Hermann Paul - Deutsches Wörterbuch
selbst
Genitiv Singular Mask. von "selb" (s. unten), ursprünglich und bis ins 16./ 17. Jahrhundert selbs, selbes: wer eine Gruben macht / der wird selbs drein fallen (A180 Martin Luther, Prediger Salomo 10,8), aber schon ostmitteldeutsch 13. Jahrhundert mit sekundärem -t da selbest, daneben noch bei Goethe und Schiller zuweilen selbsten;1 nachdrücklich hinweisend auf Vorhergenanntes oder Bekanntes, stark betont und dem Satzteil, auf den es sich bezieht, zumeist nachgeordnet: Ich will selbst mit dir reden (L308 Kaspar Stieler), ich selbst »ich und kein anderer« (J. L.L078 Johann Leonhard Frisch);
selbst ist der Mann (1623; L059 DWb), heute auch selbst ist die Frau; für sich stehend von selbst (J. L.L078 Johann Leonhard Frisch), von sich selbst (L169 Matthias Kramer) ›ohne fremde Hilfe‹; in der gesprochenen Sprache elliptisch zurückweisend: ihr betrunkene bagage… selbst bagage! schrieen die anderen (Immermann; L059 DWb), bei der Begrüßung wie geht's? danke! wie geht's selbst? (L059 DWb); zur Bezeichnung einer sehr ausgeprägten Eigenschaft u.ä. er ist die Freundlichkeit selbst (L169 Matthias Kramer) ›in Person‹; psychologisch gedeutet auf das Ich bezogen: jeder sucht sich selbst (L284 Justus Georg Schottelius), mit sich selbst gnug zu thun haben… zu sich selbst kommen (L169 Matthias Kramer), Da Ihr die That geschehen ließt, wart Ihr nicht / Ihr selbst, gehörtet Euch nicht selbst (A222 Friedrich Schiller, Stuart 1,4); Abblassung des ursprünglichen Sinns neben Ortsadverbien: daselbst, nicht wesentlich von "da" verschieden, soweit es für einen vorher bezeichneten Ort gebraucht wird, besonders neben Substantiven: die Leute daselbst, dagegen die Leute da in der Regel nur bei direktem Hinweisen; danach woselbst, veraltet hieselbst, bei Luther auch daselbst hin, her, durch, mit, von: daselbst macht er einen Gott von; adverbial seit dem 16. Jahrhundert (L345 Friedrich Karl Ludwig Weigand/ L345 Herman Hirt)
2sogar‹ um hervorzuheben, daß etwas Unerwartetes eingetreten ist, in der Regel vor, zuweilen auch unmittelbar hinter dem Satzteil, auf den es sich bezieht, sich dem Wort, das es hervorhebt, unterordnend: Dem Hunde, wenn er gut gezogen, / Wird selbst ein weiser Mann gewogen (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Faust I,1174f). Unter den Zusammensetzungen mit Substantiven und Adjektiven, in denen selbst- das ältere selb- zurückgedrängt hat, sind die zahlreichsten solche, die sich an transitive Verben anschließen, neben denen sich selbst im Akkusativ stehen würde: Selbstachtung, Selbstanklage, Selbstaufopferung, Selbstbefleckung, Selbstbeherrschung, Selbstbeobachtung, Selbstbespiegelung, "Selbstbestimmung" (s. unten), Selbstbetrug, Selbstbildung (Herder, Goethe u. a.), Selbsteinschätzung, Selbsterhaltung, Selbsterkenntnis, Selbstgefühl, Selbstgenuß, Selbstkritik, Selbstliebe, Selbstliebhaber (›Egoist‹ Wieland), Selbstlob, "Selbstmord" (s. unten), Selbstprüfung, selbstquälerisch, Selbsttäuschung, Selbstüberhebung, Selbstüberwindung, Selbstverachtung, Selbstverblendung, Selbstvergötterung, Selbstverhöhnung, Selbstverleugnung, Selbstvernichtung, Selbstverstümmelung; anstelle eines genitivischen, dativischen Verhältnisses oder einer Verbindung mit einer Präposition in: "selbstbewußt" (s. unten), selbstgewiß, selbstlos (Selbstlosigkeit, bei Schiller auch ›Abwesenheit des Bewußtseins‹), selbstvergessen (hierher zu stellen wegen des aktiven Sinns, dazu das Selbstvergessen, Selbstvergessenheit), "Selbstsucht" (s. unten), selbstsüchtig; selbstgefällig; Selbstbehagen, "Selbstgespräch" (s. unten), Selbstvertrauen, Selbstzutrauen öfters bei A193 Karl Philipp Moritz: er ermannte sich, das Selbstzutrauen arbeitete sich unter der… Scham wieder hervor, und flößte ihm… Mut und Zutrauen… ein (Reiser 123), selbstgenügsam, selbstzufrieden. Anders zu fassen ist wahrscheinlich selbsteigen, mhd. sin (min) selbes eigen. Nur im Verhältnis eines Subjekts steht selbstzu dem zweiten Bestandteil in selbstredend (17. Jahrhundert ›offenbar‹, Ende des 19. Jahrhunderts ›selbstverständlich‹), selbsttätig (Verdeutschung von "aktiv"), "selbständig" (s. unten) (ursprünglich selbsständig) zu veraltetem Selbstand (Verdeutschung von "Substanz"), selbstherrlich, Selbstherrscher (im 18./ 19. Jahrhundert Titel des russischen Kaisers), Selbstherrschaft, "Selbstverwaltung" (s. unten), Selbstbekenntnis, "Selbstverlag", Selbsthilfe, Selbstzweck; von selbst entsprechend "selbstverständlich" (s. unten), selbstgewachsen (früher selbstwachsen); Selbstschuß (Gewehr, das sich von selbst entlädt, wenn man daran stößt); ungenaue Verknüpfung selbstgemachte Wurst (Wurst, die man selbst im eigenen Haus gemacht hat); schon Luther sagt selbst erwählte (in neueren Ausgaben zusammengeschrieben) Geistlichkeit und Demut; ähnlich auch selbsterlebt, selbstgeschaffen, selbstgesponnen, selbstgewirkt, selbstgezogen, selbstverdient; anders Selbstkosten (Kosten, die man selbst hat), am häufigsten in Selbstkostenpreis. B.Primus, Selbst-variants of a scalar adverb in German, in: Linguistische Berichte, Sonderheft 4,1991/ 92,54–88.
Selbst Neutr. Anfang des 18. Jahrhunderts (L169 Matthias Kramer), vielleicht unter ⇓ "S170" pietistischem Einfluß; ›eigene Persönlichkeit‹, zunächst durch Übersetzungen aus dem Englischen (L360 ZDW 14,1ff.; L359 ZDS22,92ff.), meist mit Possessivpronomen: mein eigen Selbst zu ihrem Selbst erweitern (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Faust I,1774);
selbständig 1482 adverbial selbstendiglich, 1522 selbststendig, 1541 selbständig (L345 Friedrich Karl Ludwig Weigand/ L345 Herman Hirt); im 18. Jahrhundert ⇓ "S168" philosophisch »was von sich selbst oder aus eigener Kraft bestehet« (L003 Johann Christoph Adelung 1780): nur Gott allein selbständig ist(ebenda); allgemeiner ›unabhängig von anderen‹: Selbstandige Menschen sind zuverlässig (L033 Joachim Heinrich Campe), selbständig werden »einen eigenen hausstand, ein eignes geschäft gründen« (L059 DWb), so auch reflexiv sich selbständig machen;
Selbstbedienungsladen"S149" (L056 Duden 141954; das Bestimmungswort nach engl. self-service-; L010 AWb): fertige Päckchensuppe… aus dem Selbstbedienungsladen (M.v.d.A093 Max von der Grün, Irrlicht 153); ⇓ "S027" übertragen, wenn jmd. sich nach Belieben einer Sache bedient:
das ist doch kein Selbstbedienungsladen;
Selbstbestimmung (Schiller, Goethe) zunächst individuell gedeutet: ein Vernunftswesen muß… aus reiner Vernunft handeln, wenn es… Selbstbestimmung zeigen soll (A222 Friedrich Schiller, Brief vom 8.2.93), dann ⇓ "S175" politischer Begriff die selbstbestimmungen einzelner staaten (Freytag; L059 DWb), in der DDR nur: das Recht auf nationale Selbstbestimmung (L337 WdG), dazu
Selbstbestimmungsrecht"S149" um 1918; in der Wendung Selbstbestimmungsrecht der Frau auf den Schwangerschaftsabbruch bezogen, erneut seit Anfang der 1970er Jahre (L315 Georg Stötzel/ L315 Martin Wengeler 563ff.)
selbstbewußt ohne Wertbegriff: sie war natürlich, ruhig und sich völlig selbstbewußt (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Wahlverwandtschaften 20,413,10); dann wie heute nur noch ›von sich überzeugt‹ (um 1825 Platen), dazu mit entsprechender Entwicklung
Selbstbewußtsein (Herder); im Sinne von ›Stolz‹ 1800 A139 Jean Paul: die Mutter… aus Selbstbewußtsein und Liane aus Demut (Titan 9,69,17);
Selbstdarstellung"S149" wohl erst aus neuerer Zeit »(künstlerische) Darstellung des eigenen Wesens oder eigener Vorstellungen in Rede und Schrift, in Form eines Bildnisses« (L337 WdG), dann auch allgemeiner ›Darstellung der eigenen Person (um Eindruck zu machen)‹: der Politiker nimmt jede Gelegenheit zur Selbstdarstellung in der Öffentlichkeit wahr (L097 GWb);
SelbstentfaltungEntwicklung und Darstellung der eigenen Anlagen und Fähigkeiten bzw. die Möglichkeit dazu‹, so ist denn alles was da war und ist und sein wird… die göttliche vernunft in ihrer selbstentfaltung (Treitschke; L059 DWb); heute häufig in der ⇓ "S180" Psychologie und wie synonym Selbstverwirklichung (s. unten) kennzeichnend für eine emanzipatorische Gesellschaft;
Selbsterfahrung (1809; L059 DWb) zunächst ›Erlebnis des eigenen Selbst‹, wir treten hier durch physiologische und psychologische selbsterfahrung in eine uns ganz unbekannte, moralisch-physische welt voller wunder in uns selbst(Klinger; L059 DWb); heute in der ⇓ "S180" Psychologie und allgemeiner im Sinn einer Therapie ›Sich-selbst-Verstehenlernen‹ (durch Sprechen über sich, vor allem in einer Selbsterfahrungsgruppe) (vgl. L097 GWb);
Selbstgespräch (A173 Gottfried Wilhelm von Leibniz, Gedanken 329); häufig zur Bezeichnung von Verlassenheit: in der einsamkeit… hältst du mit dir selbstgespräche (Rückert; L059 DWb), als stummer Monolog: sie sank teilnahmslos zurück und bewegte die Lippen in lautlosem Selbstgespräch (A154 Hermann Kasack, Stadt 319);
Selbstheit mhd. selbesheit (⇓ "S142" Mystik); veraltet entweder ›eigenes Wesen, Eigenartigkeit‹ oder ›Egoismus‹: durch Dünkel oder Selbstheit (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Wanderjahre 24,244,20);
Selbstläufer (L098 2GWb), ⇓ "S149" älter Selbstlauf (belegt 1976) und selbstläufig (beide L097 GWb) ›etwas, das wie von selbst, ohne viel Zutun, den gewünschten Erfolg erreichtso wird der Erfolg zum Selbstläufer(Mannheimer Morgen 1989), häufig negiert: Der Antrag ist kein Selbstläufer;
Selbstlaut"S208" als Gegenwort zu "Mitlaut" ›Vokal‹ Gottsched, L004 Johann Christoph Adelung (nach Vorstufen bei Frangk, L284 Justus Georg Schottelius u. a.);
Selbstmord um 1640 ⇓ "S124" Lehnübersetzung von neulat. suicidium;
das ist der reine Selbstmord wenn sich jemand selbst gefährdet; übertragen dieser geistige selbstmord des gemüths (Jean Paul; L059 DWb), ↑ "Freitod";
Selbstsucht (1759; L059 DWb) ›Egoismus‹, dazu selbstsüchtig: der, welchem es gleichgültig ist, wie es anderen ergehen mag, wenn es ihm selbst nur wohl geht, ist ein selbstsüchtiger (I.Kant; L059 DWb), ↑ "Sucht";
selbstverständlichohne einer Erklärung zu bedürfen‹: Ton und Klang jedoch entwindet / Sich dem Worte selbstverständlich (A075 Johann Wolfgang von Goethe, 6,265,29); seit dem 19. Jahrhundert zunehmend wie ›selbstredend‹ »namentlich in der umgangssprache« (L059 DWb): diese selbstverständliche wahrheit (Freytag; L059 DWb); adverbial, besonders in der gesprochenen Sprache abgeblaßt wie ›natürlich‹: selbstverständlich hast du recht (L059 DWb); auf ein bestimmtes Verhalten bezogen ›unbefangen‹, häufig im Vergleich wie selbstverständlich;
Selbstverwaltung 1814 (L360 ZDW2,309);
Selbstverwirklichung"S149""S124" Lehnübersetzung von engl. self-realization (L097 GWb), häufig in der ⇓ "S180" Psychologie und wie synonym "Selbstentfaltung" (s. oben) kennzeichnend für eine emanzipatorische Gesellschaft ›Anwendung individueller Anlagen und Fähigkeiten‹;
selbstischegoistisch‹ (Wieland), wohl Lehnübersetzung von engl. selfish: die selbstische seele mit der uneigennützigen im streit (Wieland; L059 DWb), heute gehoben;
selb ahd. / mhd. selp, gemeingermanisch (got. silba, engl. self) (L141 IF47,325; L012 Otto Behaghel, Syntax 1.331ff.); mittelhochdeutsch noch stark und schwach flektiertes Adjektiv selber, selbe, das als prädikatives Attribut gebraucht wird: got selbeGott selbst‹, sin selbesseiner selbst‹, seit dem 17. Jahrhundert schwach flektiert; mit vorhergehendem bestimmtem Artikel: der selbe (Mann), heute zusammengeschrieben "derselbe", in dem ursprünglichen vollen Sinn ›der nämliche‹ (verstärkt eben derselbe, einundderselbe) und so häufig mit der, die, das gleiche (↑ "gleich") verwechselt, abgeblaßt auf vorher Bezeichnetes hinweisend (wie daselbst usw.); selten im ursprünglichen Sinn ohne Artikel: in einem Haus und unter selbem Dache mit ihr(Z.Werner); ich stieg zu Roß in selber Nacht (Lenau), so noch bei (S.A067 Stefan George): Dein schatten kreuzt des teppichs selbe ranken (Ich lehre dich); öfter abgeblaßt von selbem Augenblick (F.Müller), welcher statt den Geist zu sammeln, selben zerstreut (Goethe), um selbe Zeit (Schiller), an selber Stätten (Tieck); alemannisch zu seller geworden, wie der, auch als Artikel; ähnlich auch in anderen Mundarten; heute nur noch nach miteinander verschmolzener Präposition und Artikel: wir ziehen am selben Strang; häufig in älterer und archaisierender Sprache die Erweiterung derselbige (vgl. derjenige, der meinige usw.): aus der großen Verlegenheit riß ihn Laertes noch am selbigen Morgen (Goethe); viel häufiger abgeblaßt; auch hierfür nicht ganz selten selbiger ohne Artikel: Belsazar ward in selbiger Nacht von seinen Knechten umgebracht (Heine); ebenso veraltet der in schwacher Form erstarrte Nominativ Singular in selbander aus selbe anderzu zweit miteinander‹, selbdritt, selbviert usw.; entstellt, wenn die Kardinalzahl gesetzt wird: Adolph selbfünfe (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Wanderjahre 25I,48,19), selbzwanzig (Immermann); dazu der erstarrte Nominativ Singular Mask.
selber (mhd. ); ›selbst‹: ewr Gott hat selber fur euch gestritten (A180 Martin Luther, Josua 23,3); neuhochdeutsch zunehmend umgangssprachlich, denn »s. ist nicht so sehr gebräuchlich im Schreiben als selbst« (J. L.L078 Johann Leonhard Frisch): schlagt euern Plato selber nach(Wieland; L059 DWb), aber literarisch reich belegt: Ich glaube, daß wir durch uns selber sind (A131 Friedrich Hölderlin, Hyperion 141); in der Zurückweisung, vor allem ⇓ "S109" kindersprachlich »Du bist doof!« »Selber!«, L264 Daniel Sanders bucht einen Diminutiv: Selberlein! ruft Max (1848); selten abgeblaßt wie selbstsogar‹: selber die Kirche stellt nicht Schöneres dar… Höheres bildet selber die Kunst nicht (Schiller).
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