Hermann Paul - Deutsches Wörterbuch
sprechen
In den westgermanischen Sprachen verbreitetes starkes Verb; auch mit Formen ohne r, vgl. engl. to speak; schwed./ norweg. spraka ›knistern, prasseln‹. Ahd. spreh(h)an, mhd. sprechen ⇑ "Sprache", "Spruch", "Sprichwort", "Gespräch". Die Geschichte von sprechen berührt sich vielfach mit der von ↑ "reden" und ↑ "sagen";1.1 der Bezug zum Hörer wird
1.1.1 für den Fall des Wechselgesprächs schon althochdeutsch durch die Präposition mit hergestellt, heute in den festen Fügungen miteinander sprechen, mit jmdm. über etwas sprechen;
1.1.2 bei einseitig gerichteter Mitteilung durch zu(siehe auch [1.3.1]): der Chefarzt… über den Verlauf der Operation zu dir sprach (Ch.A286 Christa Wolf, Störfall 79);
1.1.3 für die einseitig gerichtete Mitteilung in meist formeller Situation, früher z. B. der Audienz, heute des Vortrags, gilt vor(Luther usw.), vor einem Publikum sprechen. Von anderen Präpositionen begegnet gegen noch bei Mörike (L059 DWb), heute auch zu: zu einem Tagesordnungspunkt sprechen;
1.1.4 Gebrauch des Akkusativs der Person (nicht bei redenund sagen) impliziert, daß der Gesprächspartner eigens bestellt oder aufgesucht wird (vgl. "Sprechstunde"); häufiger erst im Mittelhochdeutschen (L239 PBB41,501ff.): Kriemhilt diu vrouwe si [die Boten] sunder sprechen began (Nibelungenlied 1349,4), zunehmend in formellem Rahmen: den Arzt, den Chef sprechen wollen; für niemanden zu sprechen sein. Auch passivisch: Ist der König zu sprechen? (A222 Friedrich Schiller, Karlos 4,17). Hier anzuschließen die Drohung
⊚ Wir sprechen uns noch! (vgl. L033 Joachim Heinrich Campe). Bei
⊚ nicht gut auf [L033 Joachim Heinrich Campe 1810 noch über] jmdn. zu sprechen sein ›über jmdn. verärgert sein, jmdn. nicht mögen‹ (18. Jahrhundert; L059 DWb) ist auszugehen von nicht gut zu sprechen sein ›nicht gut gelaunt sein‹, bezogen auf die Audienz beim Fürsten;
1.1.5 die Konstruktion mit Dativ der Person (wohl nach franz. parler, seit dem 17. Jahrhundert, Wir haben ihm ein Wort zu sprechen1658 Schoch, Comoedia vom Studentenleben 3,4), gewöhnlich mit Anschluß des Redegegenstandes mit von, blieb im wesentlichen auf poetischen Gebrauch beschränkt: Jedoch ihr von Liebe zu sprechen / Wär' ihm unmöglich gewesen (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Hermann und Dorothea 7,50); als Abelone mir von Mamans Jugend sprach (A215 Rainer Maria Rilke, Aufzeichnungen 844), heute selten und zum Ausdruck von Emphase, Enthusiasmus, Fräulein Bommeslein aber sprach ihren Kollegen begeistert von den Erfolgen ihres neuen Systems (H.A151 Hermann Kant, Aula 85).
1.1.6 intransitiv in der Frage Sprechen Sie noch? beim Telefonieren;
1.2 die Bezugnahme auf den Redegegenstand schließt die Redewiedergabe bzw. die Angabe der Äußerungseinheit (siehe [1.3.1/ 2]) im allgemeinen aus;
1.2.1 schon althochdeutsch sprechen von, noch mittelhochdeutsch auch umb, wir sprachen gerade von dir. Bei gleichzeitiger Bezugnahme auf den Hörer durch zu oder mit ist von eher ungewöhnlich, Er sprach mit Mutter Hentjen von dem freien Amerika und von dem Verkauf der Wirtschaft und von der Heirat wie mit einem Kinde (A028 Hermann Broch, Esch oder die Anarchie, 41986,380 [zuerst 1931]); Die Sattgefressenen sprechen zu den Hungernden / Von den großen Zeiten, die kommen werden (B.A024 Bertolt Brecht, Kriegsfibel);
1.2.2 seit dem 18. Jahrhundert sprechen über üblich (vgl. L033 Joachim Heinrich Campe gegen L004 Johann Christoph Adelung), v. a. bezogen auf die Erörterung eines Themas in Wechselrede (s. [1.1.1]): Ich sprach gestern mit dem Fabrikanten über Ihren Fall (A147 Franz Kafka, Proceß 178). In der Verbindung auf etwas/ jmdn. zu sprechen kommen (Th.A183 Thomas Mann, Zauberberg 463) gehört aufzu kommen;
1.3.1 im älteren Deutsch, so in der Lutherbibel, dient sprechen der Ein- bzw. Ausleitung direkter Rede, auch in Verbindungen wie die jungen… redeten mit jm, und sprachen; Jhesus antwortet und sprach zu jm (L059 DWb). Noch bei H.v.A160 Heinrich von Kleist steht sprechen auch vor indirekter Rede bzw. vor einem daß-Satz (Zerbrochener Krug, Szenen 2 und 7). In dieser Funktion neuhochdeutsch zunehmend durch "sagen" ersetzt und heute altertümelnd;
1.3.2 Bezeichnungen sprachlicher Äußerungseinheiten bzw. fester Formeln oder Texte treten in älterem Deutsch häufig als direktes Objekt zu sprechen, außer Wort (wie heute) z. B. auch Gruß, Fluch, Frage, aber auch sie [kinderreiche Eltern] sprechen den Spruch… : Ich würde mir keine Sorgen machen (A018 Heinrich Böll, Irisches Tagebuch; 3,86). Daher
⊚⊚ in Rätseln sprechen [älter Rätsel]; ein Machtwort sprechen; das spricht Bände (»jung« nach L320 Trübner). Im kirchlichen Bereich besser erhalten: Gebet, Segen, das Vaterunser sprechen, wie auch im juristischen (siehe [2]), Urteil, Eid (früher auch Lüge, Wahrheit) sprechen;
1.3.3 Ausdrücke im Akkusativ, die das Gesprochene inhaltlich stärker charakterisieren (siehe "reden", "sagen") im modernen Deutsch seltener bzw. nur in Phraseologismen erhalten: es sprachen trost, die um mein bette sassen (Claudius; L059 DWb); so spricht des stückes ganzer ton / zu sehr dem gegenstande hohn (Seume; L059 DWb);
1.3.4 Verbindungen wie Moral, Vernunft, Sentenzen sprechen in der Literatur des 18. Jahrhunderts (L059 DWb) stehen unter französischem Einfluß (parler raison usw.);
1.3.5 ›(einen Text) (ausdrucksvoll) vortragen, rezitieren‹ schon mittelhochdeutsch, Freidanks Epitaph: hye leit Freidanck… der alweg sprach und nie sanck (L059 DWb); Ich habe das Gedicht »Jugend« gesprochen, damit es als Anschauungsunterricht einem Beitrag zur Sprachlehre diene (K.A168 Karl Kraus; 2,214), eine Rolle, die Sendung, die Nachrichten, den Kommentar sprechen;
1.3.6 Sprachenbezeichnungen werden im Mittelhochdeutschen adverbial angeschlossen (L059 DWb), neuhochdeutsch auch als direktes Objekt ›(eine Sprache) beherrschen, können‹ Seine Muttersprache wenigstens sollte jeder gebildete Mensch rein und richtig sprechen (L033 Joachim Heinrich Campe); All ihr andern, ihr sprecht nur ein Kauderwelsch. Unter den Flüssen / Deutschlands rede nur ich, und auch in Meißen nur, Deutsch (A222 Friedrich Schiller, Xenien, Elbe; 1,322), das Kind lernt sprechen; fließend deutsch sprechen; mehrere Fremdsprachen sprechen (1.3.6);
1.4 wird sprechen mit unpersönlichem Subjekt gebraucht (siehe auch [2.2.3]), ist die eigentliche Sprechtätigkeit oft mit ausgedrückt oder mitgemeint: was für redner sind wir nicht, / wenn der Rheinwein aus uns spricht! (Lessing; L059 DWb); Warum kann der lebendige Geist dem Geist nicht erscheinen! / Spricht die Seele so spricht ach! schon die Seele nicht mehr (A222 Friedrich Schiller, Tabulae Votivae, Sprache; 1,302); auch gern für die Mitteilung durch Mimik, Gestik u.dgl.: Sein Auge spricht's, wenn es sein Mund nicht sagt (A222 Friedrich Schiller, Phädra 2,1); aus diesen zügen spricht kein herz (L059 DWb); im Zusammenhang mit nicht-zeichenhafter Mitteilung: ob sie [die Tonkunst] zwar durch lauter Empfindungen ohne Begriffe spricht (I.A152 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft 2,1,2, §53);
1.5 auf den phonetischen bzw. medialen Aspekt des Äußerungsaktes bezogen: mit verstellter Stimme sprechen; gesprochene und geschriebene Sprache;
2 eine besondere Entwicklung in der ⇓ "S181" Rechtssprache; nach der althochdeutschen Verbindung Recht sprechen noch im 18. Jahrhundert
2.1.1 ›Recht sprechen, urteilen, bestimmen‹: umsonst, dasz wir, die richter, nach gewissen sprachen!(Schiller; L059 DWb). Auch freier: sprich dem Nazaräer den tod!(Klopstock; L059 DWb); ins Zuchthaus spricht dich deine vermessene Meinung (A222 Friedrich Schiller, Kabale und Liebe 2,6);
2.1.2 dazu im Frühneuhochdeutschen ›erklären für‹ in Konstruktionen mit adjektivischer Ergänzung, wie jmdn. los, ledig, frei, mündig, schuldig sprechen. Entsprechend im kirchlichen Bereich jmdn. heilig (↑ "Heiligsprechung"), selig sprechen; wenn ihn sein gewissen rein gesprochen hat (Schiller; L059 DWb). Verbindungen dieser Art sind heute seltener und stärker lexikalisiert (Zusammenschreibung freisprechen usw.);
2.2.1 von der Tätigkeit des Anwalts her für jmdn. sprechen ›jmds. Sache vertreten‹, frühneuhochdeutsch auch ›für jmdn. Bürgschaft leisten‹. Dann auch mit unpersönlichem Subjekt (L004 Johann Christoph Adelung) und übertragen, Das spricht zu seinen Gunsten (A082 Christian Dietrich Grabbe, Scherz 1,3); Die Liebe ist stumm, nur die Poesie kann für sie sprechen (A202 Novalis, Ofterdingen 287), für die [›im Namen der‹] Partei sprechen. Umgekehrt gegen jmdn. sprechen: Ihr seid ja die korrupte Bande, gegen die ich sprach (A147 Franz Kafka, Proceß 63);
2.2.2 für/ gegen etwas sprechen ›etwas befürworten‹/ ›sich gegen etwas aussprechen‹: für/ gegen einen Antrag sprechen ("Fürsprache", "Widerspruch"). Ungewöhnlich konstruiert bei A075 Johann Wolfgang von Goethe: und alle die Sache, / Wie man sie für und wider gesprochen (Reineke Fuchs X 421).
⊚ (das) spricht für sich selbst ›ist klar, bedarf keines Kommentars‹;
2.2.3 über Verbindungen wie Umstände, Gründe, Vermutungen sprechen für/ gegen etwas, die Indizien sprechen für/ gegen seine Unschuld, das Kleid spricht für ihren guten Geschmack, alles spricht dafür, daß es klappt ist sprechen für/ gegen inzwischen so weit entwickelt, daß es die Relation ›wahrscheinlich sein lassen, schließen lassen auf‹ zwischen abstrakten Sachverhalten ausdrücken kann, [das Geräusch] wandelte sich ab, es war niemals genau dasselbe. Aber gerade das sprach für seine Gesetzmäßigkeit (A215 Rainer Maria Rilke, Aufzeichnungen 872). Oft synonym mit "reden", umgangssprachlich auch ↑ "babbeln" und ↑ "schnacken", besonders mundartlich schwätzen (↑ "schwatzen"), vgl. L066 Jürgen Eichhoff, Karte 3–7. ⇓ "S237" ⇑ "absprechen", "ansprechen", "aussprechen", "besprechen", "einsprechen", "entsprechen", "versprechen", "vorsprechen", "widersprechen", "zusprechen". Literatur: W.Z.Shetter/ F.W.Blaisdall, Altsächs. mahlian und die Verben des Sprechens und Sagens, in: L360 ZDW18,129ff.; H.Dupuy-Engelhardt, reden, sagen, sprechen, in: Recherches Linguistiques. Articles offerts à M.Philipp. Réunis par H.Dupuy u. a.,1982,95ff.
Sprechakt vereinzelt, neben Sprechen, Übersetzung von parole in L274 Ferdinand de Saussure, Grundfragen 22, insofern sekundär für den »eigentlichen« Bereich der ⇓ "S208" Sprachwissenschaft (der langue); eine Neubewertung bei J.L.Austin und J.R.Searle, dessen speech act im Deutschen durch Sprechakt wiedergegeben wird: Die Grundeinheit der sprachlichen Kommunikation ist… die Produktion… des Symbols oder Wortes oder Satzes im Vollzug des Sprechaktes (J.R.Searle, Sprechakte, 1971,30);
Sprechakttheorie D.Wunderlich, Studien zur Sprechakttheorie, 1976;
Sprechart »die Art und Weise, wie man spricht, bes. in Rücksicht auf die Würde der Wörter«, Die anständige, die niedrige, die gemeine Sprechart (L004 Johann Christoph Adelung), in der älteren Sprachwissenschaft (z. B. L164 Friedrich Kluge) auch wie "Sondersprache";
Sprechstunde 19. Jahrhundert: [der] Arzt hat zwar seine Sprechstunde, hält sie aber… nicht regelmäßig ein (1854 A263 Heinrich von Treitschke, Briefe 1,216). Ableitungen zu sprechen z. T. nur in Zusammensetzungen, so
-sprechung in "Heiligsprechung", Seligsprechung,
-sprecherei in Großsprecherei;
Spreche Fem. (L033 Joachim Heinrich Campe) umgangssprachlich »das Sprechen in Ansehung der Art und Weise« (ebenda), Gegensatz "Schreibe";
Sprecher ahd. sprechhari, mhd. sprechære; allgemein ›der spricht‹, wie "Redner" näher bestimmt: ich bin kein grosser sprecher(Wieland; L059 DWb); kommunikativ gedeutet Gegensatz "Hörer": der Laut ist ein mediales Phänomen, ein Mittler zwischen Sprecher und Hörer (L028 Karl Bühler, Sprachtheorie 30); seit dem Mittelhochdeutschen speziell auch ›gewählter Wortführer einer Gruppe‹: Piccolomini soll unser Sprecher sein (A222 Friedrich Schiller, Wallensteins Lager 11), Fürsprecher; als Berufsbezeichnung seit früherem 20. Jahrhundert in Rundfunk und Fernsehen; die ⇓ "S140" movierte Form
Sprecherin (L308 Kaspar Stieler) entsprechend.
1.1.1 für den Fall des Wechselgesprächs schon althochdeutsch durch die Präposition mit hergestellt, heute in den festen Fügungen miteinander sprechen, mit jmdm. über etwas sprechen;
1.1.2 bei einseitig gerichteter Mitteilung durch zu(siehe auch [1.3.1]): der Chefarzt… über den Verlauf der Operation zu dir sprach (Ch.A286 Christa Wolf, Störfall 79);
1.1.3 für die einseitig gerichtete Mitteilung in meist formeller Situation, früher z. B. der Audienz, heute des Vortrags, gilt vor(Luther usw.), vor einem Publikum sprechen. Von anderen Präpositionen begegnet gegen noch bei Mörike (L059 DWb), heute auch zu: zu einem Tagesordnungspunkt sprechen;
1.1.4 Gebrauch des Akkusativs der Person (nicht bei redenund sagen) impliziert, daß der Gesprächspartner eigens bestellt oder aufgesucht wird (vgl. "Sprechstunde"); häufiger erst im Mittelhochdeutschen (L239 PBB41,501ff.): Kriemhilt diu vrouwe si [die Boten] sunder sprechen began (Nibelungenlied 1349,4), zunehmend in formellem Rahmen: den Arzt, den Chef sprechen wollen; für niemanden zu sprechen sein. Auch passivisch: Ist der König zu sprechen? (A222 Friedrich Schiller, Karlos 4,17). Hier anzuschließen die Drohung
⊚ Wir sprechen uns noch! (vgl. L033 Joachim Heinrich Campe). Bei
⊚ nicht gut auf [L033 Joachim Heinrich Campe 1810 noch über] jmdn. zu sprechen sein ›über jmdn. verärgert sein, jmdn. nicht mögen‹ (18. Jahrhundert; L059 DWb) ist auszugehen von nicht gut zu sprechen sein ›nicht gut gelaunt sein‹, bezogen auf die Audienz beim Fürsten;
1.1.5 die Konstruktion mit Dativ der Person (wohl nach franz. parler, seit dem 17. Jahrhundert, Wir haben ihm ein Wort zu sprechen1658 Schoch, Comoedia vom Studentenleben 3,4), gewöhnlich mit Anschluß des Redegegenstandes mit von, blieb im wesentlichen auf poetischen Gebrauch beschränkt: Jedoch ihr von Liebe zu sprechen / Wär' ihm unmöglich gewesen (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Hermann und Dorothea 7,50); als Abelone mir von Mamans Jugend sprach (A215 Rainer Maria Rilke, Aufzeichnungen 844), heute selten und zum Ausdruck von Emphase, Enthusiasmus, Fräulein Bommeslein aber sprach ihren Kollegen begeistert von den Erfolgen ihres neuen Systems (H.A151 Hermann Kant, Aula 85).
1.1.6 intransitiv in der Frage Sprechen Sie noch? beim Telefonieren;
1.2 die Bezugnahme auf den Redegegenstand schließt die Redewiedergabe bzw. die Angabe der Äußerungseinheit (siehe [1.3.1/ 2]) im allgemeinen aus;
1.2.1 schon althochdeutsch sprechen von, noch mittelhochdeutsch auch umb, wir sprachen gerade von dir. Bei gleichzeitiger Bezugnahme auf den Hörer durch zu oder mit ist von eher ungewöhnlich, Er sprach mit Mutter Hentjen von dem freien Amerika und von dem Verkauf der Wirtschaft und von der Heirat wie mit einem Kinde (A028 Hermann Broch, Esch oder die Anarchie, 41986,380 [zuerst 1931]); Die Sattgefressenen sprechen zu den Hungernden / Von den großen Zeiten, die kommen werden (B.A024 Bertolt Brecht, Kriegsfibel);
1.2.2 seit dem 18. Jahrhundert sprechen über üblich (vgl. L033 Joachim Heinrich Campe gegen L004 Johann Christoph Adelung), v. a. bezogen auf die Erörterung eines Themas in Wechselrede (s. [1.1.1]): Ich sprach gestern mit dem Fabrikanten über Ihren Fall (A147 Franz Kafka, Proceß 178). In der Verbindung auf etwas/ jmdn. zu sprechen kommen (Th.A183 Thomas Mann, Zauberberg 463) gehört aufzu kommen;
1.3.1 im älteren Deutsch, so in der Lutherbibel, dient sprechen der Ein- bzw. Ausleitung direkter Rede, auch in Verbindungen wie die jungen… redeten mit jm, und sprachen; Jhesus antwortet und sprach zu jm (L059 DWb). Noch bei H.v.A160 Heinrich von Kleist steht sprechen auch vor indirekter Rede bzw. vor einem daß-Satz (Zerbrochener Krug, Szenen 2 und 7). In dieser Funktion neuhochdeutsch zunehmend durch "sagen" ersetzt und heute altertümelnd;
1.3.2 Bezeichnungen sprachlicher Äußerungseinheiten bzw. fester Formeln oder Texte treten in älterem Deutsch häufig als direktes Objekt zu sprechen, außer Wort (wie heute) z. B. auch Gruß, Fluch, Frage, aber auch sie [kinderreiche Eltern] sprechen den Spruch… : Ich würde mir keine Sorgen machen (A018 Heinrich Böll, Irisches Tagebuch; 3,86). Daher
⊚⊚ in Rätseln sprechen [älter Rätsel]; ein Machtwort sprechen; das spricht Bände (»jung« nach L320 Trübner). Im kirchlichen Bereich besser erhalten: Gebet, Segen, das Vaterunser sprechen, wie auch im juristischen (siehe [2]), Urteil, Eid (früher auch Lüge, Wahrheit) sprechen;
1.3.3 Ausdrücke im Akkusativ, die das Gesprochene inhaltlich stärker charakterisieren (siehe "reden", "sagen") im modernen Deutsch seltener bzw. nur in Phraseologismen erhalten: es sprachen trost, die um mein bette sassen (Claudius; L059 DWb); so spricht des stückes ganzer ton / zu sehr dem gegenstande hohn (Seume; L059 DWb);
1.3.4 Verbindungen wie Moral, Vernunft, Sentenzen sprechen in der Literatur des 18. Jahrhunderts (L059 DWb) stehen unter französischem Einfluß (parler raison usw.);
1.3.5 ›(einen Text) (ausdrucksvoll) vortragen, rezitieren‹ schon mittelhochdeutsch, Freidanks Epitaph: hye leit Freidanck… der alweg sprach und nie sanck (L059 DWb); Ich habe das Gedicht »Jugend« gesprochen, damit es als Anschauungsunterricht einem Beitrag zur Sprachlehre diene (K.A168 Karl Kraus; 2,214), eine Rolle, die Sendung, die Nachrichten, den Kommentar sprechen;
1.3.6 Sprachenbezeichnungen werden im Mittelhochdeutschen adverbial angeschlossen (L059 DWb), neuhochdeutsch auch als direktes Objekt ›(eine Sprache) beherrschen, können‹ Seine Muttersprache wenigstens sollte jeder gebildete Mensch rein und richtig sprechen (L033 Joachim Heinrich Campe); All ihr andern, ihr sprecht nur ein Kauderwelsch. Unter den Flüssen / Deutschlands rede nur ich, und auch in Meißen nur, Deutsch (A222 Friedrich Schiller, Xenien, Elbe; 1,322), das Kind lernt sprechen; fließend deutsch sprechen; mehrere Fremdsprachen sprechen (1.3.6);
1.4 wird sprechen mit unpersönlichem Subjekt gebraucht (siehe auch [2.2.3]), ist die eigentliche Sprechtätigkeit oft mit ausgedrückt oder mitgemeint: was für redner sind wir nicht, / wenn der Rheinwein aus uns spricht! (Lessing; L059 DWb); Warum kann der lebendige Geist dem Geist nicht erscheinen! / Spricht die Seele so spricht ach! schon die Seele nicht mehr (A222 Friedrich Schiller, Tabulae Votivae, Sprache; 1,302); auch gern für die Mitteilung durch Mimik, Gestik u.dgl.: Sein Auge spricht's, wenn es sein Mund nicht sagt (A222 Friedrich Schiller, Phädra 2,1); aus diesen zügen spricht kein herz (L059 DWb); im Zusammenhang mit nicht-zeichenhafter Mitteilung: ob sie [die Tonkunst] zwar durch lauter Empfindungen ohne Begriffe spricht (I.A152 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft 2,1,2, §53);
1.5 auf den phonetischen bzw. medialen Aspekt des Äußerungsaktes bezogen: mit verstellter Stimme sprechen; gesprochene und geschriebene Sprache;
2 eine besondere Entwicklung in der ⇓ "S181" Rechtssprache; nach der althochdeutschen Verbindung Recht sprechen noch im 18. Jahrhundert
2.1.1 ›Recht sprechen, urteilen, bestimmen‹: umsonst, dasz wir, die richter, nach gewissen sprachen!(Schiller; L059 DWb). Auch freier: sprich dem Nazaräer den tod!(Klopstock; L059 DWb); ins Zuchthaus spricht dich deine vermessene Meinung (A222 Friedrich Schiller, Kabale und Liebe 2,6);
2.1.2 dazu im Frühneuhochdeutschen ›erklären für‹ in Konstruktionen mit adjektivischer Ergänzung, wie jmdn. los, ledig, frei, mündig, schuldig sprechen. Entsprechend im kirchlichen Bereich jmdn. heilig (↑ "Heiligsprechung"), selig sprechen; wenn ihn sein gewissen rein gesprochen hat (Schiller; L059 DWb). Verbindungen dieser Art sind heute seltener und stärker lexikalisiert (Zusammenschreibung freisprechen usw.);
2.2.1 von der Tätigkeit des Anwalts her für jmdn. sprechen ›jmds. Sache vertreten‹, frühneuhochdeutsch auch ›für jmdn. Bürgschaft leisten‹. Dann auch mit unpersönlichem Subjekt (L004 Johann Christoph Adelung) und übertragen, Das spricht zu seinen Gunsten (A082 Christian Dietrich Grabbe, Scherz 1,3); Die Liebe ist stumm, nur die Poesie kann für sie sprechen (A202 Novalis, Ofterdingen 287), für die [›im Namen der‹] Partei sprechen. Umgekehrt gegen jmdn. sprechen: Ihr seid ja die korrupte Bande, gegen die ich sprach (A147 Franz Kafka, Proceß 63);
2.2.2 für/ gegen etwas sprechen ›etwas befürworten‹/ ›sich gegen etwas aussprechen‹: für/ gegen einen Antrag sprechen ("Fürsprache", "Widerspruch"). Ungewöhnlich konstruiert bei A075 Johann Wolfgang von Goethe: und alle die Sache, / Wie man sie für und wider gesprochen (Reineke Fuchs X 421).
⊚ (das) spricht für sich selbst ›ist klar, bedarf keines Kommentars‹;
2.2.3 über Verbindungen wie Umstände, Gründe, Vermutungen sprechen für/ gegen etwas, die Indizien sprechen für/ gegen seine Unschuld, das Kleid spricht für ihren guten Geschmack, alles spricht dafür, daß es klappt ist sprechen für/ gegen inzwischen so weit entwickelt, daß es die Relation ›wahrscheinlich sein lassen, schließen lassen auf‹ zwischen abstrakten Sachverhalten ausdrücken kann, [das Geräusch] wandelte sich ab, es war niemals genau dasselbe. Aber gerade das sprach für seine Gesetzmäßigkeit (A215 Rainer Maria Rilke, Aufzeichnungen 872). Oft synonym mit "reden", umgangssprachlich auch ↑ "babbeln" und ↑ "schnacken", besonders mundartlich schwätzen (↑ "schwatzen"), vgl. L066 Jürgen Eichhoff, Karte 3–7. ⇓ "S237" ⇑ "absprechen", "ansprechen", "aussprechen", "besprechen", "einsprechen", "entsprechen", "versprechen", "vorsprechen", "widersprechen", "zusprechen". Literatur: W.Z.Shetter/ F.W.Blaisdall, Altsächs. mahlian und die Verben des Sprechens und Sagens, in: L360 ZDW18,129ff.; H.Dupuy-Engelhardt, reden, sagen, sprechen, in: Recherches Linguistiques. Articles offerts à M.Philipp. Réunis par H.Dupuy u. a.,1982,95ff.
Sprechakt vereinzelt, neben Sprechen, Übersetzung von parole in L274 Ferdinand de Saussure, Grundfragen 22, insofern sekundär für den »eigentlichen« Bereich der ⇓ "S208" Sprachwissenschaft (der langue); eine Neubewertung bei J.L.Austin und J.R.Searle, dessen speech act im Deutschen durch Sprechakt wiedergegeben wird: Die Grundeinheit der sprachlichen Kommunikation ist… die Produktion… des Symbols oder Wortes oder Satzes im Vollzug des Sprechaktes (J.R.Searle, Sprechakte, 1971,30);
Sprechakttheorie D.Wunderlich, Studien zur Sprechakttheorie, 1976;
Sprechart »die Art und Weise, wie man spricht, bes. in Rücksicht auf die Würde der Wörter«, Die anständige, die niedrige, die gemeine Sprechart (L004 Johann Christoph Adelung), in der älteren Sprachwissenschaft (z. B. L164 Friedrich Kluge) auch wie "Sondersprache";
Sprechstunde 19. Jahrhundert: [der] Arzt hat zwar seine Sprechstunde, hält sie aber… nicht regelmäßig ein (1854 A263 Heinrich von Treitschke, Briefe 1,216). Ableitungen zu sprechen z. T. nur in Zusammensetzungen, so
-sprechung in "Heiligsprechung", Seligsprechung,
-sprecherei in Großsprecherei;
Spreche Fem. (L033 Joachim Heinrich Campe) umgangssprachlich »das Sprechen in Ansehung der Art und Weise« (ebenda), Gegensatz "Schreibe";
Sprecher ahd. sprechhari, mhd. sprechære; allgemein ›der spricht‹, wie "Redner" näher bestimmt: ich bin kein grosser sprecher(Wieland; L059 DWb); kommunikativ gedeutet Gegensatz "Hörer": der Laut ist ein mediales Phänomen, ein Mittler zwischen Sprecher und Hörer (L028 Karl Bühler, Sprachtheorie 30); seit dem Mittelhochdeutschen speziell auch ›gewählter Wortführer einer Gruppe‹: Piccolomini soll unser Sprecher sein (A222 Friedrich Schiller, Wallensteins Lager 11), Fürsprecher; als Berufsbezeichnung seit früherem 20. Jahrhundert in Rundfunk und Fernsehen; die ⇓ "S140" movierte Form
Sprecherin (L308 Kaspar Stieler) entsprechend.