Hermann Paul - Deutsches Wörterbuch
vergessen
(ahd. ). ⇓ "S226" Das im Althochdeutschen einfache Verb gezzan, das ›treffen, erlangen‹ bedeutete (engl. to get), wurde nicht weiterentwickelt. Es war gemeingermanisch und urverwandt mit lat. prehendere, griech. chandánein ›fassen‹. Im Mittelhochdeutschen existiert auch ergezzen, woraus "ergötzen" abgeleitet ist; ›aus dem Gedächtnis verlieren, sich nicht merken können‹, ⇓ "S076" ursprünglich mit Genitiv, noch im 18. Jahrhundert und darüber hinaus: Sie vergessen Ihrer Blessuren (Lessing); Rosen auf den Weg gestreut, / Und des Harms vergessen! (A132 Ludwig Christoph Heinrich Hölty, Lebenspflichten); und hätte bald des Himmels gar vergessen (H. v.Kleist); geblieben in ↑ "Vergißmeinnicht". Der Akkusativ, zuweilen schon bei Luther, wird im 18. Jahrhundert üblich. Wir gebrauchen vergessen teils, wo etwas völlig aus dem Gedächtnis schwindet, teils, wo zur rechten Zeit nicht daran gedacht wird, letzteres immer, wenn ein Infinitiv mit zu davon abhängt: ich habe vergessen, ihn zu grüßen; ich habe mein Messer vergessennicht mitgebracht‹, ich habe die Vögel vergessenversäumt, sie zu füttern‹; südostdeutsch, besonders aber österreichisch sagt man umgangssprachlich in diesem Fall auf etwas vergessen (L171 Paul Kretschmer 7,599; L066 Jürgen Eichhoff, Karte 3–59): Sie… vergesse dabei ganz auf die Zeit(A102 Peter Handke, Brief 170); er hat schon darum vergessen(Storm). Reflexiv sich vergessensich der Situation, in der man sich befindet, nicht bewußt sein‹, vor allem ›die Beherrschung verlieren‹, wie konntest du dich so vergessen?, selbstvergessen (s. unten). Landschaftlich ich bin's vergessen statt ich habe es vergessen, was eine Nachwirkung der älteren intransitiven Natur des Wortes ist. Auch sonst erscheint das Partizip wie im Mittelhochdeutschen aktiv, dann mit Genitiv, Katharina, ihrer wahren Stärke vergessen(Schiller; öfter so bei ihm); das fragst du noch, Vergessene? (H. v.Kleist); besonders in Zusammensetzungen wie ehrvergessen, eidvergessen, "pflichtvergessen", schmerzvergessen, selbstvergessen, treuvergessen; im Sinne von ›vergeßlich‹: Die Jugend ist vergessen / Aus getheilten Interessen; / Das Alter ist vergessen / Aus Mangel an Interessen (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Zahme Xenien 1261ff.); wenn ich oft am Flecke vergessen oder gleichgültig bin (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Brief vom 14.10.79), ich bin leider gar zu vergessen (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Brief vom 25.7.04). Seit Mitte der 1970er Jahre⊚⊚ vergiß es!, das kann man vergessen u.ä. nach engl. forget it wenn etwas nicht (mehr) den Vorstellungen, Ansprüchen etc. entspricht bzw. gültig ist (L010 AWb). Aus dem Partizip abgeleitet
Vergessenheit (mittelhochdeutsche ⇓ "S142" Mystik), allgemein üblich in Vergessenheit geraten, bringen, sonst im höheren Stil, zum Meere der Vergessenheit(Goethe); zu aktivem vergessenZustand, in dem man vergessen hat‹, Vergessenheit aus Lethes Wellen trinken (Schiller); früher auch ›Vergeßlichkeit‹: alle Tugend komme von dem guten Gedächtnis her, alle Laster hingegen aus der Vergessenheit(Goethe); in Gefahr bin irgend einen Punkt aus Vergessenheit zu übergehen (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Brief vom 16.9.00); er sagte aus Vergessenheit oder Bosheit (Jean Paul); Stunden, wo ich Dummheiten, Vergessenheiten begehe, die unglaublich sind (F.Th.Vischer).
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