Hermann Paul - Deutsches Wörterbuch
Verstand
ahd. firstand für lat. sapientia ›Weisheit‹ vereinzelt (Isidor), auch mittelhochdeutsch selten, jedoch mittelniederdeutsch reich entwickelt und von da in die nordischen Sprachen entlehnt, frühneuhochdeutsch in verschiedenen Schattierungen (u. a. für lat. ratio, scientia, ingenium, mens, sensus);1Bedeutung, Sinn‹, Ein wort das zween Verstand hat (L200 Josua Maaler), Ein Wort in einem andern Verstande nehmen (L004 Johann Christoph Adelung); noch fassest du nicht des Gesetzes ganzen Verstand (Klopstock), jetzt veraltend;
2 in der Gemeinsprache von "Vernunft" wenig unterschieden, daher zum großen Teil in den gleichen Verbindungen: wieder zu verstand kommen (L037 Petrus Dasypodius 1536) bzw. bringen; gesunder verstand (1677; L059 DWb) bzw. gesunder Menschenverstand (Lichtenberg, Goethe), nach franz. bon sense, engl. common sense; den Verstand verlieren: wer über gewisse Dinge den Verstand nicht verliert, der hat keinen zu verlieren (A177 Gotthold Ephraim Lessing, Emilia Galotti 4,7); mehr Glück als Verstand(Goethe; in Varianten frühneuhochdeutsch, vgl. L059 DWb); als ⇓ "S168" philosophischer Begriff wesentlich von ⇓ "S032" I.Kant geprägt.
verständig (mhd. ), zu Verstand(2); früher auch mit präpositionaler Bestimmung: die auf die lehre und person verständig sind(Luther; L059 DWb); je mehr sie auf Genuß verständiger geworden ist (A.G.Meißner); noch im 18. Jahrhundert auch mit Genitiv: die besten und des feldbaues verständigsten arbeiter (La Roche; L059 DWb), daher (wie "erfahren", "kundig") in Zusammensetzungen wie die Rechts=Verständigen, Jurisprudentes (J. L.L078 Johann Leonhard Frisch 1741), ein Kunstverständiger (1727; L059 DWb), "Sachverständiger" (L003 Johann Christoph Adelung 1777). Jeder, siehst du ihn einzeln, ist leidlich klug und verständig, / Sind sie in Corpore, gleich wird dir ein Dummkopf daraus (A222 Friedrich Schiller, NA 1,344); Abgrenzung gegen "vernünftig" A075 Johann Wolfgang von Goethe, Wahlverwandtschaften 20,240,19: der Verständige findet fast alles lächerlich, der Vernünftige fast nichts. ↑ "klug".
verständigen (1537; L059 DWb), jmdn. verständigenjmdm. eine Mitteilung machenich hatte alle Mühe, den tauben Kerl zu verständigen(Thümmel), den Leser zu verständigen, wie es zugegangen sei (Wieland). Mit einem Genitiv: den Gastfreund der Ursache ihres Kummers zu verständigen (Musäus). Mit Umbildung der Konstruktion: der jungen Fürstin meine Liebe zu verständigen(Musäus), ich will Euch die Regung meines Innern gern verständigen (Immermann). Speziell sich verständigen auf die Beseitigung von Mißverständnissen, Mißhelligkeiten bezogen: ich muß euch doch zusammen verständigen (Lessing), wenn sie nur erst miteinander verständigt sind, welche Art der Schönheit sie in Gedanken haben (Schiller). Allgemein sich mit jmdm. (über etwas) verständigen; bei Schiller auch ›verständlich machen‹: um ihm seinen Idealismus zu verständigen, ebenso A075 Johann Wolfgang von Goethe: verständigte mich, daß diese Mücken… erst nach dem Falle unserer ersten Eltern entstanden (28,30,9).
verständlich ahd. firstantanlih, zu firstantan (↑ "verstehen"), noch bis 17. Jahrhundert (L320 Trübner) synonym mit verständig, jetzt nur noch in passivischen Sinn ›was verstanden (gehört, erfaßt, eingesehen) werden kann‹. Dazu unverständlich, "selbstverständlich", gemeinverständlich;
Verständnis ahd. firstantnissi;
1 frühneuhochdeutsch auch noch im Sinn des jetzigen Verstand: werdet nicht Kinder am Verständnis, sondern an der Bosheit seid Kinder (Luther); jetzt allgemein
2das Verstehen‹: dieser Essay des Dichters gibt uns den Schlüssel zum Verständnis seiner Werke (L337 WdG); Zusammensetzung "Mißverständnis"; nicht mehr üblich im Sinn des jetzigen
3 "Einverständnis": meine theologischen Händel haben ein Loch in unser gutes Verständnis gemacht (Lessing), daß zwischen mir und der Maria Verständnisse gewesen (A222 Friedrich Schiller, Stuart 4,4);
4 vereinzelt althochdeutsch (L059 DWb), ⇓ "S075" seit dem 18. Jahrhundert (vgl. L320 Trübner) zunehmend auf den Gefühlsbereich bezogen ›(wohlwollendes) Einfühlen‹: er ist ein mensch, dem man… durch wirkliches verständnis etwas geben kann (Herwegh; L059 DWb).
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