Hermann Paul - Deutsches Wörterbuch
verlieren
ahd. farliosan, mhd. verliesen; das -r- ist vom Plural Präteritum (verlurn) und vom Partizip (verlorn) aus verallgemeinert. Schon urgermanisch besteht nur die Zusammensetzung, nicht mehr das einfache Wort, das mit "los" verwandt ist;1 heute läßt sich eine engere und eine weitere Bedeutung des Wortes unterscheiden. Die engere ist ›etwas, was man bei sich führt, unvermerkt fallen lassen‹, Gegensatz "finden", den Hut, den Geldbeutel, einen Sack aus dem Wagen verlieren; in der allgemeineren Bedeutung Gegensatz zu "gewinnen", von einem anderen Standpunkt aus auch zu "behalten". An die engere Bedeutung schließt sich auch an etwas aus den Augen, aus dem Gesichtskreis, aus dem Gedächtnis verlieren; den Weg, die Spur verlieren; den Kopf verlieren (redensartlich), den Verstand verlieren, den Mut verlieren.Ferner sich verlierenverschwinden‹, jmd. verliert sich in der Menge, was bedeuten kann ›entschwindet dem Gesichtskreis‹, aber auch ›wird überhaupt nicht bemerkt‹, während verlor er sich unter die Menge(Klopstock) unzweideutig ist; in den Zimmern der Königin verlor sich die Erscheinung (Schiller); ihr letztes Schreiben hat sich unter meine Papiere verloren (Lessing); ein Flecken, eine Narbe, das Fieber, die Begeisterung verliert sich; ein Pfad verliert sich in das Dickicht, ein Bach verliert sich im Sande; das Altertum der Stadt Abdera verliert sich in der fabelhaften Heldenzeit(Wieland); jmd. verliert sich in Gedanken, Betrachtungen, Träume; auch mit Dativ: wann ich mich so in Träumen verliere (Goethe); und verlor mich in der Wonne(Goethe), im Partizip: wenn über uns im blauen Raum verloren, ihr schmetternd Lied die Lerche singt (Goethe); in dem Anschauen der schönen Danae verloren (Wieland) (in das Anschauen wäre auch möglich); verloren lauscht das Ohr dem süßen Ton (Herder); die Musik fing an stiller und verlorener zu tönen (Schiller); Je länger die Zeit bis zum Beginn des Essens währte, desto verlorener kam er sich in dem… Saal vor (A154 Hermann Kasack, Stadt 52). In der weiteren Bedeutung hat verlieren eine sehr ausgedehnte Anwendungsfähigkeit, indem man ziemlich von allem, von dem man sagen kann, daß man es hat, auch sagen kann, daß man es verliert, sein Vermögen, sein Leben, seine Ehre, die Geduld, seine Eltern, einen Freund verlieren usw. Auch dasjenige betrachtet man als verloren, was nutzlos, ohne Erfolg bleibt: Zeit, seine Mühe, seine Arbeit, seine Kunst, ich mag kein Wort mehr darüber verlieren; redensartlich an ihm ist Hopfen und Malz verloren. Auch leblose Dinge können als Subjekt stehen, meist im Anschluß an die engere Bedeutung: der Baum verliert seine Blätter, das Metall seinen Glanz, das Gras seine Farbe, der Wein seinen Geschmack usw. Etwas anderes ist es, wenn das, was sonst als Mittel behandelt wird, zum Subjekt gemacht wird: seine Karte, sein Los gewinnt: die Unschuld ist's, was ihm den Kopf verliert(Wieland); sein Eintritt in Brüssel hatte ihm alle Herzen verloren (Schiller). Als Objekt kann auch eine Art Akkusativ des Inhalts stehen: ein Spiel, eine Wette, einen Prozeß, eine Schlacht verlieren; auch ohne Objekt: jmd. hat verloren sagt man, wenn sich die nähere Beziehung aus der Situation ergibt; wagen gewinnt, wagen verliert; ›Einbuße erleiden‹: jmd. hat an Ansehen, an Einfluß verloren; verliert bei näherer Bekanntschaft; der Wein verliert (an Geschmack). Dem Sinn des Passivs nahe kommt verlorengehen, doch so, daß es mehr die Funktion eines entsprechenden Intransitivums hat; ungewöhnliche Konstruktion: Die meisten gehen mit Dreißig ins Sexuelle verloren (Th.A012 Thomas Bernhard, Frost 323). Eine andere eigentümliche partizipiale Wendung ist etwas verloren gebenals verloren ansehen‹, eigentlich ›als etwas Verlorenes fahrenlassen‹;
2 im Mittelhochdeutschen vereinigt verlieren (wie lat. perdere) mit der jetzigen die Bedeutung ›zugrunde richten‹. Bei Luther erscheint noch mehrmals verloren werdenzugrunde gehen‹; der Tag müsse verloren sein, darinnen ich geboren bin. Allgemein noch in entsprechendem Gebrauch adjektivisch verloren, ich bin verloren (ein verlorener Mann), wenn du mir nicht hilfst; speziell: die schöne liebliche historien vom verlohrenen sohn (Kirchhof; L059 DWb, vgl. A180 Martin Luther, Lukas 15,24); ein verlorenes Mädchen, eine Verlorene. Dazu ⇑ "Verlust", "Verlies".
Sie können einen Link zu dem Wort setzen

Ansicht: verlieren