Hermann Paul - Deutsches Wörterbuch
sehen
ahd. sehan, mhd. sehen, gemeingermanisch (got. saifan, engl. see), urverwandt lat. sequi, ursprünglich wohl ⇓ "S100" Jägerwort; lett. seku ›spüren, wittern‹ (vom Hund); Imperativ mundartlich vielfach noch sich wie im Mittelhochdeutschen, regelmäßig sieh, biblisch und gehoben siehe, auch sehe zuweilen (Goethe). Für das Präteritum ist die Form sahe noch aus der Bibel bekannt. Es berührt sich in der Verwendung mit "schauen" und "blicken". Seine Syntax ist mit der von "hören" nahe verwandt;1 ohne Bestimmung im Partizip Präsens die Fähigkeit zum Sehen bezeichnend: ich was mit sehenden augen blint (Walther v. d.Vogelweide; L059 DWb), die Blinden sehend machen; desgleichen im Infinitiv neben können und bei Substantivierung:
⊚ daß ihm Hören und Sehen vergeht. Formal ohne Bestimmung ist das aufmerksam machende biblische siehe, doch liegt indirekt eine Bestimmung in dem folgenden Satz: Vnd sihe / eine stimme aus der wolcken sprach (A180 Martin Luther, Matthäus 17,5), jetzt sieh da: Sieh da, sieh da, Timotheus (A222 Friedrich Schiller, Die Kraniche des Ibycus), auf nichtoptische Wahrnehmung bezogen häufig Ausdruck des Erstaunens; analog fragend, häufig rhetorisch Siehst du, daß ich recht hatte?;
⊚ hast du nicht gesehen? (L059 DWb) zur Bezeichnung großer Schnelligkeit, wie ein Adverb verwendet. In Verweisen wie siehe oben, weiter unten ist ein Objekt aus dem Zusammenhang zu entnehmen; in wie ich sehe liegt das Objekt im regierenden Satz. Ungewöhnlich absolut der Knabe hob seine Augen auf und sahe (Luther), man kommt zu schaun, man will am liebsten sehn(A075 Johann Wolfgang von Goethe, Faust I,90); substantivisch ich kenne ihn nur vom Sehen ›flüchtig‹ (L320 Trübner);
2 ohne Objekt mit einem Adverb der Art und Weise, die Fähigkeit zum Sehen überhaupt oder unter bestimmten Bedingungen bezeichnend: er sieht gut, schlecht, bei Licht nicht gut, übertragen
⊚ (zu) schwarz sehen. Dagegen auf den einzelnen Akt des Sehens geht ich sehe recht, falsch,
⊚ sehe ich recht?; sehr häufig mit Richtungsbezeichnungen: vorwärts, rückwärts, geradeaus, hinauf, herab usw., mit Präpositionen auf, in, nach etwas/ jmdm. sehen: nach einem Kranken sehen (L169 Matthias Kramer) ›sich kümmern‹; mit Dativ und Richtungsbezeichnung zur Bezeichnung sehr bewußter Wahrnehmung:
⊚⊚ der warheit… recht ins angesicht sehend (16. Jahrhundert; L059 DWb), jmdm. in die Augen sehen, jmdm. auf die Finger sehen (J. L.L078 Johann Leonhard Frisch) ›kontrollieren‹; veraltet sehen zu, am längsten im Sinne von ›achthaben auf etwas, Sorge für etwas tragen‹: zum Rechten sehen, jetzt
⊚⊚ nach dem Rechten sehen, auf etwas sehen ›Wert auf etwas legen‹: auff sein nutz Sähen (L200 Josua Maaler); übertragen von leblosen Dingen ›ausgerichtet sein‹ (lat. spectare): zu dem hohen Berge, der gegen die Wüste siehet (Luther), das Fenster, das auf die Palmen sieht(Lessing), Zimmer, die in den Hof sahen (Goethe). Anderer Art sind die folgenden präpositionalen Verbindungen: er kann nicht aus den Augen sehen, durch eine Brille, mit eigenen Augen sehen,
⊚ durch die Finger sehen ›nachsichtig sein‹ (L037 Petrus Dasypodius);
3 mit Akkusativ-Objekt jmdn. sehen, ›treffen‹, achtzehn Jahre nicht mehr gesehn (A222 Friedrich Schiller, Räuber 4,2), jmdn. gern sehen: einen gern sähen oder vast lieben (L200 Josua Maaler), dagegen
⊚⊚ ich kann ihn nicht mehr sehen ›nicht mehr leiden‹ (vgl. L059 DWb), etwas (nicht) gern sehen ›(nicht) leiden können‹, ›(miß-)billigen‹, zum Ausdruck tiefer Überzeugung ich will den sehen, der mich im talent des liebens übertrifft (Goethe; L059 DWb); es gibt hier was zu sehen (L169 Matthias Kramer) ›hier ist was los‹; jmdn. gut gesehen haben [›eingeschätzt‹], auf die künstlerische Darstellung bezogen ›gestaltet haben‹; abgeblaßt ›kennen‹: ich han lande vil gesehen (Walther v. d.Vogelweide; L059 DWb), Hast du den Umlauf gesehen?,
⊚ oder wie seh ich das? ›stimmt das?‹; mit adverbialer Bestimmung: ich sehe das Haus gut, mit eigenen Augen, durch das Fernrohr, von weitem, aus der Ferne. Steht eine Ortsbestimmung daneben, so kann dieselbe entweder für das Subjekt oder für das Objekt oder für beide gelten: ich sah ihn in der Kirche, bei Müllers, bloß für das Objekt: ich sah ihn am Arm einer Dame, auf einem Schimmel, in seinem Wagen, ich sehe ein Loch in deinem Rock; daran schließen sich Wendungen wie ich sehe ihn in Bedrängnis, im Begriff abzureisen, in denen die Form der Ortsbestimmung auf Zustandsbestimmungen übertragen ist, abgeblaßt sie sieht sich als Opfer ›glaubt, ein Opfer zu sein‹; das Verhältnis der adverbialen Bestimmung ist hier analog dem eines prädikativen Adjektivs oder Substantivs (siehe unter [5]). Wird dagegen bloß der Standpunkt des Subjekts angegeben, den das Objekt nicht teilt, so wird der Vorgang als Bewegung gefaßt: ich sah ihn vom Fenster aus. Häufig ist die Verbindung sich sehen lassen; sie deckt sich z. T. mit sich blicken lassen, aber hierin ist sich von lassen abhängig, übertragen
⊚ das kann sich sehen lassen ›das ist beachtlich‹ (vgl. L059 DWb);
4 neben dem Akkusativ kann auch noch ein Infinitiv von sehenabhängen: ich sehe einen Adler fliegen. Von dem Infinitiv kann wieder ein Akkusativ abhängen: ich sah ihn seinen Acker pflügen. Ein Infinitiv mit abhängigem Akkusativ kann neben sehenstehen ohne einen von diesem regierten Akkusativ: ich sah ihn begraben ›wie man ihn begrub‹. Nach einem solchen Infinitiv steht ein weiterer Infinitiv statt des Partizips Prät. : ich habe ihn davonlaufen sehen, dagegen mit Partizip Prät. : verkündige dorten, du habest / … Uns hier liegen gesehn (A222 Friedrich Schiller, Spaziergang);
5 neben dem Akkusativ kann ein prädikatives Adjektiv stehen, namentlich literarisch: ich sehe dich groß und stattlich (Voß), wie muß ich dich so traurig sehen (R.Wagner), er sieht alles schwarz; ein Partizip Prät. : ich sehe dich gegürtet und gerüstet(Schiller), ich will ihn vernichtet sehen; abgeblaßt ich sehe mich genötigt, gezwungen, veranlaßt, ungewöhnlich: er sah sich durch allerlei Treppen zur Mooshütte geleitet (Goethe). Hiervon ganz zu trennen und an intransitives sehenanzuschließen sich müde, satt sehen: das auge sihet sich nimmer satt (Luther; L059 DWb). Seltener steht ein prädikatives Substantiv im Akkusativ wann haben wir dich einen Gast gesehen (Luther), als ich mich einen Fremdling sah in diesem Kreise (Schiller); statt dessen auch der Nominativ : er sah sich schon gekrönt und unumschränkter Meister(Wieland);
6 auf geistiges Wahrnehmen bezogen: Da aber Jhesus jre gedancken sahe (A180 Martin Luther, Matthäus 9,4), im Sinne von ›ahnen‹: Zuekunftige Dinge sehen (L308 Kaspar Stieler); als Objekt gewöhnlich ein abhängiger Satz: ich sehe, daß er mich betrogen hat, wer die Schuld hat, formelhaft wie man sieht (L059 DWb), häufig eingeschoben; ist die geistige Wahrnehmung ein Schluß aus einer sinnlichen, so kann die letztere mit an angeknüpft werden: ich sah an der Blässe seines Gesichtes, daß… , ich sehe an deiner Verlegenheit, daß… ; auch an intransitives sehen angeschlossen, ›den Versuch zu einer geistigen Wahrnehmung machen‹: ich will (doch einmal) sehen, ob du die Wahrheit gesagt hast, heute in der gesprochenen Sprache elliptisch 'mal sehen, drohend ihr werdet schon sehen; ›versuchen, ob ein Unternehmen möglich ist‹: Sehe jeder wie er's treibe, / Sehe jeder wo er bleibe (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Beherzigung; I,1,65), ich will sehen (zusehen), ob ich ihn täuschen kann oder daß ich ihm zuvorkomme, daß er mich nicht einholt; auch mit zu und Infinitiv ich will sehen, sobald als möglich zurückzukehren; hierher auch
7 veraltet im Sinne von ›aussehen‹ auf den Ausdruck des Blicks bezogen, wenn ihr fastet, sollt ihr nicht sauer sehen (Luther), noch mundartlich und literarisch bis ins 19. Jahrhundert: du siehst krank (Tieck); nur gleich, ähnlich sehen, das schon L003 Johann Christoph Adelung 1780 allein (und nur mit einem Dativ) als hochdeutsch gelten läßt, hat sich nach L059 DWbbis um 1900 (ohne Dativ) gehalten, jetzt nur noch mit Dativ: er sieht ihm ähnlich, auch das sieht ihm gleich, ähnlich›entspricht seinem Wesen‹. Es hat den Anschein, als ob hier sehenpassivisch verwendet würde;
8 ähnlich in Wendungen wie ein Felsen sieht hinter dem Hügel hervor, ein Ernst sieht durch die freundliche Behandlung hindurch (Goethe). Auch diese gehen von solchen Fällen aus, wo man nur im Auge gehabt hat, wie sich ein nach etwas Ausschauender darstellt. Dem ursprünglichen Sinn noch näher steht z. B. der Tod sieht ihm aus den Augen (L305 Christoph Ernst Steinbach). ⇑ "Sicht", "Ansicht", "Gesicht", "absehen", "übersehen".
Seher A180 Martin Luther, 1.Samuel 9,9, in allgemeinem Sinn hauptsächlich in Zusammensetzungen "Geisterseher", Sternseher, sonst ›Prophet‹; die ⇓ "S140" movierte Form
Seherin bei A161 Friedrich Gottlieb Klopstock im konkreten Sinn von sehen: Die du himmlische Lieder mich lehrst… / Seherin Gottes (Messias 1,242f.), allgemein ›Prophetin‹: Marpessa, sah ich,… , war besser vorbereitet, auf das, was wir nun erfahren, als ich, die Seherin (Ch.A284 Christa Wolf, Kassandra 6);
sehenswürdig 1783 A222 Friedrich Schiller: Ah schön! schön! Sehenswürdig! (Fiesko 1,4);
Sehenswürdigkeit L033 Joachim Heinrich Campe 1810, auch schon konkret: es gibt hier viele Sehenswürdigkeiten;
Sehkraft (1693 L169 Matthias Kramer: Sehenskraft; L345 Friedrich Karl Ludwig Weigand/ L345 Herman Hirt): in meiner Stirne, wo die innere Sehkraft sich vereinigt (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Werther 19,139,25);
Sehwinkel Ende des 18. Jahrhunderts (Herder), um diesen Gegenstand in den Sehewinckel zu bringen (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Brief Mitte Dezember 1806).
⊚ daß ihm Hören und Sehen vergeht. Formal ohne Bestimmung ist das aufmerksam machende biblische siehe, doch liegt indirekt eine Bestimmung in dem folgenden Satz: Vnd sihe / eine stimme aus der wolcken sprach (A180 Martin Luther, Matthäus 17,5), jetzt sieh da: Sieh da, sieh da, Timotheus (A222 Friedrich Schiller, Die Kraniche des Ibycus), auf nichtoptische Wahrnehmung bezogen häufig Ausdruck des Erstaunens; analog fragend, häufig rhetorisch Siehst du, daß ich recht hatte?;
⊚ hast du nicht gesehen? (L059 DWb) zur Bezeichnung großer Schnelligkeit, wie ein Adverb verwendet. In Verweisen wie siehe oben, weiter unten ist ein Objekt aus dem Zusammenhang zu entnehmen; in wie ich sehe liegt das Objekt im regierenden Satz. Ungewöhnlich absolut der Knabe hob seine Augen auf und sahe (Luther), man kommt zu schaun, man will am liebsten sehn(A075 Johann Wolfgang von Goethe, Faust I,90); substantivisch ich kenne ihn nur vom Sehen ›flüchtig‹ (L320 Trübner);
2 ohne Objekt mit einem Adverb der Art und Weise, die Fähigkeit zum Sehen überhaupt oder unter bestimmten Bedingungen bezeichnend: er sieht gut, schlecht, bei Licht nicht gut, übertragen
⊚ (zu) schwarz sehen. Dagegen auf den einzelnen Akt des Sehens geht ich sehe recht, falsch,
⊚ sehe ich recht?; sehr häufig mit Richtungsbezeichnungen: vorwärts, rückwärts, geradeaus, hinauf, herab usw., mit Präpositionen auf, in, nach etwas/ jmdm. sehen: nach einem Kranken sehen (L169 Matthias Kramer) ›sich kümmern‹; mit Dativ und Richtungsbezeichnung zur Bezeichnung sehr bewußter Wahrnehmung:
⊚⊚ der warheit… recht ins angesicht sehend (16. Jahrhundert; L059 DWb), jmdm. in die Augen sehen, jmdm. auf die Finger sehen (J. L.L078 Johann Leonhard Frisch) ›kontrollieren‹; veraltet sehen zu, am längsten im Sinne von ›achthaben auf etwas, Sorge für etwas tragen‹: zum Rechten sehen, jetzt
⊚⊚ nach dem Rechten sehen, auf etwas sehen ›Wert auf etwas legen‹: auff sein nutz Sähen (L200 Josua Maaler); übertragen von leblosen Dingen ›ausgerichtet sein‹ (lat. spectare): zu dem hohen Berge, der gegen die Wüste siehet (Luther), das Fenster, das auf die Palmen sieht(Lessing), Zimmer, die in den Hof sahen (Goethe). Anderer Art sind die folgenden präpositionalen Verbindungen: er kann nicht aus den Augen sehen, durch eine Brille, mit eigenen Augen sehen,
⊚ durch die Finger sehen ›nachsichtig sein‹ (L037 Petrus Dasypodius);
3 mit Akkusativ-Objekt jmdn. sehen, ›treffen‹, achtzehn Jahre nicht mehr gesehn (A222 Friedrich Schiller, Räuber 4,2), jmdn. gern sehen: einen gern sähen oder vast lieben (L200 Josua Maaler), dagegen
⊚⊚ ich kann ihn nicht mehr sehen ›nicht mehr leiden‹ (vgl. L059 DWb), etwas (nicht) gern sehen ›(nicht) leiden können‹, ›(miß-)billigen‹, zum Ausdruck tiefer Überzeugung ich will den sehen, der mich im talent des liebens übertrifft (Goethe; L059 DWb); es gibt hier was zu sehen (L169 Matthias Kramer) ›hier ist was los‹; jmdn. gut gesehen haben [›eingeschätzt‹], auf die künstlerische Darstellung bezogen ›gestaltet haben‹; abgeblaßt ›kennen‹: ich han lande vil gesehen (Walther v. d.Vogelweide; L059 DWb), Hast du den Umlauf gesehen?,
⊚ oder wie seh ich das? ›stimmt das?‹; mit adverbialer Bestimmung: ich sehe das Haus gut, mit eigenen Augen, durch das Fernrohr, von weitem, aus der Ferne. Steht eine Ortsbestimmung daneben, so kann dieselbe entweder für das Subjekt oder für das Objekt oder für beide gelten: ich sah ihn in der Kirche, bei Müllers, bloß für das Objekt: ich sah ihn am Arm einer Dame, auf einem Schimmel, in seinem Wagen, ich sehe ein Loch in deinem Rock; daran schließen sich Wendungen wie ich sehe ihn in Bedrängnis, im Begriff abzureisen, in denen die Form der Ortsbestimmung auf Zustandsbestimmungen übertragen ist, abgeblaßt sie sieht sich als Opfer ›glaubt, ein Opfer zu sein‹; das Verhältnis der adverbialen Bestimmung ist hier analog dem eines prädikativen Adjektivs oder Substantivs (siehe unter [5]). Wird dagegen bloß der Standpunkt des Subjekts angegeben, den das Objekt nicht teilt, so wird der Vorgang als Bewegung gefaßt: ich sah ihn vom Fenster aus. Häufig ist die Verbindung sich sehen lassen; sie deckt sich z. T. mit sich blicken lassen, aber hierin ist sich von lassen abhängig, übertragen
⊚ das kann sich sehen lassen ›das ist beachtlich‹ (vgl. L059 DWb);
4 neben dem Akkusativ kann auch noch ein Infinitiv von sehenabhängen: ich sehe einen Adler fliegen. Von dem Infinitiv kann wieder ein Akkusativ abhängen: ich sah ihn seinen Acker pflügen. Ein Infinitiv mit abhängigem Akkusativ kann neben sehenstehen ohne einen von diesem regierten Akkusativ: ich sah ihn begraben ›wie man ihn begrub‹. Nach einem solchen Infinitiv steht ein weiterer Infinitiv statt des Partizips Prät. : ich habe ihn davonlaufen sehen, dagegen mit Partizip Prät. : verkündige dorten, du habest / … Uns hier liegen gesehn (A222 Friedrich Schiller, Spaziergang);
5 neben dem Akkusativ kann ein prädikatives Adjektiv stehen, namentlich literarisch: ich sehe dich groß und stattlich (Voß), wie muß ich dich so traurig sehen (R.Wagner), er sieht alles schwarz; ein Partizip Prät. : ich sehe dich gegürtet und gerüstet(Schiller), ich will ihn vernichtet sehen; abgeblaßt ich sehe mich genötigt, gezwungen, veranlaßt, ungewöhnlich: er sah sich durch allerlei Treppen zur Mooshütte geleitet (Goethe). Hiervon ganz zu trennen und an intransitives sehenanzuschließen sich müde, satt sehen: das auge sihet sich nimmer satt (Luther; L059 DWb). Seltener steht ein prädikatives Substantiv im Akkusativ wann haben wir dich einen Gast gesehen (Luther), als ich mich einen Fremdling sah in diesem Kreise (Schiller); statt dessen auch der Nominativ : er sah sich schon gekrönt und unumschränkter Meister(Wieland);
6 auf geistiges Wahrnehmen bezogen: Da aber Jhesus jre gedancken sahe (A180 Martin Luther, Matthäus 9,4), im Sinne von ›ahnen‹: Zuekunftige Dinge sehen (L308 Kaspar Stieler); als Objekt gewöhnlich ein abhängiger Satz: ich sehe, daß er mich betrogen hat, wer die Schuld hat, formelhaft wie man sieht (L059 DWb), häufig eingeschoben; ist die geistige Wahrnehmung ein Schluß aus einer sinnlichen, so kann die letztere mit an angeknüpft werden: ich sah an der Blässe seines Gesichtes, daß… , ich sehe an deiner Verlegenheit, daß… ; auch an intransitives sehen angeschlossen, ›den Versuch zu einer geistigen Wahrnehmung machen‹: ich will (doch einmal) sehen, ob du die Wahrheit gesagt hast, heute in der gesprochenen Sprache elliptisch 'mal sehen, drohend ihr werdet schon sehen; ›versuchen, ob ein Unternehmen möglich ist‹: Sehe jeder wie er's treibe, / Sehe jeder wo er bleibe (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Beherzigung; I,1,65), ich will sehen (zusehen), ob ich ihn täuschen kann oder daß ich ihm zuvorkomme, daß er mich nicht einholt; auch mit zu und Infinitiv ich will sehen, sobald als möglich zurückzukehren; hierher auch
7 veraltet im Sinne von ›aussehen‹ auf den Ausdruck des Blicks bezogen, wenn ihr fastet, sollt ihr nicht sauer sehen (Luther), noch mundartlich und literarisch bis ins 19. Jahrhundert: du siehst krank (Tieck); nur gleich, ähnlich sehen, das schon L003 Johann Christoph Adelung 1780 allein (und nur mit einem Dativ) als hochdeutsch gelten läßt, hat sich nach L059 DWbbis um 1900 (ohne Dativ) gehalten, jetzt nur noch mit Dativ: er sieht ihm ähnlich, auch das sieht ihm gleich, ähnlich›entspricht seinem Wesen‹. Es hat den Anschein, als ob hier sehenpassivisch verwendet würde;
8 ähnlich in Wendungen wie ein Felsen sieht hinter dem Hügel hervor, ein Ernst sieht durch die freundliche Behandlung hindurch (Goethe). Auch diese gehen von solchen Fällen aus, wo man nur im Auge gehabt hat, wie sich ein nach etwas Ausschauender darstellt. Dem ursprünglichen Sinn noch näher steht z. B. der Tod sieht ihm aus den Augen (L305 Christoph Ernst Steinbach). ⇑ "Sicht", "Ansicht", "Gesicht", "absehen", "übersehen".
Seher A180 Martin Luther, 1.Samuel 9,9, in allgemeinem Sinn hauptsächlich in Zusammensetzungen "Geisterseher", Sternseher, sonst ›Prophet‹; die ⇓ "S140" movierte Form
Seherin bei A161 Friedrich Gottlieb Klopstock im konkreten Sinn von sehen: Die du himmlische Lieder mich lehrst… / Seherin Gottes (Messias 1,242f.), allgemein ›Prophetin‹: Marpessa, sah ich,… , war besser vorbereitet, auf das, was wir nun erfahren, als ich, die Seherin (Ch.A284 Christa Wolf, Kassandra 6);
sehenswürdig 1783 A222 Friedrich Schiller: Ah schön! schön! Sehenswürdig! (Fiesko 1,4);
Sehenswürdigkeit L033 Joachim Heinrich Campe 1810, auch schon konkret: es gibt hier viele Sehenswürdigkeiten;
Sehkraft (1693 L169 Matthias Kramer: Sehenskraft; L345 Friedrich Karl Ludwig Weigand/ L345 Herman Hirt): in meiner Stirne, wo die innere Sehkraft sich vereinigt (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Werther 19,139,25);
Sehwinkel Ende des 18. Jahrhunderts (Herder), um diesen Gegenstand in den Sehewinckel zu bringen (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Brief Mitte Dezember 1806).