Hermann Paul - Deutsches Wörterbuch
tragen
ahd. tragan, mhd. tragen, gemeingermanisch, altnord. draga›ziehen‹, so auch altengl. dragan, engl. draw (vgl. die Bedeutungsentwicklung von ↑ "schleppen"); wohl urverwandt mit lat. trahere (trotz lautgesetzlicher Schwierigkeiten).1.1 Zunächst wohl nur auf lebende Wesen bezogen, mit dem Begriff einer Bewegung, daher mit Richtungsbezeichnungen: etwas aus dem Haus, auf die Straße, nach Hause, in die Kirche, forttragen, emportragen; derjenige Teil des Körpers oder seiner Ausrüstung, der speziell als Stütze für die Last dient, kann durch Anknüpfung mit einer räumlichen Präposition bezeichnet werden: auf dem Rücken, am Finger, in der Hand, in der Tasche, an einem Band, auf einer Stange tragen, übertragen jmdn. auf Händen tragen (mhd. ), seit A180 Martin Luther, Psalm 91,12 verbreitet; ohne Objekt schwer an etwas zu tragen haben (auch übertragen). Mit Verblassung des eigentlichen Sinns zu Grabe tragen (mhd. auch mit Artikel), er wil das glück zum marckt tragenpreisgeben‹ (1601; L059 DWb), die eigene Haut zu Markte tragen (L305 Christoph Ernst Steinbach); zur Schau tragen, frühnhd. Schau tragen (Kolosser 2,15); reflexiv sich nach Hause tragen;
1.2 es können aber auch leblose Gegenstände zum Subjekt gemacht werden, so daß die Vorstellung der Bewegung bleibt. Körperteile können als tragend gedacht werden: ich wil so weit gehen, als mich die füsz tragen wöllen (1545; L059 DWb), mein Rücken trägt die Last; Gegenstände, die durch einen anderen in Bewegung gesetzt werden: der Wagen, das Schiff trägt; Gegenstände, die durch sich selbst in Bewegung sind: das Wasser, der Wind trägt etwas fort, die luft ist rein und trägt den schall so weit (Schiller; L059 DWb), auch ein Sprung trägt; ohne Objekt die Pistolen, die Augen tragen nicht so weit (L169 Matthias Kramer), hierbei liegt in dem Verb die Fähigkeit;
1.3 die Vorstellung der Bewegung kann schwinden: mit dem Dativus commodi jmdm. den Koffer tragen, pfeiler… die… zwölff… pogen [›Bogen‹] tragen (Dürer; L059 DWb), eine Säule, ein Balken, das Dach trägt; ohne Objekt auf die Fähigkeit bezogen: das Eis trägt, im Partizip Präsens ›wesentlich‹: tragender gedanke eines vortrags, einer schrift (L059 DWb), tragende rolle (L059 DWb) im Schauspiel, im Partizip Perfekt ›gestützt‹: weis sich… von der zustimmung seines volkes getragen (Bismarck; L059 DWb);
2 besondere Verwendungsweisen entstehen, indem sich Nebenvorstellungen anknüpfen oder durch Übertragung,
2.1 speziell auf Kleidungsstücke, Schmuck usw. bezogen: einen Rock, Stiefel, einen Hut, einen Ring, eine Brille tragen usw., das trägt man heutedas ist modern‹, etwas (nicht) tragen können wenn jmdm. ein Kleidungsstück (nicht) steht; reflexiv das Tuch trägt sich wol (L169 Matthias Kramer); seit dem Mittelhochdeutschen attributiv im Partizip Perfekt getragene Kleider; nicht wesentlich verschieden davon, wenn Teile des eigenen Körpers als Objekt stehen: die weysen oder gelehrten leüt lang bärt tragend (L080 Joannes Frisius 1556), Locken tragen. Solche Teile, deren Vorhandensein als selbstverständlich vorausgesetzt wird, können als Objekt nur mit einer Angabe stehen, die die besondere Art bestimmt: den Bart lang, das Haar in Flechten, den Arm in einer Binde tragen; übertragen den Kopf, die Nase hoch tragen: ey, trag… / die nase nicht zu hoch (Dietrich v. d.Werder; L059 DWb), das Herz auf der Zunge tragen, das Herz auf dem rechten Fleck tragen; auch veraltet sich tragen mit einer solchen Bestimmung, entweder auf die Körperhaltung bezogen (er trägt sich aufrecht) oder gewöhnlicher auf die Kleidung (er trägt sich schwarz/ sauber): so trug er sich beständig grau(A075 Johann Wolfgang von Goethe, Dichtung und Wahrheit 27,132,6); hier schließt sich auch an er trägt den Namen Franz; auch etwas in sich tragen schon mittelhochdeutsch übertragen ›(in jmdm. ) angelegt sein‹: was Winckelmann in Rom sehen sollte und wollte, trug er schon in sich (Herder; L059 DWb);
2.2 von Frauen und weiblichen Tieren: ein Kind (unter dem Herzen), ein Junges tragen; auch der Schoß, der ihn getragen hat;
2.3 ähnlich ein Baum, auch die Erde, das Land trägt Früchte: fruchtbare Bewme / da ein jglicher nach seiner art Frucht trage (A180 Martin Luther, 1.Mose 1,11), ↑ "Tracht";
2.4 danach das Gut trägt nicht viel (ein)bringt nicht viel ein‹, der großen Nutz und Gewün bringt oder tregt (L080 Joannes Frisius 1556), Kapital trägt Zinsen;
2.5 veraltet Das Porto trägt eine Mark, jetzt ↑ "betragen";
2.6 mit Zustands- oder Tätigkeitsbezeichnung als Objekt: das du nachm apffel trugst verlangen (1580; L059 DWb), Scheu, Bedenken, Sorge (für etwas) tragen, einer Sache Rechnung tragen (1721 Bodmer/ Breitinger; L059 DWb), Leid um jmdn. tragen, wobei allerdings auch an die Trauerkleidung gedacht werden kann;
2.7 mit einem das Subjekt belastenden, abstrakten Gegenstand als Objekt: Hitze, Kälte, Beschwerden tragen, sein Schicksal, sein Leid mit Geduld tragen; ferner Einer trage des andern Last (A180 Martin Luther, Galater 6,2), ich will des Herrn Zorn tragen(Luther), weil ich dich liebte, trag' ich den schweren Fluch des Brudermordes (Schiller), wir würden seinen Scherz zu tragen haben (Goethe), Handle du, ich will es tragen (A131 Friedrich Hölderlin, Hyperion 97), auch wie mittragen; anders die Kosten (Unkosten), die Schuld an, die Verantwortung für etwas tragen, wobei die Vorstellung in den Vordergrund tritt, daß die Last auf das Subjekt und auf niemand anders fällt;
2.8 davontragen (mhd. davon, von dannen tragen) ›erhalten, erlangen‹: Schläge, Wunden, den Sieg, Ruhm davontragen;
2.9 in der Musik (L003 Johann Christoph Adelung 1780): die Stimme, die Töne tragen (Lehnbildung nach ital. portare la voce), hauptsächlich im Partizip getragen, auch in bezug auf Deklamation und allgemeiner ›bedeutsam‹: wie kann man bei einem so getragenen gegenstande nur lachen (1897; L059 DWb);
3 reflexiv mit abweichender Beziehung des Objekts zum Verb sich mit etwas tragen, übertragen wiewol er sich alle zeit mit sterbensgedancken getragen (1675; L059 DWb), sich mit Absichten, Plänen tragen. Zu den Präfigierungen bildet man Substantive wie "Antrag", "Austrag", "Betrag", "Eintrag", "Ertrag", "Vertrag", "Vortrag", Übertrag; ferner die Adjektive "einträglich", "erträglich", "verträglich", "zuträglich"; ⇑ "antragen", "austragen", "betragen", "eintragen", "ertragen", "übertragen", "vertragen", "vortragen", "zutragen".
tragbar mhd. tragebære; zu tragen(2.7)
1erträglich‹, so ⇓ "S139" im frühen 20. Jahrhundert Modewort des öffentlichen Lebens: steuern, forderungen, vertragsbedingungen sind nicht tragbar (L059 DWb); vom 17. bis 19. Jahrhundert auch aktiv zu tragen(2.2, 2.3)
2fruchtbar‹; seit 18. Jahrhundert zu tragen(1.1)
3so daß es getragen werden kann‹: postpapier… in meiner tragbaren reisekanzley(Matthisson; L059 DWb), heute häufig im Bereich der Unterhaltungselektronik tragbarer Fernseher, CD-Spieler; auf Kleidung bezogen zu tragen(2.1)
4kleidsam‹;
Tragweite"S125" Lehnübertragung von franz. portée
1Schußweite‹ 1806 durch A075 Johann Wolfgang von Goethe: damit man Ihre Stärke und Tragweite erkenne (Gespräche 2,51);
2 um 1848 ⇓ "S192" Schlagwort (L360 ZDW5,123) ›Bedeutung, Ausmaß‹: politische Tragweite »fast formelhaft« (L059 DWb);
Trage (1402; L059 DWb) ›Gestell zum Tragen‹, speziell ›Liege zum Transport Verletzter und Kranker‹, ↑ "Bahre";
Träger ahd. tragari, mhd. trager, treger; auf Menschen bezogen
1 trager, Der etwas tregt vmb lon (L200 Josua Maaler): der Koffer… ist wohl sehr schwer… Ich will gleich einen Träger schaffen (A177 Gotthold Ephraim Lessing, 2,155); allgemeiner (mhd. ) radmantel… der seinem träger ein edles… aussehen lieh (G.Keller; L059 DWb); auch ›Inhaber‹ (16. Jahrhundert) träger… der höchsten würde der christenheit (L. v.Ranke; L059 DWb); seit dem Frühneuhochdeutschen zu tragen(1.3) übertragen wie "Stütze", "Fundament": träger und verwalter der gerechtigkeit(Gotthelf; L059 DWb); speziell literaturtheoretisch von der den Inhalt oder Ablauf einer Geschichte maßgeblich bestimmenden Person: träger der begebenheiten (Schiller; L059 DWb);
2 auf Gegenstände bezogen
2.1Halter an Kleidungsstücken‹, dazu Trägerkleid, Trägerhemd (vgl. L059 DWb); fachsprachlich speziell
2.2 z. B. im Bauwesen seit dem Frühneuhochdeutschen; in der Biologie von Substanzen etc., dazu Bazillenträger, Krankheitsträger (L320 Trübner). In Zusammensetzungen auf Personen bezogen heute produktives Grundwort mit einem Abstraktum als Bestimmungswort: Ausdrucksträger, Leistungsträger, Funktionsträger, Hoffnungsträger u. a.; B.Carstensen, Neue ›-träger‹-Zusammensetzungen, in: L299 Sprachdienst 29,161ff.
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