Hermann Paul - Deutsches Wörterbuch
viel
ahd. filu, mhd. vil, altgermanischer substantivierter Nominativ/ Akkusativ Singular Neutr. eines sonst untergegangenen indogermanischen Adjektivs (vgl. griech. polýs). So noch jetzt absolut: er gibt, redet viel. Dabei war immer so viel von adjektivischem Charakter bewahrt, daß es mit Partikeln, die einen Grad bezeichnen, verbunden werden konnte: sehr, so, wie, zu viel. Der Gegenstand, dessen Quantität durch viel bezeichnet wurde, trat zunächst immer in den Genitiv: vil goldes (des roten goldes), vil (junger) liute (Stoff- und Zustandsbezeichnungen im Singular, zählbare Dinge im Plural). Dieser Gebrauch gilt auch noch bei Luther: viel Volks, viel Viehes, viel Grämens (neben dem Genitiv Plural in den neueren Ausgaben viele). Reste bis in die neuere Zeit: viel Glücks (Lessing), viel Geschreies und Geredes(Pestalozzi), viel Jahrhunderte (Klopstock); am längsten hat sich die Konstruktion erhalten in Wendungen wie viel Wesens, Redens, Aufhebens von etwas machen, über das so viel Redens und Schreibens ist (Goethe). Nicht sehr gewöhnlich Genitiv Singular mit Artikel: es ist noch viel des alten Sauerteigs übrig(Pestalozzi), der Freuden viel (Goethe), der Strümpfe viel (Uhland). Der Genitiv wurde auch in weniger enger Verbindung mit viel(wobei dieses formal Subjekt ist) gebraucht, daß seines Guts viel werde (Luther); und ob deiner Missetat viel ist; wenn sie umkommen, wird der Gerechten viel; wie ist(neuere Ausgaben sind) meiner Feinde so viel? noch jetzt allgemein des Guten zu viel tun, vermögen wir des Bösen nie so viel zu tun (Lessing); auch in es ist zu viel war esursprünglich Genitiv. Einen Anstoß zur Verschiebung des Verhältnisses gab zuerst (schon mhd. ) das Bedürfnis nach einem Ersatz für den mangelnden Genitiv und Dativ. Man half sich so, daß die von vilabhängige Genitivform das für die Verbindung mit vilerforderte Genitivverhältnis mitvertreten mußte (daz ist vil koufliute sitevieler Kaufleute Sitte‹), während, wo das Dativverhältnis erfordert wurde, dieser Genitiv durch den Dativ ersetzt wurde (zuo vil liuten). Auf diese Weise wurde das Verhältnis von vil zu seinem Substantiv in ein attributives verwandelt, vil wurde in diesen Fällen zu einem unflektierten Adjektiv. Daß diese Umwandlung allmählich allgemein wurde, dazu trug noch der Umstand bei, daß in vielen Fällen der Genitiv sich formell nicht von dem Nominativ und Akkusativ unterschied und leicht zu einem solchen umgedeutet werden konnte (viel Weisheit, viel Leute). Endlich ging man dann auch dazu über, vielwie ein anderes Adjektiv zu flektieren. Bis ins 20. Jahrhundert ist die Regel, daß es im Nominativ/ Akkusativ Singular flexionslos bleibt, während sonst flektiert wird: viel Geldvieles Geldes, mit vielem Gelde, mit vieler Frische (Th.Mann), viele Leute. Noch im 18. Jahrhundert hat die Verwendung der flexionslosen Form größere Ausdehnung, nur muß dabei der Kasus sonst irgendwie kenntlich gemacht sein, was auch bei Abhängigkeit von einer Präposition der Fall ist: mit wenig Witz und viel Behagen(Goethe), aus viel Ursachen (Goethe), so viel fehlgeschlagenen Versuchen(Goethe), an so viel blühenden Stellen (Herder). Andererseits kommen auch Nominativ und Akkusativ Singular flektiert vor (vielen Dank, viele Mühe, vieles Lesen, doch kaum vieler Dank), wobei auf den Adjektivformen immer ein Nachdruck liegt, während viel gewöhnlich enklitisch ist; im Prädikat wird die Flexion gemieden: das ist viel Geld. Flektiertes vielkann auch nach Artikel und Pronomen stehen, dann gleichfalls immer mit Nachdruck: das (dieses) viele Geld, mein vieles Geld. Endlich können von den flektierten Formen die pluralischen auch substantivisch gebraucht werden, desgleichen der Singular Neutr. , mit dem Unterschied zwischen vieles und viel, wobei dieses auf Masse und Grad geht, jenes auf Zahl (›vielerlei‹), ich meine nicht vieles, sondern viel, ein weniges aber mit Fleiß (Lessing), wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen (Goethe). Für den Dativ kann ein solcher Unterschied nicht gemacht werden. Auch heißt es allgemein um vieles, dagegen um soviel, um wieviel. Im 18. Jahrhundert auch ein vieles, namentlich um ein vieles. Der adverbiale Gebrauch von viel geht von dem substantivischen aus. Im Mittelhochdeutschen war vil die gewöhnliche Verstärkung neben Adjektiven und Adverbien statt des jetzigen "sehr", durch das es schon bei Luther verdrängt ist. Archaisierend zuweilen noch bei Schriftstellern des 18./ 19. Jahrhunderts, viel schlimm ist meine Botschaft (Musäus), du viel schlimmer (Uhland). Isolierte Reste: "vielleicht", "Vielliebchen" (s. unten). Allgemein geblieben neben dem Komparativ und neben zu (viel lieber, viel zu lieb), auch in den Verbindungen sehr viel "anders" und nicht viel anders. Anders verhält es sich mit viel neben Verben. Dieses ist nicht gleichbedeutend mit sehr. Es hat sich aus einem Akkusativ des Inhalts entwickelt ›in vieler Hinsicht, vielfach‹, auch ›viele Zeit‹, viel arbeiten, lachen, plagen, auswärts sein. Nicht selten früher formelhafte Verbindung oft und viel (häufig noch bei Pestalozzi); auch ironisch verwendet: ich frage viel [›nichts‹] danach, ich kümmere mich viel darum »wahrlich nicht« (L004 Johann Christoph Adelung). Mit dem Partizip Präsens wird es gewöhnlich zusammengeschrieben, wobei viel in der Regel Objekt ist: vielsagend, vielversprechend. Als Komparativ und Superlativ dienen "mehr", "meist" (s.diese). Nach dem Muster der Ordinalzahlen wird der wievielte oder wievielste gebildet; ↑ "wieviel". Mit den eigentlichen Zahlwörtern steht vielauch sonst oft auf gleicher Stufe, vielfach, vielfältig, Vieleck (s. unten), vielmals, vielerlei, vieljährig. Eigentümlich sind die Bildungen Vielgötterei (18. Jahrhundert), Vielweiberei (L308 Kaspar Stieler 1691), die direkt aus viele Götter/ Weiberabgeleitet sind als Lehnbildungen nach Polytheismus und Polygamie, hinter denen die Neubildungen zur Gegenwart hin zurücktreten.Vieleck (1565; L164 Friedrich Kluge) Lehnübersetzung von Polygon oder Rückbildung aus der Lehnübersetzung
vieleckig (1519; ebenda) für griech.-lat. polygonus;
vielfach (15. Jahrhundert; L059 DWb), zum Suffix -{{link}}fach{{/link}} ↑ "Fach";
1.1 »viele male genommen« (ebenda), in der Reihe "einfach", zweifach usw. am Ende stehend, auf Personen: meinen alten freund und vielfachen wohltäter (Goethe; ebenda) und sonstiges bezogen ein vielfaches lebewohl (Goethe; ebenda), unter vielfachen küssen (H. v.Kleist; ebenda), früher auch in der vielfachen zahlim Plural‹ (noch bei L004 Johann Christoph Adelung); als Adverb im 18. Jahrhundert den Schaden vielfach ersetzen (L004 Johann Christoph Adelung); im freieren Gebrauch
1.2vielfältigvielfache wunder seh' ich (Goethe; L059 DWb), von diesem (wie anderen) auch gesteigert: die vielfachsten kügelchen(ebenda), auch prädikativ: unendlich vielfach sind die gedanken(Freytag; ebenda);  
vielfältig (15. Jahrhundert; L059 DWb); zunächst
1.1vielfachauf vielfältiges Bitten (L004 Johann Christoph Adelung), so auch als Adverb darinn [im Schloß] sie vielfältig geruhet(Birken; L059 DWb), dafür heute eher vielfach, attributiv so noch heute, doch
1.2verschiedenartige Form‹ ist eigentlich immer latent: die öde stille des groszen hauses gab in vielfältigem echo das gepolter der thüren zurück (Hauff; L059 DWb);
Vielfalt (1793; L164 Friedrich Kluge), ⇓ "S183" Rückbildung zu dem Adjektiv, zunächst Gegensatz zu "Einfalt", erst im 20. Jahrhundert semantisch »entfaltet«: die phantastische Vielfalt des Lebens (S.Zweig; L337 WdG), die Vielfalt der deutschen Standardsprache;
Vielfraß für eine skandinavische Marderart wohl im 15. Jahrhundert als ⇓ "S230" volksetymologische Umdeutung von ⇓ "S162" norweg. fjellfross ›Bergkater‹ durch hansische Kaufleute, im Anschluß an älteres vil(i)fraz (ahd. / mhd. ), vgl. L059 DWb. Durch Rückwirkung des deutschen Wortes wird dann wiederum das norwegische Wort zu fjeldfras umgeformt. Übertragen eher umgangssprachlich ›jmd. , der übermäßig viel ißt‹ (1565; L059 DWb): Du mußt mich für einen Vielfraß halten(Weiskopf; L337 WdG);
vielleicht mhd. vil lihte < mhd. vilsehr‹ und lihteleicht‹, frühneuhochdeutsch bereits fest vieleicht, villeicht (L327 Voc.Teut.-Lat. 1482), villicht (L200 Josua Maaler 1561), mundartlich auch mit auslautendem -e(z. B. Opitz, G.Hauptmann; L059 DWb);
1 Adverb, »Es mag sein« (L200 Josua Maaler 1561), ›möglicherweise‹ (schon mhd. ; L190 Lexer), Zusammenhang mit "leicht" im Frühneuhochdeutschen noch stärker empfunden (bereits einfaches mhd. lihte zur Bezeichnung der Möglichkeit gebräuchlich, so auch heute noch leicht in einigen Mundarten), bezeichnet »daher mehr die sichere erwartung, vermuthung oder befürchtung, als die blosze möglichkeit« (L059 DWb): Jch wil meinen lieben Son senden / vieleicht / wenn sie den sehen / werden sie sich schewen (A180 Martin Luther, Lukas 20,13); Eure Majestät, vielleicht ist es so, vielleicht ist es aber auch nicht so (A030 Georg Büchner, Leonce und Lena 1,109); Öffne dir ein Hinterpförtchen / Durch »vielleicht«, das nette Wörtchen (W.A033 Wilhelm Busch, ›Vielleicht‹); auch alleinstehend, als Antwort auf eine Frage: Lisette. Sie wollen sich also doch rächen? Theophan. Vielleicht (A177 Gotthold Ephraim Lessing, Freigeist 4,8); »… Oder ist es meinerseits bloß Eitelkeit und Einbildung?« »Vielleicht. Vielleicht auch nicht… «(Fontane, L'Adultera; 2,116); mit Bezug auf eine eingeschobene Ergänzung, Spezifikation oder Modifikation: Sie gab mir Schimmer, und giebt mir, vielleicht schon morgen, erfreuendes Licht (A121 Johann Gottfried Herder 23,9); auch beim adjektivischen Attribut: ein hübsches, ovales, vielleicht etwas zu süßes Gesicht(A083 Günter Grass, Blechtrommel 40); in elliptischer Verwendung, ergänzt durch einen daß-Satz: Adam. Vielleicht, daß wir nachher Gelegenheit – Walter. Auch gut (H.v.A160 Heinrich von Kleist, Zerbrochener Krug, 11.Auftritt); substantivisch: welch eine bosheit kann doch in einem unschuldigen ›vielleicht‹ stecken (Hebbel; L059 DWb); in höflichen, als Bitten und Aufforderungen gemeinten Entscheidungsfragen: Haben Ew. wohlgeb. vielleicht in diesen Tagen Zeit an den Divan zu denken (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Brief vom 4.1.18); Kannst du mir vielleicht sagen, wieviel Uhr es ist? (A273 Frank Wedekind, Frühlings Erwachen 1,5); Wenn der Herr Hauptmann vielleicht noch ne Zigarette haben? (A083 Günter Grass, Blechtrommel 413); ähnlich auch im wenn-Satz mit Konjunktiv: Ach, Frau Buschmann, vielleicht, wenn Sie mir eine Tasse Kaffee machten… (O.E.A108 Otto Erich Hartleben, Ausgewählte Werke III,147);
2 mit Zahl- oder Mengenangaben ›ungefähr‹: Es möchten vieleicht funffzig Gerechten in der stad sein (A180 Martin Luther, 1.Mose 18,25); und als ich ihn letztes Mal sah, war er vielleicht zehn oder, sagen wir, zwölf (A083 Günter Grass, Blechtrommel 38). Was in ironischen oder rhetorischen Fragen ursprünglich ein Mittel war, deren Inhalt (höflich) als nur möglich hinzustellen, mag später (bei eher gleichbleibender Ausrufe-Intonation) als deutlicher Ausdruck inhaltlicher Ablehnung verstanden worden sein, daher wohl schon im 17. Jahrhundert der Gebrauch als
3"S002" Abtönungspartikel, in rhetorischen Entscheidungsfragen: ›Sprecher zeigt an, daß er die in der Frage liegende und dem Hörer als (mögliche) Gegenmeinung unterstellte Aussage für falsch bzw. abwegig hält‹, synonym ↑ "etwa": Oder willst du dich vielleicht verstecken? (O.E.A108 Otto Erich Hartleben, Ausgewählte Werke III,52); Und wie ich aussehe! Soll ich so vielleicht durch die Stadt gehen? (H.A182 Heinrich Mann, Untertan 242). Was in Kontexten wie Das war vielleicht ein Glück noch eine Möglichkeit bezeichnete, mag später in Ausrufen (dann mit Endbetonung) als Ausdruck unbeschreiblicher Intensität verstanden worden sein, daher etwa seit 1900 (vgl. L177 Heinz Küpper 2) der Gebrauch als
4 Abtönungspartikel, in Ausrufesätzen: ›Sprecher zeigt an, daß der beschriebene Sachverhalt von unbeschreiblicher Art oder Intensität war (und appelliert an die Vorstellungskraft des Hörers)‹: Ich war vielleicht ein Idiot, Leute!(A208 Ulrich Plenzdorf, Leiden 30); redensartlich in Sätzen wie: Mein Vater, das ist vielleicht einer!;
Vielliebchen (1823; L164 Friedrich Kluge) eigentlich "Liebchen", viel infolge der ursprünglich adjektivischen Natur von ↑ "Lieb". Es werden zwei zusammengewachsene Früchte, namentlich von Mandeln, Vielliebchen genannt. Diese werden von zwei Personen gemeinsam gegessen (Vielliebchenessen), wobei dann um ein kleines Geschenk o.ä. gewettet wird, wer von beiden am nächsten Tag zuerst zum andern »Vielliebchen« sagt; Vielliebchen heißt dann auch das von dem verlierenden Teil gegebene Geschenk. Es geht wahrscheinlich auf Liebesbräuche am Valentinstag (14.Febr.) zurück, die engl.,/ franz. Valentine die Bedeutung ›Liebchen‹ eingebracht haben. Das zu Philippine umgeformte franz. Valentine kam als Filipchen ins Luxemburgische und Westmitteldeutsche und wurde hier zu Vielliebchen umgedeutet;
vielmehr (frühnhd.), allmählich (durch Akzent auf der ersten Silbe) differenziert von viel mehr. Es bezeichnet nicht mehr einen höheren Grad, sondern die alleinige Geltung einer Aussage im Vergleich zu einer anderen. Entweder geht die verglichene Aussage in positiver Form voraus, und vielmehr leitet dann eine Berichtigung ein, er ist ein begabter, vielmehr genialer Mensch. Oder gewöhnlicher wird die verglichene Aussage bereits vorher verneint, ich habe mich nicht über ihn zu beklagen, vielmehr hat er alles getan, was in seinen Kräften stand; es ist nicht sowohl meine Schuld, als vielmehr die meines Advokaten (L012 Otto Behaghel, Syntax 3,324);
vielseitig (L305 Christoph Ernst Steinbach 1734), seit Ende des 18. Jahrhunderts übertragen: eine vielseitige Bildung (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Wanderjahre 24,50).
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