Hermann Paul - Deutsches Wörterbuch
Sitte
ahd. situ, mhd. site (ursprünglich und bis ins 17. Jahrhundert Mask. ) gemeingermanisch (got. sidus, altnord. siðr), urverwandt griech. éthos; ursprünglich weiter gefaßt1 ›Gewohnheit‹: Es ist nicht sitte in vnserm Lande(A180 Martin Luther, 1.Mose 29,26), Des Landes Sitte… Nach alter Sitte(L308 Kaspar Stieler), redensartlich anders Land, andere Sitten (L169 Matthias Kramer), der… / vieler Menschen Städte gesehen und Sitte gelernt hat (Voß, Odyssee), so auch im Sinne von ›Mode, Tracht‹: ein kappe wol gesniten [›gut gekleidet‹] / al nach der Franzoyser siten (Wolfram von Eschenbach, Parzival; L059 DWb); auf den einzelnen Menschen bezogen ›Art, Charakter‹: es ist min site(Walther v. d.Vogelweide; L059 DWb); frühneuhochdeutsch bibelsprachlich speziell ›Gesetz‹ (A180 Martin Luther z. B. Hesekiel 43,11); fängt seit dem späteren 18. Jahrhundert »ein wenig an zu veralten« (L004 Johann Christoph Adelung 1780), erhalten in kulturgeschichtlichem Sinn ›Brauch‹. Daneben unter Einfluß von lat. mores bereits althochdeutsch, seit dem 18. Jahrhundert vor allem
2 moralisch-ethischer Begriff,
2.1 »die Fertigkeit freyer äusserer Handlungen in Ansehung des gesellschaftlichen Lebens« (L003 Johann Christoph Adelung 1780) im Sinne von ›Normen, Grundsätze‹, meist im Plural: Böse Geschwetze verderben gute sitten (A180 Martin Luther, 1.Korinther 15,33), wider die guten Sitten (L169 Matthias Kramer), ⇓ "S181" rechtssprachlich verfestigt: Ein Rechtsgeschäft, das gegen die guten Sitten verstößt, ist nichtig (BGB §138), wie es die Sitten itzo mit sich bringen (L305 Christoph Ernst Steinbach); in der Spätaufklärung philosophisch reflektiert: die Metaphysik der Sitten soll die Idee und die Principien eines möglichen reinen Willens untersuchen(1785 I.A153 Immanuel Kant; AA 4,390);
2.2 daran anschließend im Sinne von ›Moral‹ auch in sexueller Hinsicht: aus Sitt' und Scham (Goethe), häufig in der Verbindung Zucht und Sitte, dazu sittenlos (althochdeutsch, im späten 18. Jahrhundert wiederbelebt), danach seit dem späteren 19. Jahrhundert ohne Plural
2.2.1 kurz für Sittenpolizei (L059 DWb): wer… in der ›Sitte‹ sitzen muß,… dem stehen die Haare zu Berge über all das Elend (A060 Theodor Fontane, Treibel; 4,425), abgekürzt Sipo (1920); dann auch
2.3 im Sinn eines sozialen Ethos ›Anstand, Umgangsformen, Benehmen‹: Kraftgenie, das sich über Sitte, Anstand und Vernunft hinauszusetzen einen besonderen Freibrief zu haben glaubt (A163 Adolf Freiherr von Knigge,3Umgang 23), Ein Mensch von groben Sitten (L003 Johann Christoph Adelung 1780), verließ auf Sitte mich und Höflichkeit (Goethe); negiert Unsitte (↑ "unsittlich"), ↑ "gesittet".
Sittenbild zu Sitte(1) »Genrebild, insofern darin das Gewohnheitsmäßige und Zuständliche ausgedrückt ist« (L264 Daniel Sanders), gleichbedeutend
Sittengemälde (L264 Daniel Sanders): Ein Buch voll Sittengemälden kann nicht so trocken geschrieben sein als ein Kompendium (A163 Adolf Freiherr von Knigge,3Umgang, Vorrede);
Sittenlehre zu Sitte(2) (1644 A299 Georg Philipp Harsdörffer, Gesprächsspiele) ›Ethik‹: Die christliche Sittenlehre (L003 Johann Christoph Adelung 1780), im Idealismus kategorisch Grundsatz der Sittenlehre (J.G.A058 Johann Gottlieb Fichte; AA 1.Abt. 3,30);
sittlich ahd. situlih, mhd. sitelich;
1 Sitte(1) folgend nur noch in ländlich sittlich (L308 Kaspar Stieler), seit dem 19. Jahrhundert »scherzend von dörfischen zuständen, die dem städter anstöszig sind« (L059 DWb);
2 zu Sitte(2) Ende des 15. Jahrhunderts (1494 A022 Sebastian Brant, Narrenschiff), durchgesetzt seit dem 18. Jahrhundert: Das sittliche Gefühl »die Empfindung dessen, was sittlich gut oder böse ist« (L003 Johann Christoph Adelung 1780); in der Folge der Aufklärung ⇓ "S168" philosophisch gedeutet: Wendet sich… der Wille… an die Vernunft, ehe er das Verlangen des Triebes genehmigt, so handelt er sittlich (A222 Friedrich Schiller, Anmuth und Würde; NA 20,292), in festeren Verbindungen sittliche Reife, sittlicher Wert; auch Gegensatz zu "sinnlich", substantiviert: In der Würde… wird uns ein Beyspiel der Unterordnung des Sinnlichen unter das Sittliche vorgehalten (ebenda 20,302), daher »in neuester zeit.. eine eigenthümliche beschränkung auf das sexuelle« (L059 DWb) wie "unsittlich";
Sittlichkeit 15. Jahrhundert sitlicheit (L345 Friedrich Karl Ludwig Weigand/ L345 Herman Hirt); im 18. Jahrhundert aufklärerisch begründet: Autonomie des Willens als oberstes Princip der Sittlichkeit (1785 I.A153 Immanuel Kant, Grundlegung; AA 4,440), danach im Rahmen einer Ästhetik bei A222 Friedrich Schiller: So streng… die Vernunft einen Ausdruck der Sittlichkeit fodert, so unnachläßlich fodert das Auge Schönheit(Anmuth und Würde; NA 20,277); im Verlauf des 19. Jahrhunderts zunehmend gesellschaftstheoretisch (L086 GG5): Sittlichkeit [ist] Prinzip des Rechtsstaates (L262 Carl von Rotteck/ L262 Carl Welcker 14); an den sexuell gedeuteten Begriff der ehe heilge bande… / die sittlichkeit (A222 Friedrich Schiller, Karlos 3,5) anschließend seit dem frühen 20. Jahrhundert auch psychoanalytische Kategorie: der erste Triebverzicht… schafft erst die Sittlichkeit, die sich im Gewissen ausdrückt (S.A063 Sigmund Freud III,354), dazu Sittlichkeitsverbrechen (L059 DWb);
sittsam ahd. situsam ›passend, geeignet‹, in moralischer Bedeutung wiederaufgenommen 1451 (L345 Friedrich Karl Ludwig Weigand/ L345 Herman Hirt), wie "gesittet" und veraltet sittig (ahd. ) ›den allgemein gültigen Verhaltensregeln entsprechend‹, zumeist auf Frauen und Mädchen bezogen, auch ›zurückhaltend, züchtig‹: sittsam war dein aug, voll mädchenmilde (Hölty; L059 DWb), heute veraltend bzw. ironisch.
2 moralisch-ethischer Begriff,
2.1 »die Fertigkeit freyer äusserer Handlungen in Ansehung des gesellschaftlichen Lebens« (L003 Johann Christoph Adelung 1780) im Sinne von ›Normen, Grundsätze‹, meist im Plural: Böse Geschwetze verderben gute sitten (A180 Martin Luther, 1.Korinther 15,33), wider die guten Sitten (L169 Matthias Kramer), ⇓ "S181" rechtssprachlich verfestigt: Ein Rechtsgeschäft, das gegen die guten Sitten verstößt, ist nichtig (BGB §138), wie es die Sitten itzo mit sich bringen (L305 Christoph Ernst Steinbach); in der Spätaufklärung philosophisch reflektiert: die Metaphysik der Sitten soll die Idee und die Principien eines möglichen reinen Willens untersuchen(1785 I.A153 Immanuel Kant; AA 4,390);
2.2 daran anschließend im Sinne von ›Moral‹ auch in sexueller Hinsicht: aus Sitt' und Scham (Goethe), häufig in der Verbindung Zucht und Sitte, dazu sittenlos (althochdeutsch, im späten 18. Jahrhundert wiederbelebt), danach seit dem späteren 19. Jahrhundert ohne Plural
2.2.1 kurz für Sittenpolizei (L059 DWb): wer… in der ›Sitte‹ sitzen muß,… dem stehen die Haare zu Berge über all das Elend (A060 Theodor Fontane, Treibel; 4,425), abgekürzt Sipo (1920); dann auch
2.3 im Sinn eines sozialen Ethos ›Anstand, Umgangsformen, Benehmen‹: Kraftgenie, das sich über Sitte, Anstand und Vernunft hinauszusetzen einen besonderen Freibrief zu haben glaubt (A163 Adolf Freiherr von Knigge,3Umgang 23), Ein Mensch von groben Sitten (L003 Johann Christoph Adelung 1780), verließ auf Sitte mich und Höflichkeit (Goethe); negiert Unsitte (↑ "unsittlich"), ↑ "gesittet".
Sittenbild zu Sitte(1) »Genrebild, insofern darin das Gewohnheitsmäßige und Zuständliche ausgedrückt ist« (L264 Daniel Sanders), gleichbedeutend
Sittengemälde (L264 Daniel Sanders): Ein Buch voll Sittengemälden kann nicht so trocken geschrieben sein als ein Kompendium (A163 Adolf Freiherr von Knigge,3Umgang, Vorrede);
Sittenlehre zu Sitte(2) (1644 A299 Georg Philipp Harsdörffer, Gesprächsspiele) ›Ethik‹: Die christliche Sittenlehre (L003 Johann Christoph Adelung 1780), im Idealismus kategorisch Grundsatz der Sittenlehre (J.G.A058 Johann Gottlieb Fichte; AA 1.Abt. 3,30);
sittlich ahd. situlih, mhd. sitelich;
1 Sitte(1) folgend nur noch in ländlich sittlich (L308 Kaspar Stieler), seit dem 19. Jahrhundert »scherzend von dörfischen zuständen, die dem städter anstöszig sind« (L059 DWb);
2 zu Sitte(2) Ende des 15. Jahrhunderts (1494 A022 Sebastian Brant, Narrenschiff), durchgesetzt seit dem 18. Jahrhundert: Das sittliche Gefühl »die Empfindung dessen, was sittlich gut oder böse ist« (L003 Johann Christoph Adelung 1780); in der Folge der Aufklärung ⇓ "S168" philosophisch gedeutet: Wendet sich… der Wille… an die Vernunft, ehe er das Verlangen des Triebes genehmigt, so handelt er sittlich (A222 Friedrich Schiller, Anmuth und Würde; NA 20,292), in festeren Verbindungen sittliche Reife, sittlicher Wert; auch Gegensatz zu "sinnlich", substantiviert: In der Würde… wird uns ein Beyspiel der Unterordnung des Sinnlichen unter das Sittliche vorgehalten (ebenda 20,302), daher »in neuester zeit.. eine eigenthümliche beschränkung auf das sexuelle« (L059 DWb) wie "unsittlich";
Sittlichkeit 15. Jahrhundert sitlicheit (L345 Friedrich Karl Ludwig Weigand/ L345 Herman Hirt); im 18. Jahrhundert aufklärerisch begründet: Autonomie des Willens als oberstes Princip der Sittlichkeit (1785 I.A153 Immanuel Kant, Grundlegung; AA 4,440), danach im Rahmen einer Ästhetik bei A222 Friedrich Schiller: So streng… die Vernunft einen Ausdruck der Sittlichkeit fodert, so unnachläßlich fodert das Auge Schönheit(Anmuth und Würde; NA 20,277); im Verlauf des 19. Jahrhunderts zunehmend gesellschaftstheoretisch (L086 GG5): Sittlichkeit [ist] Prinzip des Rechtsstaates (L262 Carl von Rotteck/ L262 Carl Welcker 14); an den sexuell gedeuteten Begriff der ehe heilge bande… / die sittlichkeit (A222 Friedrich Schiller, Karlos 3,5) anschließend seit dem frühen 20. Jahrhundert auch psychoanalytische Kategorie: der erste Triebverzicht… schafft erst die Sittlichkeit, die sich im Gewissen ausdrückt (S.A063 Sigmund Freud III,354), dazu Sittlichkeitsverbrechen (L059 DWb);
sittsam ahd. situsam ›passend, geeignet‹, in moralischer Bedeutung wiederaufgenommen 1451 (L345 Friedrich Karl Ludwig Weigand/ L345 Herman Hirt), wie "gesittet" und veraltet sittig (ahd. ) ›den allgemein gültigen Verhaltensregeln entsprechend‹, zumeist auf Frauen und Mädchen bezogen, auch ›zurückhaltend, züchtig‹: sittsam war dein aug, voll mädchenmilde (Hölty; L059 DWb), heute veraltend bzw. ironisch.