Hermann Paul - Deutsches Wörterbuch
unter
Schon im Urgermanischen sind zwei verschiedene Wörter lautlich zusammengefallen: das eine (1), lat. inter entsprechend und mit der gleichen Bedeutung wie dieses, sich mit ↑ "zwischen" berührend, von dem es zum Teil zurückgedrängt ist; das andere (2), verwandt mit "unten", ferner mit lat. infra, Gegensatz zu ↑ "über";1.1 als Präposition regiert unterden Akkusativ und Dativ der allgemeinen Regel gemäß, ↑ "an"(2);
1.1.1 unterkann anfangs sein ›zwischen zwei Gegenständen, bzw. zwei Gruppen von Gegenständen‹; in diesem Sinn ist es jetzt aber fast ganz durch "zwischen" verdrängt, vgl. noch auf Unräumliches übertragen: so lange der Erbe ein Kind ist, so ist unter ihm und einem Knechte kein Unterschied (Luther); so wie sein Herz keinen Unterschied darunter kennet, so weiß auch sein Mund keinen darunter zu machen (Lessing); was ich unter Ihnen und mir für billig halte (Schiller); mit eigentlich unlogischer, aber früh üblicher Doppelsetzung: den Unterschied unter einer Totenkälte und unter erfrornen Fingern (L.A.Gottsched); den großen Unterschied, der unter den Diensten ist, die man uns aus Gehorsam und Hoffnung erzeigt, und unter denen, die… (Gellert); diese machte keinen Unterschied unter dem Wolfe und unter dem Menschen (Möser). Auch jetzt sagen wir noch ein Zwist unter Eheleuten, unter Freunden; das ist unter Brüdern hundert Mark wert. Nicht mehr in dem ursprünglichen Sinn verstanden wird das bleibt unter uns, unter uns gesagt. Auch unter vier Augen darf wohl hierher gestellt werden;
1.1.2 üblich ist dagegen unter noch, wo es sich auf das Umgebensein von mehreren Gegenständen bezieht: er stand mitten unter seinen Dienern; er trat mitten unter sie; ich gehe (komme) nicht unter Menschen; jmdn. unter die Soldaten stecken; Geld unter die Leute bringen; unter Wölfen muß man heulen; das Wort wohnete unter uns (Luther); der da wandelt mitten unter den sieben Leuchtern (Luther); Wasser unter den Wein tun (mischen); unter anderen. In manchen Fällen kann man zwischen Dativ und Akkusativ schwanken, weil verschiedene Anschauungen möglich sind: damit es nicht weiter einreiße unter das Volk (Luther) (wir würden unter dem Volk vorziehen); ein kluger Knecht wird unter den Brüdern das Erbe austeilen (Luther) (wir würden unter die Brüder sagen); und ließ seinen Leichnam unter dem gemeinen Pöbel begraben (Luther) gegen sie begruben ihn in der Stadt Davids unter die Könige (Luther). Das Verhältnis kann wechselseitig sein: untereinander mischen, rühren usw.; so auch in wir sind unter uns (als Gegensatz zu unter anderen, nach franz. entre nous);
1.1.3 ursprünglich die Folge einer Ungenauigkeit ist es, wenn unter der mit unter angeknüpften Bezeichnung der Gegenstand mitbegriffen wird, der als darunter befindlich bezeichnet wird: die Liebe ist die größeste unter ihnen (Luther); der Älteste unter ihnen; unter zwei Übeln das kleinste wählen. Dabei berührt sich untermit von und dem Genitivus Partitivus;
1.1.4 unter wird auf die Zeit übertragen, wobei dann auch Bezeichnungen für begleitende Umstände abhängig gemacht werden können: "unterweilen" (siehe "Weile"); unter der Stunde des Räucherns(Luther); unter der Arbeit; unter dem Essen; unterm Male(Grillparzer); unter Tränen, Scherzen, Donner und Blitz, donnerndem Applaus, Buhrufen usw.;
1.1.5 Konstruktion mit Genitiv im zeitlichen Sinn in "unterdessen" (↑ "unterdes"). L004 Johann Christoph Adelung gibt auch an unter Tages, unter Essens und dgl., wo der Genitiv wohl auf Einwirkung der nicht von einer Präposition abhängigen genitivischen Zeitbestimmungen beruht (vgl. tags darauf usw.); unter Tags ist noch süddeutsch. Nur scheinbar hierher gehört ↑ "unterwegs";
1.2 mit unter werden feste Zusammensetzungen gebildet: "unterbinden", "unterbrechen", "unterbleiben", "unterhalten"(1), "unterhandeln", "unterkommen"(1), "unterlassen", "unterlaufen"(1.1), untermengen, untermischen, "unternehmen", "unterreden" (sich), "unterrichten", "untersagen", "unterscheiden", "unterweisen";
1.3 unfeste Zusammensetzungen sind vereinzelt, vgl. ⇑ "unterlaufen"(1.2), "unterstecken"(1);
1.4 als selbständiges Adverb wurde unter schriftsprachlich nicht gebraucht, nur in der Zusammenrückung ↑ "mitunter";
1.5 einige nominale Zusammensetzungen schließen sich an die betreffenden verbalen an: "Unterhalt", "Unterlaß", "Unterschied";
2.1 als Präposition regiert auch dieses unterDativ und Akkusativ;
2.1.1 es ist zunächst Gegensatz zu "über"(1.1): unter dem Tisch liegen, unter den Tisch legen; unter Wasser stehen, unter Wasser setzen; mit jmdm. unter einem Dach wohnen, jmdn. unter sein Dach laden; unter freiem Himmel, der Sonne, dem Mond, den Bäumen, dem Schatten eines Baumes; tief unter uns. Bemerkenswert ist, daß man sagt unter den Bäumen, den Arkaden hingehen, während über in dem entsprechenden Fall den Akkusativ regiert. Manche formelhafte Wendungen, z. T. übertragen: unter der Hand, unter Händen haben, auch unterderhandheimlich‹; unter einer Decke stecken; unter die Füße treten; jmdm. unter die Augen kommen; jmdm. etwas unter die Nase reiben; unter Segel gehen; unter die Erde bringen; unter die Waffen rufen; unter einen Hut bringen;
2.1.2 es bildet auch den Gegensatz zu "über"(1.2): er hat (trägt) unter dem leinenen Hemd ein wollenes; das Gesicht ist unter einem Schleier verborgen; auch etwas unter Schloß und Riegel verwahren;
2.1.3 uneigentliche Verwendung. Noch mit deutlicher Anknüpfung an sinnliche Anschauung: unter dem Siegel der Verschwiegenheit; unter der Maske der Freundschaft; auch unter dem Druck der Verhältnisse. Abgeblaßter und z. T. nach dem Vorbild der lateinischen Urkunden- und Verwaltungssprache (lat. sub): unter meinem/ fremdem Namen; unter der Gestalt eines Engels; unter dem Schein, dem Vorwand, Vorbehalt, der Bedingung, (diesen, gewissen) Umständen;
2.1.4 speziell bezeichnet unter ein Abhängigkeits- bzw. Unterordnungsverhältnis: ich habe unter mir Kriegsknechte(Luther); ein Weib, das unter dem Manne ist (Luther); unter das Gesetz getan (Luther); damit wir nehmen gefangen alle Vernunft unter den Gehorsam Christi (Luther); unter der Herrschaft, der Regierung Karls des Großen oder bloß unter Karl dem Großen; unter Kanzler Brandt usw. ↑ "während";
2.1.5 ferner bezeichnet es ein Zurückstehen in bezug auf Wert, Rang, Menge, und bildet dann den Gegensatz zu "über"(1.11): er steht tief unter ihm an Talent, Charakter usw.; das ist unter aller Würde, aller Kritik, der Erwartung; etwas unter dem wahren Wert, unter dem Einkaufspreis verkaufen; Kinder unter 10 Jahren; unter vier Wochen wird er nicht fertig;
2.2 die festen Zusammensetzungen mit unterhaben zum Teil einen eigentlich von unter abhängigen Akkusativ neben sich, während das einfache Verb entweder intransitiv ist oder eine andere Art von Akkusativ regiert: "unterschreiben", "unterzeichnen", untersiegeln, unterstreichen, "untergraben", unterhöhlen, unterwühlen, unterminieren, "untergehen"(1), "unterlaufen"(2), "unterlegen"(1); sich "unterfangen", "unterwinden".Andere können mit einem von unter abhängigen Dativ verbunden werden: "unterliegen", "unterstehen"(1.1), "unterbreiten", "untergeben", "unterstellen", "unterwerfen", "unterziehen"; dazu das Partizip "untertan". Wieder andere ohne Änderung der Konstruktion: "unterstützen", "unterhalten"(2.1); "unterdrücken", "unterjochen"; im Anschluß an (1.5) unterschätzen;
2.3 die unfesten Zusammensetzungen meistens ohne Änderung der Konstruktion: "untergehen", untersinken, untertauchen, unterkriegen, "unterkommen", "unterbringen", unterkriechen, unterschlüpfen, "unterstehen", "unterhalten", "untersetzen", "unterstecken". Einige können mit einem von unterabhängigen Dativ verbunden werden: "unterbinden" (sich etwas), "unterbreiten", "unterlegen", "unterschieben", "unterschlagen", unterordnen. Über Schwankungen zwischen fester und unfester Zusammensetzung ⇑ "unterlegen", "unterliegen", "unterschieben", "unterschlagen";
2.4 als selbständiges Adverb nur noch vereinzelt, der Mond ist unter (Schiller), die Sonn' ist unter (Lenau), die Hunde müssen dich nicht oft unter gehabt haben (Lessing). Über bergunter (J.M.R.A174 Jakob Michael Reinhold Lenz, Menoza 1,1), kopfunter u.dgl. vgl. "über"(4). Die Verbindungen ⇑ "herunter", "hinunter" entsprechen nicht dem Gebrauch von unterals Präposition, sondern dem mhd. underunten‹; sie bedeuten entweder ›in der Richtung nach unten‹, also Gegensatz zu "hinauf", "herauf", wo diese sich an adverbiales "auf"(1.1) anschließen, oder sie drücken aus, daß die Lage, die Stellung auf einem Gegenstand verlassen wird;
2.5 nominale Zusammensetzungen geht unter mit einigen Verbalsubstantiven ein, die sich an die entsprechenden verbalen, teils festen, teils unfesten Zusammensetzungen anschließen: "Untergang", "Unterstand", "Unterschlupf", Unterbau, "Unterkunft", "Unterlage", Untersatz, "Unterschrift"; vgl. auch ↑ "unterwürfig". Vereinzelt steht ↑ "Unterpfand". Das Adjektiv unterirdisch schließt sich an unter der Erde an. Vgl. L059 DWb11.3, 1452ff. Zu weiteren Zusammensetzungen ↑ unter -.
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