Hermann Paul - Deutsches Wörterbuch
sollen
ahd. scolan, mhd. scholn, schuln, wurzelverwandt mit ahd. sculdSchuld‹; gemeingermanisch (got. skulan, engl. shall) mit baltischen Verwandten (litauisch skeléti ›schuldig sein‹); Präteritopräsens (↑ "dürfen"), daher ich/ er soll ohne -ebzw. -t und bis 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts du sol(l)t; über den Gebrauch des Infinitivs statt Partizip Prät. (er hat kommen sollen) ↑ "lassen"(4); zunächst1(rechtlich) verpflichtet sein‹, unüblich geworden mit Objektsakkusativ ›schuldig sein‹: wer mir fünfzig Gulden soll (Logau), was ich Ihnen soll für den Tee(A075 Johann Wolfgang von Goethe, Brief vom 20.8.74), am längsten kaufmannssprachlich (dazu Soll s. unten); seit dem Althochdeutschen
2 gewöhnlich mit Infinitiv, zum Ausdruck eines fremden Willens (als dessen Vermittler der Sprechende erscheint): wir sollen gott… fürchten, lieben, und vertrawen (Luther; L059 DWb), prägnant als Gebot oder Verbot: du sollst keine andern Götter neben mir haben (Luther); im Sinne von ›müssenich soll fleissig studieren (L134 Levinus Hulsius), emphatisch in Paarformeln: ich sol und muoz durch triwe klagen (Wolfram von Eschenbach, Parzival; L059 DWb), Ich darf und soll sie lieben (A222 Friedrich Schiller, Karlos 3,2); konditional: sol ich nicht reden, wie ichs verstehe, warumb fragt man mich denn? (17. Jahrhundert; L059 DWb), Rinnen muß der Schweiß / Soll das Werk den Meister loben (A222 Friedrich Schiller, Glocke); das Sollen philosophisch: ein imperativ… eine regel, die durch ein sollen… bezeichnet wird (I.Kant; L059 DWb); auch zum Ausdruck des eigenen Willens, formelhaft mithin solt du noch disz… wissen(J.Ch.Günther; L059 DWb), pleonastisch ir sult uns wesen willekomenihr seid uns willkommen‹ (Nibelungenlied; L059 DWb), auffordernd sie sollen reden, damit ich sie widerlege ›reden Sie!‹ (Gellert; L059 DWb), in Verwünschungen der henker soll es holen (Schiller; L059 DWb), herausfordernd Sie sollen kommen und sollen's probiren! (A222 Friedrich Schiller, Wallensteins Lager 11); seit der Jahrhundertwende »sehr beliebt« (L059 DWb) in der gespreizten Floskel: wir glauben, diesen satz auf das ganze werk ausdehnen zu sollen (ebenda); auch, wenn etwas als schicklich, billig, vernunftgemäß bezeichnet werden soll, in der Regel im Konjunktiv Prät. : das sollte man niemals tun, das sollte er doch wissen, ich sollte eigentlich böse sein, Nie ist sie weniger gewesen, was sie sein sollte (A177 Gotthold Ephraim Lessing, Emilia Galotti 2,6), häufig im Vorwurf Sie sollten sich schämen (L003 Johann Christoph Adelung 1780); auch einräumend: sie sollen… recht haben (Gellert; L059 DWb), du sollst es nicht getan habenich will annehmen, daß du es nicht getan hast‹, der Fall soll eintreten [›gesetzt den Fall‹], daß der geliebte Gegenstand unglücklich ist (Schiller); auch mit sächlichem Subjekt ohne den Begriff der Verpflichtung, zum Ausdruck von Schicksalsgläubigkeit: Soll es seyn, so muß es seyn (L308 Kaspar Stieler), es hat nicht so seyn sollen(Gellert; L059 DWb), wenn es denn… seyn soll (L003 Johann Christoph Adelung 1780); versprechend es soll bald geschehen, es soll nicht wieder vorkommen, es soll dein schade nicht sein (Lessing; L059 DWb), in der Passivkonstruktion ohne Objekt: es soll ordentlich gelebt sein(Geiler von Kaisersberg; L059 DWb), entsprechend auch bei persönlichem Subjekt: er soll morgen sterben; der Infinitiv kann durch ein Pronomen vertreten werden: soll ich ihn verlassen? das sollst du nicht; was soll ich? fragt jemand, dem angedeutet ist, daß er einen Auftrag erhalten soll; ohne eine solche Andeutung steht wasmit Ortsbestimmung: was soll ich hier?was hat es für einen Zweck, daß ich hier bin?‹; wie dürfen usw. mit Richtungsbezeichnungen und fehlendem Infinitiv: so sollst du tief ins burgverliesz (G.A.Bürger; L059 DWb), Er soll fort (L003 Johann Christoph Adelung 1780), er soll in die Schule, aus dem Haus, er soll mit; andere Konstruktionen, nach dem Zweck fragend: Was sol denn das Gesetz? (A180 Martin Luther, Galatäer 3,19), man darff nicht sagen / Was sol das?(A180 Martin Luther, Sirach 39,22), in der rhetorischen Frage: waz sol ich, swenn ich din enbir? (›dich nicht habe‹) (Iwein; L059 DWb), mit Dativ: was soll mir die Erstgeburt? (Luther); mittelhochdeutsch und frühneuhochdeutsch zur Umschreibung für das Futur: er weiß nicht, was gewesen ist, und wer will ihm sagen, was werden soll?(Luther); futurisch noch in einem Satz wie er soll noch kommen (Gegensatz er ist schon gekommen) ›er ist immer noch nicht gekommen‹; im ärgerlichen Ausruf da soll man nicht unwillig… werden!(Gellert; L059 DWb); in Fragesätzen wie was soll ich tun? verblaßt zum Ausdruck von Unentschiedenheit in bezug auf einen Entschluß; zum Ausdruck einer Vermutung, häufig mit "wohl" verbunden: dein blaues auge soll doch wohl eine… Italienerin aus seinem herzen stöbern (Klinger; L059 DWb); noch abgeblaßter im Konjunktiv Prät. : Es sollte einer wol meinen (L308 Kaspar Stieler), fast sollte man glauben, ich sollte mir das gefallen lassen?, wie hätte ich das ahnen sollen?, elliptisch in der rhetorischen Frage »Sie kennen doch… ?« »Wie sollt ich nicht?«natürlich‹ (A177 Gotthold Ephraim Lessing, Emilia Galotti 5,5), konzessiv sollte ich auch meinen besten Freund druber verlieren (L169 Matthias Kramer), ich sollte Ihre Frau sein, das ließe ich mir nicht gefallen; im Sinn einer (willkürlichen) Festsetzung, als Versprechen: du sollt… min ritter sin (Wolfram von Eschenbach, Parzival; L059 DWb), auf Abbildungen bezogen diesz bin ich, und diesz soll meine Chloris seyn (Gellert; L059 DWb), in der zweifelnden Frage das soll Karl sein?, auf dem Theater NN soll Orest sein (L059 DWb); daran anknüpfend bereits mittelhochdeutsch zur Bezeichnung eines Gerüchts, seit dem späteren 17. Jahrhundert häufig: Er soll ja bauen wollen (L308 Kaspar Stieler) ›man sagt, er will bauen‹ wenn der Sprecher sich nicht mit der Aussage identifiziert und die Quelle ungenannt bleibt. C.M.Stevens, in: American Journal of Germanic Linguistics and Literatures 7, 1995,179–206.
Soll(17. Jahrhundert; W.L244 Wolfgang Pfeifer) substantivierte 3. Person Singular Präsens zu sollen(1) ⇓ "S106" kaufmannssprachlich nach lat. debet ›Schuld‹, Gegensatz Haben, so in der festen Formel, auch übertragen, im Romantitel G.Freytags von 1855 Soll und Haben; L277 Alfred Schirmer, Kaufmannssprache; daneben allgemeiner ›Pflicht‹; nach 1945 im Arbeitsleben der ⇓ "S045" DDR ›Arbeitsziel‹, dazu Plansoll (L337 WdG).
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