Hermann Paul - Deutsches Wörterbuch
Theater
(1531; L081 FWb) < lat. theatrum ( < griech. théatron), bis ins 17. Jahrhundert in lateinisch flektierter Form; zunächst1.1 allgemein ›Bühne‹: Theatrum… ein schauwplatz… wie ein halber zirckel (1531; L081 FWb), theatrum anatomicum, speziell auf den Ort künstlerischer Darbietung bezogen Vorspiel auf dem Theater (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Faust I); übertragen Der Krieg ist… Theatrum vn Schawplatz der Ehren (1617; L081 FWb), theatrum mundiWelttheater‹; dann auch
1.2 auf das Gebäude bezogen: jene Menschenwelle, / Die dort sich zum Theater drängt (A222 Friedrich Schiller, Die Kraniche des Ibycus), der eingang zum theater war gedrängt mit menschen angefüllt(Iffland; L059 DWb); daneben abstrakt
1.3 auf die Institution bezogen, personifizierend Warum schweigen… die alten heiligen Theater? (A131 Friedrich Hölderlin, Brod und Wein), seine Bestimmung zum Theater war ihm nunmehr klar (A075 Johann Wolfgang von Goethe, I,21,46), mit dem Begriff des Scheins Gegensatz "Leben", "Wirklichkeit": Das Theater deuchte ihm eine natürlichere und angemeßnere Welt, als die wirkliche Welt (A193 Karl Philipp Moritz, Reiser 197), Sie haben die Mustervorstellung von der Welt des Theaters (A104 Peter Handke, Publikumsbeschimpfung 21); seit dem 18. Jahrhundert mit dem Begriff der Erkenntnis Auf dem Theater sollen wir… lernen,… was ein jeder Mensch von einem gewissen Charakter unter gewissen gegebenen Umständen thun werde (A177 Gotthold Ephraim Lessing, Hamburgische Dramaturgie 19.St.; 9,260), v. a. der moralischen Belehrung: alles, was zu dem Charakter der Personen gehöret, aus den natürlichen Ursachen entspringen muß… weil das Theater die Schule der moralischen Welt seyn muß (ebenda, 2.St.; 9,188); zugleich mit dem politischen Begriff des Nationalen: das Deutsche Theater auf echt deutschen Boden gegründet werden möge(A075 Johann Wolfgang von Goethe, I,40,90), so auch als Buchtitel Theater der Deutschen (Berlin, Königsberg, Leipzig 1766ff.), im Kompositum Nationaltheater: den Deutschen ein Nationaltheater zu verschaffen (A177 Gotthold Ephraim Lessing, Hamburgische Dramaturgie 101.-104.St.; 10,213); seit den 1920er Jahren im Gegensatz zum aristotelischen Theater der Brechtsche Begriff Episches Theater: Theater besteht darin, daß lebende Abbildungen von überlieferten oder erdachten Geschehnissen zwischen Menschen hergestellt werden, und zwar zur Unterhaltung (B.A024 Bertolt Brecht, Organon; 16,663), zugleich: Der Zuschauer des epischen Theaters sagt… Das ist die große Kunst: da ist nichts selbstverständlich (B.A024 Bertolt Brecht, Vergnügungstheater; 15,265); seit den 1960er Jahren absurdes Theater, auch Theater des Absurden(Lehnübersetzung von Theatre of the Absurd 1961 M.Esslin) im Englischen Unwillen ausdrückender Zwischenruf im Parlament, im Deutschen eher absurdes Theater!, mit Ionesco und Beckett verbundene Stilrichtung im Drama; politisierend polarisiert: Das bürgerliche Theater… war überhaupt nicht reaktionsfähig. Die Diskussion über Straßentheater setzte ein (B.A256 Botho Strauß, Versuch, ästhetische und politische Ereignisse zusammenzudenken [1987], 54); heute aus der Sicht eines Dramatikers Theater. Der letzte unserer magischen Versuche, die Angst uns auszutreiben (B.A249 Botho Strauß, Kalldewey 73); als Personalkollektivum ›Gesamtheit der am Theater Arbeitenden‹; dann auch
1.4 auf die Aufführung bezogen: der Dialog auf dem Theater bekam mehr Reiz für ihn, als der immerwährende Monolog auf der Kanzel (A193 Karl Philipp Moritz, Reiser 197); kollektivierend
1.5SchauspielkunstEr dachte von nun an keinen andern Gedanken mehr, als das Theater, und schien nun für alle seine Aussichten und Hoffnungen im Leben gänzlich verloren zu sein (A193 Karl Philipp Moritz, Reiser 220), In Zadeks Theater ist… der Schauspieler aufs neue König (B.A256 Botho Strauß, Ein Stück ist ein System, in: Versuch, ästhetische und politische Ereignisse zusammenzudenken [1987], 122); seit frühem 20. Jahrhundert umgangssprachlich übertragen
2übertriebene Handlungsweisen, Reaktionen‹, im Kompositum wohl schon bei A163 Adolf Freiherr von Knigge vorbereitet: Bei Sterbebetten, Geburtsfesten… enthalte Dich aller… prunkvollen Deklamationen und Theaterszenen (3Umgang 278), zynisch im Ghetto gehen… jeden Tag viele Menschen verloren… wenn man bei jedem einzelnen so ein Theater machte (J.A006 Jurek Becker, Lügner 170); daneben auch mit dem Begriff des Unechten, Scheins: [er]schämte sich… seines Theaters… Das sollte er doch nicht nötig haben (1926; L081 FWb).
Theatercoup (L243 Friedrich Erdmann Petri 61834) ⇓ "S040""S124" Lehnübersetzung < franz. coup de théâtre (so bei A177 Gotthold Ephraim Lessing, Hamburgische Dramaturgie 39.St.; 9,347), dafür zuvor Theaterstreich, Theaterspiel (Lessing; L059 DWb); übertragen ›überraschende Wendung‹;
Theaterdonner (L097 GWb) ›Schaumschlägerei, großartige Ankündigung von Unbedeutendem‹;
theatralisch (1732 Gottsched; L081 FWb) < lat. theatralis; bildet der theatralische Dichter Menschen (1750; L081 FWb), als Titel Wilhelm Meisters theatralische Sendung(A075 Johann Wolfgang von Goethe, I,51); zumeist übertragen ›gespielt, gekünstelt‹: Er hatte sich auf eine theatralische Szene gefaßt gemacht… Er wollte… M… zu Füßen fallen (A193 Karl Philipp Moritz, Reiser 240); mit beiden Bedeutungen spielt Handke: Hier werden die Möglichkeiten des Theaters nicht genutzt… Das Theater wird gefesselt… Wir sind nicht theatralisch (A104 Peter Handke, Publikumsbeschimpfung 20).
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