Hermann Paul - Deutsches Wörterbuch
Tier
ahd. tior, mhd. tier, gemeingermanisch (got. dius, engl. deer), urverwandt altslaw. duša ›Atem, Seele‹; ursprünglich ›vierfüßige, in der Wildnis lebende Kreatur‹ (noch bei Luther), kollektiv Getier (vereinzelt mhd. ); daneben ⇓ "S025" allgemein Gegensatz "Mensch": wenn ich aufs reich der thiere achtung gebe (Brockes; L059 DWb), zames Tier (L308 Kaspar Stieler), den wilden Thieren vorgeworfen werden(L003 Johann Christoph Adelung 1780), in der Oberschicht der mittelalterlichen Gesellschaft kommt sehr oft das tote Tier… auf den Tisch (N.A048 Norbert Elias, Prozeß I,159); "Maultier" (↑ "Maulesel"), "Kuscheltier" (↑ "kusch"), Plüschtier (↑ "Plüsch"); speziell ⇓ "S100" jägersprachlich ›Hirschkuh‹ (J. L.L078 Johann Leonhard Frisch); auf den Menschen bezogen, zumeist verächtlich zur Bezeichnung von Kreatürlichkeit: er lebt wie ein wildes Thier (L169 Matthias Kramer), dazu ↑ "vertieren"; auch übertragen herablassend Er ist ein gutes Thier »eine gute ehrliche Haut« (L033 Joachim Heinrich Campe), im Gegensatz dazu zum Ausdruck von Achtung großes/ hohes Tierin bedeutender Position‹: ein grosz und vornehm thier zu werden (J.Ch.Günther; L059 DWb). T.Schippan, in: L368 ZPSK 44,1991,93–101.Tierheit (18. Jahrhundert): die Tierheit ist früher und im Grunde mächtiger als die reine Menschheit (I.Kant), jetzt fiel der Tierheit dumpfe Schranke, / und Menschheit trat auf die entwölkte Stirn (A222 Friedrich Schiller, Die Künstler 183), das Menschengeschlecht… in seiner ungeheuchelten Tierheit (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Campagne in Frankreich Nov. 1792);
Tierkreis 1645 Zesen, ⇓ "S071""S122" Lehnbildung nach griech.-lat. zodiacus;
Tierkreiszeichen bei L308 Kaspar Stieler Tierzeichen; die Namen der zwölf Tierkreiszeichen in einem mittelalterlichen lateinischen Merkvers, in deutscher Übersetzung bei Konrad von Megenberg, Die deutsche Sphaera 1462 (Deutsche Texte des Mittelalters, Bd. 23, S. 17, 28; L140 HWDA), zitiert unter ↑ "Waage"; in alphabetischer Reihenfolge ⇑ "Fisch", "Jungfrau", "Krebs", "Löwe", "Schütze", "Skorpion", "Steinbock", "Stier", "Waage", "Wassermann" (↑ "Wasser"), "Widder", "Zwilling";
Tierquälereistrafbares Mißhandeln von Tieren‹ gebucht L033 Joachim Heinrich Campe 1810, im 19. Jahrhundert schon institutionell geprägt: verein gegen thierquälerei (Auerbach; L059 DWb), literarisch ironisiert: »Wenn du wüßtest- was das für eine Tierquälerei istfür mich dieses ewige Donnern von Flugzeugen über unser Dach weg, Tag und Nacht« (U.Becher; L337 WdG), dazu sprichwörtlich Quäle nie ein Tier zum Scherz, Denn es fühlt wie du den Schmerz(F.Frhr.v.Lipperheide, Spruchwörterbuch, 1907); das Nomen agentis
Tierquäler (L033 Joachim Heinrich Campe 1810) abwertend: Der kleine Tierquäler erwächst zu einem harten, grausamen Mann (Jean Paul, Levana oder Erzieh-Lehre; Lipperheide1907);
tierisch (Geiler von Kaisersberg 1514); übertragen auf den Menschen wie viehisch, "bestialisch" (↑ "Bestie"); heute auch abgeblaßt tierischer, verbissener Ernst bzw. ⇓ "S105" jugendsprachlich, adverbial ⇓ "S229"sehrtierisch laut, attributiv auch ⇓ "S060" Entzückungswort: eine tierische Scheibeeine Schallplatte, die gefällt‹ (L106 Helmut Henne, Jugend 73).
Sie können einen Link zu dem Wort setzen

Ansicht: Tier