Hermann Paul - Deutsches Wörterbuch
Stimme
gemeingermanisch (ahd. stimna, mhd. stimme, got. stibna);1 auf die Lauterzeugung von Mensch und Tier bezogen: do erhubent sie die stimme gar(mhd. ; L059 DWb), Jch bin eine stimme eines Predigers in der Wüsten (A180 Martin Luther, Johannes 1,23), mit tonloser Stimme (G.Keller; L059 DWb), auf die Art der Wahrnehmung bezogen Stimmen… / Wie aus voriger Zeit hör' ich (A131 Friedrich Hölderlin, Der Abschied, 2,25); seit späterem 19. Jahrhundert speziell in der Phonetik stimme… sprachlaut, bei dem… die stimmbänder schwingen (1932; L059 DWb); übertragen auf den Inhalt des Angesprochenen bezogen: di gemayne… maynüng… ain stymm der natür (1535; L059 DWb), das wort und die stimme gottes (Luther; L059 DWb),
⊚⊚ die innere Stimme, die Stimme des Blutes (L003 Johann Christoph Adelung 1775), als Titel der 2. Auflage von Herders Volksliedsammlung Stimmen der Völker in Liedern; seit dem Althochdeutschen speziell
2.1 in der ⇓ "S141" Musik: die niderst stimm, der basz (1556; L059 DWb), die Stimme verlieren (L169 Matthias Kramer), im Diminutiv auch »spottisch von einer schlechten Stimme« (L033 Joachim Heinrich Campe); seit dem 16. Jahrhundert ›Partie‹: mit allen Stimmen singen (L169 Matthias Kramer); auch auf Instrumente bezogen: trumbun mit mihileru [›großer‹] stemmu (Tatian 145,19); politisch
2.2Votum‹ seit 1325 (L059 DWb): stimm und gunst so man eim in einer erwellung gibt (1556; L059 DWb), mit Possessivpronomen gabe mir sein Stimm (L200 Josua Maaler), mit haben zur Bezeichnung des Rechts: wer im concili stymm hat (Berthold von Chiemsee; L059 DWb), mit beratender stimme (1875 Bankgesetz; L059 DWb), Hier spricht der unterrichtete Mann, der, wo nicht eine entscheidende, doch eine mitzählende Stimme hat (A222 Friedrich Schiller an Goethe 7.9.94); seit dem 18. Jahrhundert abgeblaßt
2.3 im Sinn einer Meinungsäußerung Sechs Stimmen waren für, und sechs wider die Sache (L003 Johann Christoph Adelung 1775), Stimmen aus dem Publikum, z. B. bei Zeitungen »Zuschriften aus dem Leserkreis« (L320 Trübner). Zu Stimme(2.2)
Stimmenmehrheit (1774 A279 Christoph Martin Wieland, Geschichte der Abderiten, 4,8,69) ⇓ "S125" Lehnübertragung von lat. vota maiora;
Stimmvieh (1857) ⇓ "S124" Lehnübersetzung von amerik. voting cattle (L181 Otto Ladendorf 303) ›zum Zweck der Mehrheitsbeschaffung ausgenutzter politischer Anhänger‹;
stimmen (mhd. ); zunächst, literarisch bis ins 19. Jahrhundert
1die Stimme ertönen lassen‹: des Mäoniden Harfe stimmt voran (Schiller), du stimmst in meine lange Klage(Gleim) (↑ "einstimmen"), stimmen zu der Andacht Chor (von der Glocke) (Schiller); mit Akkusativ des Inhalts: Leander stimmet süße Töne(Hagedorn), Trommelwirbel, Pfeifenklang stimmen schon Triumphgesang (Schiller); erhalten in ↑ "anstimmen"; daneben
2den richtigen Klang im Verhältnis zu anderen geben‹: mit einer neuen Saite, die weder stimmt noch hält (Lessing), die Violine stimmt nicht zur Trompete (L003 Johann Christoph Adelung 1775); übertragen ›nicht in Widerspruch stehen‹: wie stimmt Christus mit Belial?(Luther), nicht ins Ganze stimmen (Goethe), allgemein zu etwas stimmen; absolut, indem das, womit kein Widerspruch besteht, als selbstverständlich vorausgesetzt wird: die Summe, die Rechnung stimmt auf Geld bezogen: Na, stimmt et nu? (G.A111 Gerhart Hauptmann, Biberpelz 2,190); ›wahr seines/ das stimmt, in direkter Rede häufig elliptisch: stimmt, sagte er (1935; L059 DWb); dazu zusammenstimmen, ↑ "übereinstimmen"; seit dem 16. Jahrhundert zu Stimme(1.1)
3"S141"ein musikalisches Instrument auf eine bestimmte, insbesondere die richtige Tonhöhe bringen‹; übertragen Tönt… / Der Wolken heitere Stimmung gut / Gestimmt vom Daseyn Gottes, dem Gewitter (A131 Friedrich Hölderlin, Griechenland, 2.Fassung; 2,256), wenn dieser falsche Ton in einem Herzen klingt, wo ist der Künstler, der es stimmen könnte? (Goethe), daß es ihr gelang, mich zuletzt auf ebendenselben Ton zu stimmen (Wieland); daher seit dem 18. Jahrhundert ›in eine Gemütslage versetzen‹: jmdn. zu etwas stimmen, im Partizip Perfekt zu etwas gestimmt sein, jmdn. froh, traurig, ernst, weich, zur Freude, für oder gegen jmdn. stimmen; dazu umstimmen, mißstimmen (↑ "Mißstimmung"), ⇑ "verstimmen", "bestimmen"; seit dem 16. Jahrhundert zu Stimme(1.2)
4seine Stimme zu einem Beschluß abgeben‹: für, wider etwas stimmen (seit 19. Jahrhundert), bis ins 19. Jahrhundert mit auf, in: sie stimmen alle in diesen Schluß (Schiller) ↑ "abstimmen", überstimmen, zustimmen;
stimmig (L037 Petrus Dasypodius), anfangs zu stimmen(1); seit späterem 17. Jahrhundert zu stimmen(2) auf den richtigen Zusammenklang bezogen: wan die… Reimworter nicht… zur rechten Reimung stimmig seyn (L284 Justus Georg Schottelius 1663,982); als Simplex nicht mehr bei L305 Christoph Ernst Steinbach und bis L320 Trübner nur mit dem Zusatz »nur noch in Zusammensetzungen« verbucht; heute übertragen ›passend, logisch‹: eine stimmige Darlegung; dazu ↑ "einstimmig", mehrstimmig, unstimmig;
Stimmung (1468; L320 Trübner) frühnhd. wie "Bestimmung"; dann zu stimmen(3)
1 zunächst als Tätigkeitsbezeichnung stymmung des discantes (1529; L059 DWb); seit Ende des 17. Jahrhunderts als Zustandsbezeichnung eine orgel nach… stimmung oder temperatur… zu erbauen (1690; L059 DWb), so noch heute; übertragen
2Gemütslage‹ (1771; L320 Trübner), Gegensatz "Reflexion": es ist mir oft schwer zu muth, und ich habe nicht recht gewalt über diese stimmung (B. v.Arnim; L059 DWb), fest in der Verbindung
in Stimmung sein, ohne Zusatz ›fröhlich, ausgelassen‹, negiert ›lustlos‹: Setz dich nicht auf meinen Schoß, ich bin jetzt nicht in Stimmung (B.A025 Bertolt Brecht, Dreigroschenoper; 2,434), mit habenim Plural zur Bezeichnung des Schwankenden man hat allerdings stimmungen(1851ff.; L059 DWb), dazu ↑ "Mißstimmung"; speziell auf künstlerisches Schaffen bezogen Ich bekam Lust, das religiose Buch meines Romans auszuarbeiten und… so gehörte mehr Stimmung und Sammlung dazu als… zu einem andern Teile(A075 Johann Wolfgang von Goethe an Schiller 18.3.95); speziell
2.1Einstellung, Haltungeine höchst gefährliche stimmung (H. v.Kleist; L059 DWb), die parteien suchten stimmung zu machen (W. v.Polenz; L059 DWb);
2.2atmosphärische Wirkung eines KunstwerksZauberei, welche der Maler ausübt, der seinem Bilde eine gewisse Stimmung zu geben versteht (Goethe; L320 Trübner).
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