Hermann Paul - Deutsches Wörterbuch
verhalten
(ahd. )1 transitiv ›hemmend halten‹,
1.1zuhalten‹, die Augen, die Nase, den Mund frühneuhochdeutsch, noch im 18. Jahrhundert: dem Schreien einer Frau, der man den Mund verhält (Wieland); Meister Martin verhielt sich mit beiden Händen die Ohren (E.T.A.Hoffmann);
1.2bei sich behalten, nicht fortlassen, nicht herauslassen‹: den Schein, den Tau, den Regen verhalten (Luther); auch in der neueren Sprache die Tränen, das Weinen, das Lachen, den Schmerz, seine Leidenschaft verhalten usw., seit dem 18. Jahrhundert im Partizip Perfekt verhalten häufig attributiv ›unterdrückt, gedämpft‹: ihrer verhaltenen leidenschaft(Schiller; L059 DWb), mit… verhaltenen thränen(Tieck; ebenda), einer… verhaltenen freude (Auerbach; ebenda); ›nicht aussprechen‹: ich will euch nicht verhalten dieses Geheimnis (Luther); diesen Zusatz verhält Hr. Klotz seinen Lesern (Lessing); dir eine Wahrheit verhalten zu wollen(Wieland); mit abhängigem Satz, denn leider! können wir euch länger nicht verhalten, daß es ganz richtig nicht mit ihrem Herzen ist (Wieland); vor einiger Zeit verhielt er nicht, daß er sich um meine Hand bewerbe (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Wanderjahre 25.1,251,22); verhalte mirs nicht (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Brief vom 18.3.81);
1.3 landschaftliche Verwendungen mit Verblassung von ver-: ›unterhalten‹, Gott verhält alle Kreaturen(Schuppius); sie hatten ihre Väter verhalten, und wenn sie alt geworden, wars an ihren Kindern, sie zu verhalten (L.Pfau); ›anhalten‹, die Schuldigen zu verhalten, an einem Strumpfband zu stricken (Grillparzer);
2 sich verhalten frühneuhochdeutsch und noch landschaftlich ›sich aufhalten‹: der sich noch ein paar Minuten im Versammlungszimmer der Professoren verhalten haben würde (Holtei); bei ihm verhielt sich unser Invalid (L.François); ungewöhnlich von Sachen: das Fett… , das sich… dort verhalten hatte (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Italienische Reise 25.12.86). Allgemein von lebenden Wesen ›sich benehmen‹ (16. Jahrhundert): sich ruhig, passiv verhalten usw.; von Unbelebtem: die Sache verhält sich so; dafür unpersönlich: damit verhält es sich so; sich zu etwas verhalten häufig in Vergleichen: A verhält sich zu B wie C zu D.
Verhalten"S093" Neutr. (L308 Kaspar Stieler) meist von lebenden Wesen und eine Aktivität bezeichnend; auch wissenschaftlich Verhalten der Materie, des Quecksilbers u.dgl.; dazu um 1930 Verhaltensforschung (nach engl. behavioural science); dagegen
Verhältnis (1667 von J.Sturm als ⇓ "S123" Lehnschöpfung für lat. proportio; L360 ZDW 7,56) ›ein durch die Umstände herbeigeführter Zustand‹, auch wo es sich auf Personen bezieht, nicht ausschließlich von dem Willen der einen abhängig, sie lebt in ärmlichen Verhältnissen, ich stehe zu ihr in keinem guten Verhältnis, es besteht zwischen uns ein gespanntes Verhältnis. Früher auch Verhältnis mit statt des jetzigen zu: das Verhältnis, in welchem ein König von Frankreich mit der Kirche seines Reiches stehet (Lessing); dem Verhältnis, worin ich mit dem argwöhnischen Dionysius stehe (Wieland); das Verhältnis mit dem Oheim(E.T.A.Hoffmann). Umgangssprachlich auch seit etwa 1800 ›Liebschaft‹: ich verspreche kein heimliches Verhältnis zu Ottilien zu suchen (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Wahlverwandtschaften 20,170,17); Ende des 19. Jahrhunderts dann: er hat ein Verhältnis mit ihr, auch sie ist sein Verhältnis; dreieckiges Verhältnis (H.Ibsen, Hedda Gabler 2,1), Dreiecksverhältnis ↑ "drei". Von Sachen wie "Proportion": die Ausgaben stehen in keinem Verhältnis zu den Einnahmen, im Verhältnis zu, nach Verhältnis;
verhältnismäßig (L003 Johann Christoph Adelung 1780), früher auch in Verbindung mit zuoder mit gebraucht ›im Verhältnis zu‹: hingegen flossen die Ströme… verhältnismäßig zum Niveau des Meeres nicht schneller (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Brief vom 27.10.82); daß ich meine Ehefrau verhältnismäßig mit ihren Bedürfnissen in einem an Dürftigkeit grenzenden Zustande zurücklasse (Heine); ungewöhnlich adjektivisch ›angemessen‹: ein verhältnismäßiges Honorar (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Brief vom 17.11.00); adverbial ›relativ‹: in verhältnismäßig bösem geschmack ausgeziert (Goethe; L059 DWb);
Verhältniswort (L033 Joachim Heinrich Campe) verdeutscht ↑ "Präposition".
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