Hermann Paul - Deutsches Wörterbuch
verziehen
ahd. firziohan, mhd. verziehen schon semantisch entfaltet; neuhochdeutsch1.1etwas aufschieben, hinausziehen‹, zunächst transitiv Vnd verzeug die gabe dem Dürfftigen nicht (A180 Martin Luther, Sirach 4,3), dann auch ohne Objekt: du bist mein Helffer vnd Erretter / Mein Gott verzeuch nicht (A180 Martin Luther, Psalm 40,18), dazu bis ins frühere 20. Jahrhundert v. a. gehoben (»edler Ausdruck«; L033 Joachim Heinrich Campe) für ›warten‹ (Perfekt mit haben) verziehe noch ein wenig (A075 Johann Wolfgang von Goethe, 19,26,14);
1.2 länger erhalten, heute veraltet, sich verziehensich verzögerndie Heirat verzog sich nur in Erwartung der zugesagten Versorgung (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Clavigo 2);
2.1fortziehen‹, »in jüngerer sprache« (L059 DWb) ›den Wohnsitz wechselnmitten im tumult des verziehens(Jacobi; ebenda), heute: des Umzugs, verzog nach Augsburg (Dehio; ebenda), heute zumeist im Perfekt nach Berlin verzogen;
2.2 sich verziehenverschwinden‹, Wolken, Gewitter usw. verziehen sich: bald verzieht das gewölck sich (Klopstock; L059 DWb), auch Falten auf der Stirn, Schmerzen verziehen sich; umgangssprachlich auch mit persönlichem Subjekt ›sich zurückziehen‹ (L337 WdG) un der Gendarmerie verzieht sich un verschwind't(A.Glaßbrenner 1832, H.Gebhardt, Glaßbrenners Berlinisch, 1933,107), auch in der Aufforderung verzieh' dich!Hau ab!‹ (L322 UWb);
3 »aus der gehörigen.. Lage ziehen« (L033 Joachim Heinrich Campe),
3.1 den Mund zum Lächeln, Weinen verziehen, ein wunderbares zuckendes lächeln verzog sein gesicht (Goethe; L059 DWb), auch keine Miene, ohne eine Miene zu verziehen »äußerlich unbewegt« (L337 WdG), reflexiv ein schöner Mund, der sich ein wenig spöttisch verzieht (L264 Daniel Sanders); erweitert
3.2 vom Körper: die Gicht hat ihm alle Glieder verzogen (L004 Johann Christoph Adelung), von Gegenständen: das instrument [die Flöte] … ob es nicht etwa krumm oder verzogen sei (G.Keller; L059 DWb), verzogene buchstaben (Lessing; L109 Moriz Heyne), reflexiv: Holz verzieht sich und »im hinblick auf abbilder« (L059 DWb) die eindrücke… werden von behender einbildungskraft schnell… verzogen, gefärbt (Freytag; ebenda);
4jmdn. falsch, zu nachgiebig erziehen‹ (ahd. ; L059 DWb), er war mein erstes kind… ich verzog ihn (A. v.Arnim; L059 DWb), adjektivisch verzogen: das einzige, verzogene Kind reicher Eltern (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Wahlverwandtschaften 20,14,18);
5 sich verziehenfalsch ziehen‹ (von Karten beim Spiel), gebucht seit 1616 (L059 DWb); dazu
6 »technische anwendungen« (L059 DWb), z. B. Rüben verziehenauslichten‹ (1794; ebenda), ›verpflanzener[der Rosenstock] läszt sich nicht in unsern grund verziehen(Wieland; L109 Moriz Heyne), verziehen von Schnüren (zum Messen) bergmannssprachlich.
Verzug mhd. verzuc, verzoc;
1 zu verziehen(1) ›Verzögerung‹, es leidet keinen verzug (Gellert; L109 Moriz Heyne), reisen, vnd doch mit verzug(Königsberger Dichterkreis; L059 DWb); formelhaft Gefahr ist im VerzugGefahr droht‹ (L264 Daniel Sanders) (lat. Periculum in mora nach Livius; L027 Büchmann);
2"S181" rechtssprachlich, im 20. Jahrhundert fester Terminus Verzug des Schuldners (BGB §284), dazu entsprechend moderner Gebrauch: er ist mit der Arbeit, der Ratenzahlung in Verzug (L322 UWb);
3 zu verziehen(4) ›verzogene Personverzüge falscher zucht (Haller; L059 DWb), auch positiv (L264 Daniel Sanders): der jüngste ist ihr kleiner Verzug (L322 UWb), veraltend;
unverzüglich (1497; L345 Friedrich Karl Ludwig Weigand/ L345 Herman Hirt) ›ohne allen Verzug‹.
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