Hermann Paul - Deutsches Wörterbuch
tief
ahd. tiof, tiuf, mhd. tief, gemeingermanisch (got. diups, engl. deep), urverwandt litauisch dubús;1 mit dem Begriff der Senkrechte: im Meer / da es am tieffesten ist (A180 Martin Luther, Matthäus 18,6), sechs Elen tief (L308 Kaspar Stieler), tiefer Abgrund (L169 Matthias Kramer), tiefes Thal (ebenda), der tiefe, der donnernde Fall (A222 Friedrich Schiller, Braut 1,3), Er ruft stecht tiefer ins Erdreich(A035 Paul Celan, Todesfuge), eine tiefe Wunde (L308 Kaspar Stieler), übertragen vom Liebesleid mines herzen tiefiu wunde (Walther v. d.Vogelweide; L059 DWb), physiognomisch Die Falten und der Kummer / auf meinen Zügen tief (A010 Gottfried Benn, Wie lange noch); tiefer [›hoher‹] Schnee (L169 Matthias Kramer), tiefe Schußel (L308 Kaspar Stieler) im Gegensatz zur flachen, ›weitden hut tief ins gesicht gedrückt(Schiller; L059 DWb), ›niedrigsenket die Fahnen tief (A222 Friedrich Schiller, Fiesko 5,12), die Zweige hängen tief, die Sonne steht schon tief; auf die Bewegung bezogen zum Zeichen von Demut, Trauer: sich vor einem tief neigen (L308 Kaspar Stieler), Bükt euch tief auf den Narrenbühnen der Riesenpalläste (A131 Friedrich Hölderlin, Auf einer Haide geschrieben), die tief gebeugte Witwe (L033 Joachim Heinrich Campe); ⇓ "S216" akustisch gedeutet: tiefe Stimme (L308 Kaspar Stieler), ein Instrument tiefer stimmen (L003 Johann Christoph Adelung 1780), vgl. ↑ "dunkel"; stille Wasser sind tief (↑ "still"); zum Ausdruck von Vollkommenheit Tugend, die tieff ingewurzlet hat (L200 Josua Maaler); ›groß, sehr‹, im Kirchenlied Aus tiefer Not schrei ich zu dir, tief in Schulden stecken (L169 Matthias Kramer), von starken Empfindungen tiefe Demut (L308 Kaspar Stieler), tiefer Schmerz (L003 Johann Christoph Adelung 1780), tief trauren (ebenda), der Vater in tiefer Trauer (A193 Karl Philipp Moritz, Reiser 341), tiefe Verehrung (L033 Joachim Heinrich Campe), tief bewegt, gerührt, erschüttert (ebenda);
2 mit dem Begriff der Waagerechten do riten si von dannen in einen tiefen walt(Nibelungenlied; L059 DWb), Eine sehr tiefe Hole (L308 Kaspar Stieler), tief in das Land (L305 Christoph Ernst Steinbach), tiefe Augen (L308 Kaspar Stieler),
tief in die Augen sehen »forschend.. gleichsam.. ins Herz sehen« (L033 Joachim Heinrich Campe); das Haus ist zwanzig Ellen tief»von der Vorderseite bis zur hintersten Mauer« (L003 Johann Christoph Adelung 1780); zeitlich gedeutet bis in die tiefste Nacht hinein (L169 Matthias Kramer), so auch tiefes Mittelalter, in der tiefen kindheit (Jean Paul; L059 DWb);
3 auf Geistiges bezogen, Gegensatz ⇑ "flach", "oberflächlich": tiefe Weißheit (L169 Matthias Kramer), ein tiefer Verstand (L003 Johann Christoph Adelung 1780), von geistig Unerreichbarem im ausgeführten Bild Warum ist Wahrheit fern und weit? / Birgt sich hinab in tiefste Gründe? (Goethe; Ch.L042 Christa Dill), Wer das Tiefste gedacht, liebt das Lebendigste (A131 Friedrich Hölderlin, Sokrates und Alcibiades), auch allgemeiner tiefen gedanken (Klopstock; L059 DWb), mit tiefem Ernst (A131 Friedrich Hölderlin, Hymne an die Unsterblichkeit), »neuerdings.. besonders beliebt« tief schürfende Forschung, Untersuchung, Rede (L320 Trübner);
das läßt tief blicken»man kann die Gründe, den Charakter durchschauen« (ebenda);
4"S229" zur Bezeichnung eines hohen Grades, optisch gedeutet wie ↑ "satt": tiefe Farben, Schatten (L169 Matthias Kramer), tiefes Blau, Roth (L033 Joachim Heinrich Campe); ›festtieffer… schlaaf (L200 Josua Maaler), Doch meine Mutter schläft nicht tief (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Faust I,3507); tiefer seüffzen (L200 Josua Maaler), tief Athemholen (L305 Christoph Ernst Steinbach); tiefes Stillschweigen (L169 Matthias Kramer), tiefe Stille (L003 Johann Christoph Adelung 1780), als waltete im Reich der tiefste Friede (A222 Friedrich Schiller, Jungfrau 1,1). Bestimmungswort, zumal von Partizipien tiefbewegt, tiefgebeugt, tiefernst (alle L033 Joachim Heinrich Campe), tiefinnen/ tiefinnerst/ tiefinnerlichst (L059 DWb), tiefliegend, tiefliegende augen (Lavater; L059 DWb).
Tiefgang"S196" seemannssprachlich ›Abstand zwischen Wasserspiegel und Kiel‹: die Corvette, die weniger Tiefgang hatte (1853; L162 Friedrich Kluge, Seemannssprache), auch vom Pflug; übertragen zu tief(3): eine Novelle mit Tiefgang;
tiefgründig (1580; L059 DWb); übertragen zu tief(3) tiefgründige speculationen (Fischart; L059 DWb);
tiefsinnig (Ende des 16. Jahrhunderts); zunächst
1schwermütigmit tiefsinniger stirn der todesengel(Klopstock; L059 DWb); daneben zu tief(3)
2 wie tiefgründigklug, wohl durchdachttiefsinnige Wahrheiten (L003 Johann Christoph Adelung 1780), daraus abgeleitet
Tiefsinn (1748 Klopstock; L345 Friedrich Karl Ludwig Weigand/ L345 Herman Hirt);
Tiefmittelniederdt. dep; ursprünglich
1 seemannssprachlich ›Fahrwasser‹: ein schiffbares Tief (J. L.L078 Johann Leonhard Frisch); seit frühem 20. Jahrhundert
2 meteorologisch »barometrisches Minimum« (L345 Friedrich Karl Ludwig Weigand/ L345 Herman Hirt);
3 übertragen
3.1 auf die Gemütsverfassung seelisches Tief;
3.2 wirtschaftlich ›Rezession‹;
Tiefe ahd. tiufi, mhd. tiufe, tiefe; der Bedeutungsentwicklung von tief (s. oben) folgend;
vertiefen (mhd. ), bis ins 17. Jahrhundert besonders mitteldeutsch auch verteufen (↑ "Teufe"); konkret zu tief(1); übertragen zu tief(3) auf Erkenntnis bezogen, häufig seit ca. 1700 adjektivisch im Partizip Perfekt vertieft, ganz vertieft in etwas seyn (L169 Matthias Kramer), [sollte] keiner in andere consilia vertieft seyn (Leibnitz; L059 DWb), mit… vertieften kenntnissen (Herder; ebenda); seit dem 16. Jahrhundert reflexiv ›sich mit etwas intellektuell intensiv beschäftigen‹: In Gedanken sich vertiefen (L308 Kaspar Stieler), bis ins 19. Jahrhundert auch mit Dativ: sich in den Wissenschaften vertiefen (L169 Matthias Kramer), literarisch in der Dativ-Akkusativ-Konstruktion bei A035 Paul Celan: was sich in dein Aug schrieb, / vertieft uns die Tiefe(Das Wort vom Zur-Tiefe-Gehn); auch vom träumerischen Selbstvergessen denn ich hatt in ihren glantz / mich vertieffet also gantz (Logau; L059 DWb); zu tief(4) zum Ausdruck einer Steigerung, auf Farben bezogen ›kräftigen, dunkler machen‹: Die Schatten in einem Gemal vertiefen (L169 Matthias Kramer), so auch in der Musik.
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