätzt (Nicolai; L059 DWb), wegen Assoziation mit (1) heute dafür Grund- und "Hauptschule" (vgl. L098 2GWb);
Volkstum (1810 F.L.Jahn, Das deutsche Volkstum) ›Wesen eines Volkes‹, so besonders zur Zeit des ⇓ "S145" Nationalsozialismus, daher seither gemieden;
volkstümlich (1810 F.L.Jahn);
1auf das Wesen eines Volkes bezogenVolkstümliche Dichtung; daneben auch
2populär‹: volkstümliche redensart (Holtei; L059 DWb);
völkisch (15. Jahrhundert) Lehnübersetzung für popularis
1 von J.G.Fichte 1811 als Erklärung für "deutsch" gebraucht: deutsch sein heißt schon der wortbedeutung nach völkisch (L059 DWb);
2 1875 von dem österreichischen Germanisten H. v.Pfister als Verdeutschung für "national" vorgeschlagen; mit antisemitischem Akzent schon vor 1920 gebraucht Man soll sich dessen bewusst sein, daß das Wort ›völkisch, auf reinen Sprachkampf angewendet, antisemitisch gemeint ist und antisemitisch verstanden wird. A.Moszkowski, Das Geheimnis der Sprache 1920, 262; ⇓ "S145" nationalsozialistisch verstärkt.
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