Hermann Paul - Deutsches Wörterbuch
Umgang
ahd. umbigang;1.1 zu "umgehen"; so oft hundert Umgänge [›Umdrehungen‹] auf den Haspel gekommen sind (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Wanderjahre 25.1,115,3); wenn wir einmal unsern Umgang hielten (um die Merkwürdigkeiten der Stadt zu besehen) (Goethe), besonders in bezug auf einen feierlichen Umzug;
1.2 veraltet von dem Raum, der um etwas herumgeht, ↑ 1"Gang"(5): er bauete einen Umgang an der Wand des Himmels rings umher (Luther); und wandelt im Umgang des Himmels(Luther);
1.3 am üblichsten ›(gesellschaftlicher) Verkehr‹ (1650; L059 DWb) Was die Franzosen den esprit de conduite nennen,.. die Kunst des Umgangs mit Menscheneine Kunst, die oft der schwache Kopf… viel besser erlauert als der verständige (A163 Adolf Freiherr von Knigge,3Umgang 23); Umgang mit jmdm. haben, im Umgang mit jmdm. , der gesellschaftliche Umgang (Schiller); dazu im 18. Jahrhundert umgänglich; mit gewöhnlicher Verknüpfung: des umgänglichen Hof- und Stadtlebens (Goethe);
2 veraltet zu "umgehen"(1.2): Umgang von etwas nehmen; dazu unumgänglichnotwendig‹ (16. Jahrhundert).
Umgangssprache"S032""S208" aus »tägliche Sprache des Umgangs« (1751 A080 Johann Christoph Gottsched, Critische Dichtkunst 652) entwickelter Terminus: wie sich das gemeine Volk verschiedener halb hochdeutscher Wörter bedient, so gebraucht der verfeinerte Teil wiederum manche halbplatdeutsche Wörter in seiner Umgangssprache (1781 K.Ph.Moritz, Ueber den märkischen Dialekt, 17), bei L004 Johann Christoph Adelung 1793 zuerst in der Zwillingsformel gewöhnliche Schrift- und Umgangssprache der Deutschen (Vorrede zum Auszug aus dem grammatisch-kritischen Wörterbuch VII), auch bei G.A.A032 Gottfried August Bürger (1835 Sämmtliche Werke 342; 1791 verfaßt, 1797 publiziert): neuere Schrift- und höhere Umgangssprache; bei L033 Joachim Heinrich Campe 1811 lemmatisiert, mit erklärendem Hinweis »Conversationssprache« und grammatischem Verweis: »ohne Mehrzahl«:
1gesprochene Version der deutschen Gemeinsprache‹, so noch bei L102 Theodor Heinsius (1840,4,447) und W.Grimm (L059 DWb1860,796 als Beschreibungsbegriff) und bei H.Paul (1898 H.L237 Hermann Paul, Prinzipien 410, mit leichter Modifikation);
2.1sprachliche Existenzform zwischen Hochsprache und Mundart mit regionaler Geltung‹ zuerst von H.Wunderlich, Unsere Umgangsprache 1894, 20f. entworfen, dann von sprachgermanistischer Forschung (z. B.O.Behaghel, Geschriebenes und gesprochenes Deutsch 1899) weiterentwickelt, nunmehr, bezogen auf das deutsche Sprachgebiet, im Plural, zuletzt H.Steger in: Festschrift für S.Grosse 1984;
2.2 insofern auch ›Sprache des täglichen Umgangs‹. z. B. in der Familie oder im engeren Bekanntenkreis, in der privaten Sphäre;
3 beide Begriffe von Umgangssprache, leicht verwandelt, in der deutschsprachigen Lexikographie
3.1landschaftliche oder regionale Kennzeichnung der Wörter, die keine überlandschaftliche Form(z. B. Rotkohl und Blaukraut) haben‹, hierfür zumeist ›regional‹ oder ›landschaftlich‹ oder genauere Kennzeichnung, z. B. ›norddeutsch‹,
3.2gemeinsprachlicher Wortschatz unterhalb der gehobenen und »normalen« und oberhalb der saloppen Stilschicht‹, so auch im allgemeinem Sprachgebrauch: Diese Redensarten [»auf Treu und Glauben«] sind Altertümer der Umgangssprache (B.A254 Botho Strauß, Paare 87). (3.1) und (3.2) fallen oft zusammen;
4 zudem ›unterschiedliche Einzelsprachen und/ oder Dialekte überbrückende Existenzform, die als öffentliches Kommunikationsmittel (z. B. dem Zweck einheitlicher Verwaltung) dient oder Mittel sozialer Distanz ist‹, parallel zu (1) am Ende des 18. Jahrhunderts entwickelt: zu dieser umgangssprache ist bei uns und in mehreren nordischen ländern das französische erwählt worden (1812 Alxinger; L059 DWb); die umgangssprache [in Haiti] ist französisch (frühes 20. Jahrhundert, v.Alten; L059 DWb); wohl bis in die Gegenwart stabil;
5 darüber hinaus in sprachphilosophischer Hinsicht (20. Jahrhundert) ›jede natürliche Sprache, sofern sie einer philosophisch präzisierten, vor allem formalen, logischen Sprache entgegengesetzt ist‹. Die Umgangssprache ist ein Teil des menschlichen Organismus und nicht weniger kompliziert als dieser. Es ist menschenunmöglich, die Sprachlogik aus ihr unmittelbar zu entnehmen (A282 Ludwig Wittgenstein, Tractatus 4.002). H.Henne, Stichwort Umgangssprache, in: Deutscher Wortschatz. L.E.Schmitt zum 80. Geburtstag, 1988, 813ff.; A.Blackshire-Belay, Umgangssprache. Zum Wandel eines Begriffs, 1992. Die Ableitung
umgangssprachlich ist jeweils den Teilbedeutungen zuzuordnen ([4] wohl unüblich); zu (3.2): das Gefühl ist geradezu seine Puschel, –verzeihen Sie den umgangssprachlichen Ausdruck (Th.A183 Thomas Mann, Zauberberg 818);
UmgangstonArt, in der man miteinander spricht‹: der umgangston der gebildeten Athener war so fein, witzig (K.F.Becker 1801; L059 DWb)
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