Hermann Paul - Deutsches Wörterbuch
sein
1 ⇓ "S087" ahd. / mhd. sin, gemeingermanisches Possessivpronomen; aus dem Stamm des Reflexivpronomens gebildet, verhält sich zu "sich" wie mein zu mich, dein zu dich. Althochdeutsch und mittelhochdeutsch stimmen die flexionslosen Formen der Possessivpronomina überein mit den Genitiven der entsprechenden Personalpronomina, so noch unser, euer, während für die Singularformen die Übereinstimmung durch sekundäre Weiterbildung aufgehoben ist. Die Flexion der Possessiva weicht wie die von 1"ein" darin von der eines gewöhnlichen Adjektivs ab, daß der Nominativ Singular Mask. und Neutr. (Akk. Sg. Neutr. ) in attributiver Stellung flexionslos bleibt und nur für sich stehend Flexion annimmt: mein Haus, nicht deines (L012 Otto Behaghel, Syntax 1,348ff.). Die Possessiva vertreten neben dem Substantiv die Stelle des Genitivs der Personalpronomen, der im Neuhochdeutschen in dieser Stellung nicht mehr erscheint außer in Fällen wie die Feinde unser (euer) aller, vom Singular also überhaupt nicht; bis ins Frühneuhochdeutsche außerdem sein selbs oder selbst, mhd. sin selbes ›seiner selbst‹, jetzt durch sein eigen ersetzt: sein selbst Werk (Luther); auch später seiner selbst als Genitivus objectivus: ohne alle Schonung seiner selbst (Klinger); ferner seiner neben Substantivformen, die sich dem Charakter von Präpositionen nähern: anstatt seiner neben an seiner Statt, wegen meiner (süddeutsch), neben meinetwegen. Die Possessiva haben alle Funktionen des Genitivs, außer der partitiven: der Teil von uns gegen der Teil des Volkes, der Menschen; nur Verbindungen wie unser keiner, unser sind viele, wenigekommen noch vor; das Possessivum umgangssprachlich zur Bezeichnung eines beträchtlichen Umfangs in Fällen, wo es eigentlich entbehrlich ist: er hat seine 70 Jahre auf dem Rücken, der Ring ist seine 100 Mark wert, einen Graben… seine acht Schuh breit (A222 Friedrich Schiller, Räuber 1,2), dagegen zum Ausdruck der Beteuerung Es hat seine Richtigkeit damit (L003 Johann Christoph Adelung 1780); mit dem Possessivum kann kein Artikel verbunden werden (nur im Stil des Volksliedes bei Nachstellung prädikativ: der Bruder mein), es schließt gerade wie ein vorangestellter Genitiv den Sinn des bestimmten Artikels mit ein: sein Bruder ›der einzige Bruder, den er hat‹ oder ›derjenige von seinen Brüdern, der schon vorher bestimmt ist‹, sonst einer seiner Brüder; prädikativ: das Buch ist mein (landschaftlich gehört mein), wer auch nur Eine Seele / Sein nennt auf dem Erdenrund! (A222 Friedrich Schiller, An die Freude, 2.1,185), zur Bezeichnung einer sexuellen Beziehung: ich ward sein!… nach den heiligsten schwüren(Hebbel; L059 DWb); emphatisch mit Voranstellung: mein ist der Helm (Schiller). Das Pronomen sein hatte seinem Ursprung gemäß zunächst reflexiven Sinn und galt für alle Geschlechter und den Plural. Aber schon althochdeutsch nur noch auf Maskulinum und Neutrum Singular bezogen und nicht mehr auf reflexive Funktion beschränkt, stellt es sich zu dem Pronomen "er", wie "mein" zu "ich"; prägnant zur Bezeichnung dessen, was jemandem zukommt: sein Recht, sein Teil, substantivisch im Sinn eines Anspruchs: ⇓ "S046" Jedem das Seine nach lat. suum cuique seit 1677 Wahlspruch Friedrichs I. (4L027 Büchmann 198) und zynisches Motto einiger nationalsozialistischer Konzentrationslager (z. B. Buchenwald); in der festen Wendung sein eigener Herr sein wollen (L169 Matthias Kramer), abgeblaßt Er mag seine Wege (im gemeinen Leben seiner Wege)gehen (L003 Johann Christoph Adelung 1780), schwach flektiert mit bestimmtem Artikel für sich stehend der meine, unsere usw.; als umfassender Eigentumsbegriff Das schön errungene / Mein, Dein und Sein (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Faust II,9734), auf Personen bezogen zur Bezeichnung einer festen Bindung: den Seinen gibts der Herr im Schlaf(nach A180 Martin Luther, Psalm 127,2), im Sinne von ›Ehefrau‹, ›Verlobte‹ sie ward die seine (L059 DWb), Weiterbildung der Meinige,.., Seinige usw.: Der Unterschied der Worte die Seinen und die Seinigen ist nicht groß, das erstere ist älter und ernster, das letzte neuer und gefälliger (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Brief vom 28.4.19); in Verbindung mit Verfassernamen Ausdruck eines verbindlichen Wissens: seinen Homer studiren (Lichtenberg; L059 DWb); mit Zeitangaben verbunden im Sinn einer Lebensepoche: seine zeit, tage »die zeit, wo er lebt, die er zur verfügung hat« (L059 DWb), frühnhd. by sinen zyten (1486; L059 DWb), dazu seinerzeit ›damals‹ bzw. futurisch ›einmal‹, seine tage sind gezählt (L059 DWb) vom nahenden Tod, zum Ausdruck von Rechtzeitigkeit: Ejn wort geredt zu seiner zeit (A180 Martin Luther, Sprüche Salomos 25,11), Alles zu seiner Zeit (L308 Kaspar Stieler); seit Mitte des 18. Jahrhunderts zur Höflichkeitsformel verblaßt vor Titeln: Seine Majestät, Exzellenz, häufig abgekürzt: nachgesetztes Buch… unter… Sr. Konigl. Majest… Privilegio drucken lassen (1758 L091 Johann Christoph Gottsched, Sprachkunst). Hinsichtlich seiner Beziehung z. T. mehrdeutig: in dem Satz er hat ihm sein Buch gegeben kann es auf er oder auf ihm gehen; umgangssprachlich pleonastisch neben dem Genitiv (vgl. dazu am Bsp. Eigennamen L066 Jürgen Eichhoff, Karte 4–77): des Vaters sein (der Mutter ihr) Rock, meines Herrn sein Vieh (Gellert), auf des Friedrichs seine Kaiserkrönung (Schiller); so umgangssprachlich dativisch dem Vater sein Rock, gegen dem seine Weisheit (Lessing), einem seine Beiläuferin (J.P.Hebel), entsprechend des Vaters (dem Vater) seiner;seinesgleichen ahd. sin gilicho; häufig in verneinendem Kontext: Es ist seins gleichen nicht (A180 Martin Luther, 1.Samuel 21,9), in der Wendung
⊚ seinesgleichen suchen;
seinetwegen mhd. von sinen wegen, seit dem Frühneuhochdeutschen festes Kompositum: ich that es seinetwegen (L003 Johann Christoph Adelung 1780), in indirekter Rede (wie "meinetwegen" in direkter) auch zum Ausdruck von (gleichgültigem) Einverständnis: das dürfe er wiederholen, seinetwegen so oft er wolle (Hebbel; L059 DWb);
seinetwillen mhd. durch sinen willen (Hartmann von Aue; L059 DWb), heute präpositional nur mit um (vgl. L308 Kaspar Stieler).
2 ⇓ "S087" ahd. / mhd. sin, Verb, im 18. Jahrhundert zur Unterscheidung von dem Pronomen seyn geschrieben. Das Paradigma von seinsetzt sich schon im Urgermanischen zusammen aus Formen, die aus drei ganz verschiedenen Stämmen gebildet werden. Stamm es- in ist (griech. estí, lat. est; zur landschaftlich unterschiedlichen Aussprache von ist siehe L066 Jürgen Eichhoff, Karte 4–64), in abgeschwächter Form s-in sind, sei usw. (lat. sunt; zur landschaftlich unterschiedlichen Aussprache von sind – besonders im Süddeutschen – siehe L066 Jürgen Eichhoff, Karte 4–65); Stamm bheu- (griech. phýo, lat. fui) in umgestalteter Form in bin, bist; Stamm wes- (altind. ›verweilen‹). Von diesem Stamm, dem das Präteritum war (mhd. was, wie noch im Frühneuhochdeutschen und später altertümelnd, Plural waren) und das Partizip gewesen (mundartlich auch gewest) angehören, wurde ursprünglich auch der Infinitiv Präsens gebildet: mhd. wesen, erhalten in dem Substantiv "Wesen" (auch in ↑ "Verweser"); ferner das Partizip Präsens: mhd. wesende, erhalten in "abwesend", "anwesend". Der Imperativ lautet früher bis, anstelle eines noch älteren wis getreten, noch jetzt in vielen Mundarten, in der Literatur bis ins 17. Jahrhundert, später nur zu mundartlicher oder archaischer Färbung: bis mein Liebchen, bis mein Weib(G.A.Bürger); der Imperativ Plural süddeutsch heute seids!(auch österreichisch) und sind! (auch schweizerisch), vgl. L066 Jürgen Eichhoff, Karte 4–78. Im Indikativ Präsens bestanden im Mittelhochdeutschen die Formen wir sin –si sint; in der jetzigen Schriftsprache ist sind auch für die erste Person, in manchen Mundarten umgekehrt sein für die dritte; dies erscheint auch bei älteren Schriftstellern: wenn wir in höchsten Nöten sein (Peber) (H.L236 Hermann Paul, Deutsche Grammatik II,III,268ff.). Seinwird teils wie andere Verben selbständig gebraucht und drückt dann aus, daß etwas wirklich existiert; ⇓ "S073" teils ist der ursprüngliche Sinn so verblaßt, daß es nur noch die Funktion hat, zwei Vorstellungen zu einer Aussage zu verknüpfen. Das erstere ist zweifellos der Fall, wenn es keine Bestimmung neben sich hat: Gott ist, es ist ein Gott, Wenn ich auch zur Pflanze würde, wäre denn der Schade so groß? – Ich werde seyn (A131 Friedrich Hölderlin, Hyperion 148), Ich denke, also bin ich (L004 Johann Christoph Adelung), deutsche Übersetzung von Descartes cogito ergo sum; derartige Sätze gehören der neueren philosophischen Sprache an, aus der allgemeinen Umgangssprache stellen sich hierher Sätze wie Es war einmal eine alte Geiß(Brüder A087 Jacob und Wilhelm Grimm, Der Wolf und die sieben jungen Geißlein);
⊚ mehr sein als scheinen (L293 Karl Simrock); niemand ist, der so einfältig wäre; ist jemand, der das nicht glaubt?;
⊚ was nicht ist, kann noch werden (L293 Karl Simrock); wenn das ist, bin ich bereit; wenn du nicht wärst, an wen sollte ich mich wenden?, wenn er nicht gewesen wäre, so würde ich zugrunde gegangen sein, wenn die Künste nicht wären (L305 Christoph Ernst Steinbach); alle rufen: ›wohl es sey!‹(Volkslied; L059 DWb). Ferner Verbindungen mit dem Infinitiv: es kann, soll, muß sein, es darf nicht sein, es braucht nicht zu sein, Prozesse müssen sein, etwas sein lassen (ahd. ), umgangssprachlich laß das (sein)! (L059 DWb), wenn ich nicht mehr sein werde; sie ist nicht mehr, diese goldne Zeit(A121 Johann Gottfried Herder, Über den Fleiß 1,1), attributiv der gewesenen dinge… vergessen (Lohenstein; L059 DWb); gehoben dort wird keine Klage mehr sein, du wirst aufhören zu sein. Weiter es sei und sei es, daß… (oder) sei es, daß… , als hypothetisches Zugeständnis mittelhochdeutsch ohne denn: un sidaz da si (L059 DWb); als Wort mit selbständigem Sinn auch noch in Sätzen wie das Konzert ist morgen, das ist für deine Mühe, wie ist es damit, wie dem auch seyn mochte (Wieland; L059 DWb); (⇑ "denn", "nur"); nur gehoben, nicht ohne Einfluß der antiken Sprachen sind Verbindungen mit dem Dativ: ich fragte, wem dieses Kind wäre(Gellert), sind uns nicht Waffen, Kraft und Arme? (Grillparzer); einerlei Gesetz sei dem Einheimischen und dem Fremdling (Luther); dem Schicksal ist es, nicht den Göttern, zu schenken das Leben und zu nehmen(Goethe); heute landschaftlich (besonders fränkisch) die Bildung von seinmit Dativ im Sinne von ›jmd. gehören‹ (↑ "gehören"; vgl. L066 Jürgen Eichhoff, Karte 3–61). Dagegen der allgemeinen Sprache angehörig sind Wendungen wie was ist dir? mhd. er vragete waz im were (L059 DWb), es ist mir (nicht) um das Geld. Als Verbindungswort (Kopula) wird seingewöhnlich nur dann gefaßt, wenn daneben ein Adjektiv oder Substantiv als Prädikativ steht (er ist gut, ein Held); so auch in gleichsetzender Funktion in der Definition: Vernunft ist das Vermögen, welches die Principien der Erkenntnis a priori an die Hand gibt (I.A153 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft; AA 3,42f.), im metaphorisierenden Ausdruck: ein feste Burg ist unser Gott(Luther); in bezug auf die Verbindung mit prädikativen Adverbien: Daß der Satz wie ist er? auf eine Linie gestellt werden muß mit dem Satz er ist gut, ergibt sich daraus, daß letzterer die Antwort auf ersteren sein kann, Wenn Klytaimnestra war, wie ich sie mir vorstelle… – Sie ist, wie ich sie mir vorstelle (Ch.A284 Christa Wolf, Kassandra 12), desgleichen er ist so, ich bin wohl: wohl seyn, wohl auf seyn (J. L.L078 Johann Leonhard Frisch); mundartlich du bist lange ›bleibst lange aus‹; Verbindungen mit Ortsadverbien: er ist da, hier, oben, unten, drin, draußen, drüben usw.; mit präpositionalen Ortsbestimmungen: er ist zu Hause, in der Stadtusw.; mit Richtungsbezeichnungen, indem das Resultat einer Bewegung ausgedrückt wird: nach Berlin, in die Stadt sein, er freuet sich, daß der Vater wieder hinaus auf das Land, an seine Arbeit ist(A177 Gotthold Ephraim Lessing, Hamburgische Dramaturgie 98;10,199); darf ich fragen, wo ihr her seyd? (Weise; L059 DWb), hinein, hinaus, hinab, hinauf, zurück sein; übertragen hinter jmdm. her sein, mittelhochdeutsch mit nach (L059 DWb), suchtest du den Götz? Der ist lang' hin (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Götz 5) ›gestorben‹, aus dem Haus sein; ein Resultat wird auch ausgedrückt durch er (es) ist vorbei, vorüber(auch zeitlich), über die Brücke, durch das Tor, hindurch sein; auch die meisten zugleich als Präpositionen fungierenden Adverbien können neben sein stehen, ohne mit diesem wie andere Verben zusammengeschrieben zu werden: ab, auf, aus, mit, über, um sein; an die Ortsbestimmungen schließen sich Zustandsbestimmungen: in Gefahr, im Begriff, imstande, auf der Hut, auf der Lauer, unter Aufsicht, bei Verstand, außerstande, ohne Schuld, von Sinnen, für, gegen/ wider den Vorschlag, zu Ende sein; in Verbindung mit lassen: las jn… deinen Knecht sein (A180 Martin Luther, 5.Mose 15,17), umgangssprachlich im Sinn eines Versprechens laszt's mich nur erst'n wirten da sein (Anzengruber; L059 DWb), ich drück' ein auge zu, lasz fünfe grad sein (Tieck; L059 DWb), mit wollen: ob ihr gleich ein heiliger mann seyn wolt(Ch.Weise; L059 DWb), in der rhetorischen Frage zum Ausdruck des Gegenteils und das will ein gebildeter mann sein? (L059 DWb); ferner die Verbindungen mit zu und Infinitiv (Konstruktion althochdeutsch): die Schuld ist zu bezahlen, was ist zu machen?; unpersönlich mir ist wohl, weh, bange, übel, angst, so zumute, es ist (mir) als ob; prädikativer Genitiv durch seinmit dem Subjekt verbunden, veraltet zur Bezeichnung des Eigentümers: so sind wir des Herrn (Luther); übertragen in allgemeinem Gebrauch des Teufels, des Todes sein: du muost des todes wesen (Nibelungenlied; L059 DWb); allgemein üblich geblieben sind bestimmte Wendungen, in denen der Genitiv eine Eigenschaft bezeichnet: guten (früher: gutes) Mutes, mhd. hohes muotes (L059 DWb), las dein hertz guter ding sein (A180 Martin Luther, Richter 19,6), reinen (früher: reines) Herzens, der Ansicht, willens sein usw. Aus den Verbindungen mit Adjektiven sind die mit dem Partizip Perfekt besonders hervorzuheben. Sie dienen zum Ersatz für das Perfekt Passiv bei transitiven Verben, in unpersönlichen Sätzen auch bei intransitiven: es ist getanzt (↑ "werden"); bei einer Reihe von intransitiven Verben auch für das Perfekt Aktiv. Es konkurriert hier mit ↑ "haben" (L012 Otto Behaghel, Syntax 2,273ff.). Die ursprünglichen Verhältnisse in bezug auf die Anwendung von haben und sein haben sich jetzt vielfach verschoben, doch ist noch deutlich die Regel zu erkennen, daß sein angewendet wird, wenn Übergang in einen Zustand ausgedrückt wird: ich habe sehr gefroren, aber der Fluß ist gefroren; er hat lange vor dem Kruzifix gekniet, aber er ist niedergekniet; er hat die ganze Nacht gewacht, aber er ist aufgewacht, erwacht.
Seinist das ⇓ "S093" substantivierte Verb sein, hat also noch einen dynamischen Aspekt. In der Literatur auf das menschliche Da-Sein bezogen: dich einzig nur dachten alle gedanken, / du warst mein eigenstes, mein einzig sein (Tieck; L059 DWb); die Hamlet-Frage Sein oder Nichtsein (Schlegel/ A239 William Shakespeare, Hamlet 3,1) wird im Englischen verbal formuliert: To be or not to be. ⇓ "S168" Philosophisch ist Sein ein Grundwort, z. B. in A115 Martin Heideggers Philosophie »der selbstverständliche Begriff« (Sein und Zeit 141977,4): Alles Seiende ist im Sein (Was ist das – die Philosophie? 1958,13), Das Dasein ist ein Seiendes (Sein und Zeit 12), diesem Seienden (geht es) in seinem Sein um dieses Sein selbst (ebenda); im dialektischen Materialismus gibt es speziell gesellschaftliches Sein: Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt (A186 Karl Marx/ A186 Friedrich Engels, Zur Kritik der politischen Ökonomie; MEW 13,9); dazu die kritische Sentenz (Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt 14.9.90,3): Das Sein verstimmt das Bewußtsein. Zusammensetzungen "Bewußtsein", "Dasein".
⊚ seinesgleichen suchen;
seinetwegen mhd. von sinen wegen, seit dem Frühneuhochdeutschen festes Kompositum: ich that es seinetwegen (L003 Johann Christoph Adelung 1780), in indirekter Rede (wie "meinetwegen" in direkter) auch zum Ausdruck von (gleichgültigem) Einverständnis: das dürfe er wiederholen, seinetwegen so oft er wolle (Hebbel; L059 DWb);
seinetwillen mhd. durch sinen willen (Hartmann von Aue; L059 DWb), heute präpositional nur mit um (vgl. L308 Kaspar Stieler).
2 ⇓ "S087" ahd. / mhd. sin, Verb, im 18. Jahrhundert zur Unterscheidung von dem Pronomen seyn geschrieben. Das Paradigma von seinsetzt sich schon im Urgermanischen zusammen aus Formen, die aus drei ganz verschiedenen Stämmen gebildet werden. Stamm es- in ist (griech. estí, lat. est; zur landschaftlich unterschiedlichen Aussprache von ist siehe L066 Jürgen Eichhoff, Karte 4–64), in abgeschwächter Form s-in sind, sei usw. (lat. sunt; zur landschaftlich unterschiedlichen Aussprache von sind – besonders im Süddeutschen – siehe L066 Jürgen Eichhoff, Karte 4–65); Stamm bheu- (griech. phýo, lat. fui) in umgestalteter Form in bin, bist; Stamm wes- (altind. ›verweilen‹). Von diesem Stamm, dem das Präteritum war (mhd. was, wie noch im Frühneuhochdeutschen und später altertümelnd, Plural waren) und das Partizip gewesen (mundartlich auch gewest) angehören, wurde ursprünglich auch der Infinitiv Präsens gebildet: mhd. wesen, erhalten in dem Substantiv "Wesen" (auch in ↑ "Verweser"); ferner das Partizip Präsens: mhd. wesende, erhalten in "abwesend", "anwesend". Der Imperativ lautet früher bis, anstelle eines noch älteren wis getreten, noch jetzt in vielen Mundarten, in der Literatur bis ins 17. Jahrhundert, später nur zu mundartlicher oder archaischer Färbung: bis mein Liebchen, bis mein Weib(G.A.Bürger); der Imperativ Plural süddeutsch heute seids!(auch österreichisch) und sind! (auch schweizerisch), vgl. L066 Jürgen Eichhoff, Karte 4–78. Im Indikativ Präsens bestanden im Mittelhochdeutschen die Formen wir sin –si sint; in der jetzigen Schriftsprache ist sind auch für die erste Person, in manchen Mundarten umgekehrt sein für die dritte; dies erscheint auch bei älteren Schriftstellern: wenn wir in höchsten Nöten sein (Peber) (H.L236 Hermann Paul, Deutsche Grammatik II,III,268ff.). Seinwird teils wie andere Verben selbständig gebraucht und drückt dann aus, daß etwas wirklich existiert; ⇓ "S073" teils ist der ursprüngliche Sinn so verblaßt, daß es nur noch die Funktion hat, zwei Vorstellungen zu einer Aussage zu verknüpfen. Das erstere ist zweifellos der Fall, wenn es keine Bestimmung neben sich hat: Gott ist, es ist ein Gott, Wenn ich auch zur Pflanze würde, wäre denn der Schade so groß? – Ich werde seyn (A131 Friedrich Hölderlin, Hyperion 148), Ich denke, also bin ich (L004 Johann Christoph Adelung), deutsche Übersetzung von Descartes cogito ergo sum; derartige Sätze gehören der neueren philosophischen Sprache an, aus der allgemeinen Umgangssprache stellen sich hierher Sätze wie Es war einmal eine alte Geiß(Brüder A087 Jacob und Wilhelm Grimm, Der Wolf und die sieben jungen Geißlein);
⊚ mehr sein als scheinen (L293 Karl Simrock); niemand ist, der so einfältig wäre; ist jemand, der das nicht glaubt?;
⊚ was nicht ist, kann noch werden (L293 Karl Simrock); wenn das ist, bin ich bereit; wenn du nicht wärst, an wen sollte ich mich wenden?, wenn er nicht gewesen wäre, so würde ich zugrunde gegangen sein, wenn die Künste nicht wären (L305 Christoph Ernst Steinbach); alle rufen: ›wohl es sey!‹(Volkslied; L059 DWb). Ferner Verbindungen mit dem Infinitiv: es kann, soll, muß sein, es darf nicht sein, es braucht nicht zu sein, Prozesse müssen sein, etwas sein lassen (ahd. ), umgangssprachlich laß das (sein)! (L059 DWb), wenn ich nicht mehr sein werde; sie ist nicht mehr, diese goldne Zeit(A121 Johann Gottfried Herder, Über den Fleiß 1,1), attributiv der gewesenen dinge… vergessen (Lohenstein; L059 DWb); gehoben dort wird keine Klage mehr sein, du wirst aufhören zu sein. Weiter es sei und sei es, daß… (oder) sei es, daß… , als hypothetisches Zugeständnis mittelhochdeutsch ohne denn: un sidaz da si (L059 DWb); als Wort mit selbständigem Sinn auch noch in Sätzen wie das Konzert ist morgen, das ist für deine Mühe, wie ist es damit, wie dem auch seyn mochte (Wieland; L059 DWb); (⇑ "denn", "nur"); nur gehoben, nicht ohne Einfluß der antiken Sprachen sind Verbindungen mit dem Dativ: ich fragte, wem dieses Kind wäre(Gellert), sind uns nicht Waffen, Kraft und Arme? (Grillparzer); einerlei Gesetz sei dem Einheimischen und dem Fremdling (Luther); dem Schicksal ist es, nicht den Göttern, zu schenken das Leben und zu nehmen(Goethe); heute landschaftlich (besonders fränkisch) die Bildung von seinmit Dativ im Sinne von ›jmd. gehören‹ (↑ "gehören"; vgl. L066 Jürgen Eichhoff, Karte 3–61). Dagegen der allgemeinen Sprache angehörig sind Wendungen wie was ist dir? mhd. er vragete waz im were (L059 DWb), es ist mir (nicht) um das Geld. Als Verbindungswort (Kopula) wird seingewöhnlich nur dann gefaßt, wenn daneben ein Adjektiv oder Substantiv als Prädikativ steht (er ist gut, ein Held); so auch in gleichsetzender Funktion in der Definition: Vernunft ist das Vermögen, welches die Principien der Erkenntnis a priori an die Hand gibt (I.A153 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft; AA 3,42f.), im metaphorisierenden Ausdruck: ein feste Burg ist unser Gott(Luther); in bezug auf die Verbindung mit prädikativen Adverbien: Daß der Satz wie ist er? auf eine Linie gestellt werden muß mit dem Satz er ist gut, ergibt sich daraus, daß letzterer die Antwort auf ersteren sein kann, Wenn Klytaimnestra war, wie ich sie mir vorstelle… – Sie ist, wie ich sie mir vorstelle (Ch.A284 Christa Wolf, Kassandra 12), desgleichen er ist so, ich bin wohl: wohl seyn, wohl auf seyn (J. L.L078 Johann Leonhard Frisch); mundartlich du bist lange ›bleibst lange aus‹; Verbindungen mit Ortsadverbien: er ist da, hier, oben, unten, drin, draußen, drüben usw.; mit präpositionalen Ortsbestimmungen: er ist zu Hause, in der Stadtusw.; mit Richtungsbezeichnungen, indem das Resultat einer Bewegung ausgedrückt wird: nach Berlin, in die Stadt sein, er freuet sich, daß der Vater wieder hinaus auf das Land, an seine Arbeit ist(A177 Gotthold Ephraim Lessing, Hamburgische Dramaturgie 98;10,199); darf ich fragen, wo ihr her seyd? (Weise; L059 DWb), hinein, hinaus, hinab, hinauf, zurück sein; übertragen hinter jmdm. her sein, mittelhochdeutsch mit nach (L059 DWb), suchtest du den Götz? Der ist lang' hin (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Götz 5) ›gestorben‹, aus dem Haus sein; ein Resultat wird auch ausgedrückt durch er (es) ist vorbei, vorüber(auch zeitlich), über die Brücke, durch das Tor, hindurch sein; auch die meisten zugleich als Präpositionen fungierenden Adverbien können neben sein stehen, ohne mit diesem wie andere Verben zusammengeschrieben zu werden: ab, auf, aus, mit, über, um sein; an die Ortsbestimmungen schließen sich Zustandsbestimmungen: in Gefahr, im Begriff, imstande, auf der Hut, auf der Lauer, unter Aufsicht, bei Verstand, außerstande, ohne Schuld, von Sinnen, für, gegen/ wider den Vorschlag, zu Ende sein; in Verbindung mit lassen: las jn… deinen Knecht sein (A180 Martin Luther, 5.Mose 15,17), umgangssprachlich im Sinn eines Versprechens laszt's mich nur erst'n wirten da sein (Anzengruber; L059 DWb), ich drück' ein auge zu, lasz fünfe grad sein (Tieck; L059 DWb), mit wollen: ob ihr gleich ein heiliger mann seyn wolt(Ch.Weise; L059 DWb), in der rhetorischen Frage zum Ausdruck des Gegenteils und das will ein gebildeter mann sein? (L059 DWb); ferner die Verbindungen mit zu und Infinitiv (Konstruktion althochdeutsch): die Schuld ist zu bezahlen, was ist zu machen?; unpersönlich mir ist wohl, weh, bange, übel, angst, so zumute, es ist (mir) als ob; prädikativer Genitiv durch seinmit dem Subjekt verbunden, veraltet zur Bezeichnung des Eigentümers: so sind wir des Herrn (Luther); übertragen in allgemeinem Gebrauch des Teufels, des Todes sein: du muost des todes wesen (Nibelungenlied; L059 DWb); allgemein üblich geblieben sind bestimmte Wendungen, in denen der Genitiv eine Eigenschaft bezeichnet: guten (früher: gutes) Mutes, mhd. hohes muotes (L059 DWb), las dein hertz guter ding sein (A180 Martin Luther, Richter 19,6), reinen (früher: reines) Herzens, der Ansicht, willens sein usw. Aus den Verbindungen mit Adjektiven sind die mit dem Partizip Perfekt besonders hervorzuheben. Sie dienen zum Ersatz für das Perfekt Passiv bei transitiven Verben, in unpersönlichen Sätzen auch bei intransitiven: es ist getanzt (↑ "werden"); bei einer Reihe von intransitiven Verben auch für das Perfekt Aktiv. Es konkurriert hier mit ↑ "haben" (L012 Otto Behaghel, Syntax 2,273ff.). Die ursprünglichen Verhältnisse in bezug auf die Anwendung von haben und sein haben sich jetzt vielfach verschoben, doch ist noch deutlich die Regel zu erkennen, daß sein angewendet wird, wenn Übergang in einen Zustand ausgedrückt wird: ich habe sehr gefroren, aber der Fluß ist gefroren; er hat lange vor dem Kruzifix gekniet, aber er ist niedergekniet; er hat die ganze Nacht gewacht, aber er ist aufgewacht, erwacht.
Seinist das ⇓ "S093" substantivierte Verb sein, hat also noch einen dynamischen Aspekt. In der Literatur auf das menschliche Da-Sein bezogen: dich einzig nur dachten alle gedanken, / du warst mein eigenstes, mein einzig sein (Tieck; L059 DWb); die Hamlet-Frage Sein oder Nichtsein (Schlegel/ A239 William Shakespeare, Hamlet 3,1) wird im Englischen verbal formuliert: To be or not to be. ⇓ "S168" Philosophisch ist Sein ein Grundwort, z. B. in A115 Martin Heideggers Philosophie »der selbstverständliche Begriff« (Sein und Zeit 141977,4): Alles Seiende ist im Sein (Was ist das – die Philosophie? 1958,13), Das Dasein ist ein Seiendes (Sein und Zeit 12), diesem Seienden (geht es) in seinem Sein um dieses Sein selbst (ebenda); im dialektischen Materialismus gibt es speziell gesellschaftliches Sein: Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt (A186 Karl Marx/ A186 Friedrich Engels, Zur Kritik der politischen Ökonomie; MEW 13,9); dazu die kritische Sentenz (Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt 14.9.90,3): Das Sein verstimmt das Bewußtsein. Zusammensetzungen "Bewußtsein", "Dasein".