Hermann Paul - Deutsches Wörterbuch
Seele
ahd. se(u)la, mhd. sele, altgermanisch (got. saiwala, engl. soul) ⇓ "S063" ungeklärter Herkunft (vgl. W.L244 Wolfgang Pfeifer). Der Tod war zunächst die Veranlassung, daß die Vorstellung von einer Seele entstand, indem man sich das Aufhören der Lebenserscheinungen dadurch erklärte, daß etwas bis dahin mit dem Leibe Verbundenes denselben verlassen habe. So wird noch im Mittelhochdeutschen sele mit wenigen Ausnahmen nur gebraucht1.1 für das vom Körper unabhängig existierende Wesen, namentlich also, wo es sich um das Schicksal im Jenseits handelt. Diesem ältesten Gebrauch entspricht es, wenn wir von den
(armen) Seelen (in der Hölle, im Fegefeuer) reden, Zusammensetzungen Seelenheil, Seelenmesse, Seelsorge, Seelsorger (s. unten), Seelenwanderung, "Allerseelen"(tag); auch der Schwur
⊚⊚ Bey meiner Seele (L308 Kaspar Stieler), bei meiner armen Seele, mein(er) Seel' auch bi sines vater sele(Iwein; L059 DWb); das ⇓ "S050" Diminutiv Seelchen zum Ausdruck irdischer Geringfügigkeit: mein herr Jhesu Christ, las dir mein selichen befolhen sein (Luther; L059 DWb), abgeblaßt zum ⇓ "S118" Kosewort (vgl. L059 DWb), heute ironisch von rührseligen Frauen (vgl. L097 GWb). Erst allmählich
1.2Sitz der inneren Vorgänge‹, im lebenden Menschen und weiterhin auch im Tier; Luthers Bibelübersetzung ist dabei wohl von großem Einfluß gewesen. Es werden nun "Leib" und Seele häufig gegenübergestellt zur Bezeichnung des Gegensatzes zwischen diesseitigem und jenseitigem Leben. Zur Phrase abgeschliffen: ein an leib und seele verkrüppelte[r] literarischer matador (Grillparzer; L059 DWb), ebenso
ein Herz und eine Seele zur Bezeichnung von Einvernehmen nach A180 Martin Luther, Apostelgeschichte 4,32; der Vorstellung von Unsterblichkeit folgend: Die Seelen sind vntodtlich (L200 Josua Maaler), die unsterbliche Seele (L305 Christoph Ernst Steinbach), Seelen bekehren, gewinnen (L169 Matthias Kramer), dazu auch das Motiv der Käuflichkeit
seine Seele verkaufen: [für] eine gute zech weins.. wolte er jhme… seine seele verkeuffen (Luther; L059 DWb);
das ist mir aus der Seele gesprochenentspricht ganz meiner eigenen Überzeugung‹; ⇓ "S187" im 18. Jahrhundert auch in die Seele jmds. reden, sprechen, handeln usw., vielleicht im Anschluß an das noch ältere in die Seele jmds. schwören (in seinem Namen, so daß seine Seele dafür bürgt): Serenissimus haben in meine Seele gedacht (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Brief vom 16.2.02). Wenn die Seele jetzt auch als Substrat aller geistigen Vorgänge gedacht wird, so tritt doch vielfach speziell die Beziehung auf die Empfindung hervor: vom Hartherzigen
Er ist ohne Seele (L308 Kaspar Stieler), doch leblos, / Bis in die Seele stumm in meiner Trauer (A131 Friedrich Hölderlin, Emilie vor ihrem Brauttag), zur Bezeichnung inniger Verbindung Ännchen von Tharau… / … / Du meine Seele, mein Fleisch und mein Blut (S.Dach), Tönt die Seele Sympathieen wieder (A131 Friedrich Hölderlin, Melodie An Lyda), auch religiös gedeutet als schöne Seele (↑ "schön"[3.2]): So nahte meine Seele dem Menschgewordenen… und in dem Augenblicke wußte ich, was Glauben war (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Lehrjahre; I,22,316), dagegen Ausdruck von Zerrissenheit:
zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Faust I,1112); dem Seelenleben Jugendlicher entsprechend formuliert A199 Robert Musil: Von allen Eigentümlichkeiten dieses Wortes Seele ist aber die merkwürdigste, daß junge Menschen es nicht aussprechen können, ohne zu lachen (Mann 183); Gegensatz zu "Geist": Der Geist als Widersacher der Seele (Klages); so ist seelenvollvoll von tiefer Empfindung‹; um einen besonders starken Grad der Empfindung auszudrücken:
es tut mir in der Seele weh, er ist mir in der Seele zuwider, schäme dich in deine Seele hinein, auch
jmdm. etwas auf die Seele binden; daher in Zusammensetzungen zur ⇓ "S228" Verstärkung: seelenfroh, seelenvergnügt, seelengut u. a., auf Menschen bezogen: die dürstige… die hungerige seele (A180 Martin Luther, Psalm 107,9), eine gute, schöne, zarte, ehrliche, mitleidige, schwarze Seele u.dgl.,
er ist eine Seele von (einem) Mensch(en)ein empfindungsvoller, besonders gütiger Mensch‹; in der Anrede: du edle gute Seele (Hölderlin, An M. B.),
nun hat die liebe Seele Ruh nach A180 Martin Luther, Lukas 12,19, ferner Heldenseele, Krämerseele, Tyrannenseele usw.;
keine Seele ("Menschenseele", Mutterseele) ›kein Mensch‹, ↑ mutterseelenallein (↑ "Mutter"); bei Zählungen die Stadt hat 3000 Seelen(biblisch). In der Bibel erscheint Seele auch sonst (nach dem Grundtext) im Sinne von ›Person‹: wenn eine Seele durch Unwissenheit sündigen wird wenn eine Seele aus Frevel etwas tut; außer auf Menschen und Tiere auch auf andere Wesen bezogen Pflanzenseele, "Weltseele", auch Volksseele, Genius unsers Volks, / … Seele des Vaterlands (A131 Friedrich Hölderlin, An die Deutschen; 2,10), vom Wesen einer Sache: der im ganzen Werk herschende Gedanke, die Seele desselben (A121 Johann Gottfried Herder, Adrastea; 24,326), die Seele aller Pflichten, die Achtung gegen die Gattung (Schiller); übertragen ›dasjenige, was eine Sache in Bewegung setzt und leitet
die Seele von etwas sein: er ist die Seele des Unternehmens. Auch das materielle Innere verschiedener Gegenstände: Geschützseele und Gewehrseele; im Neutrum süddeutsch übertragen ›Teich‹ (↑ "Teich") (vgl. L066 Jürgen Eichhoff, Karte 3–53); seit dem 19. Jahrhundert in der ⇓ "S180" Psychoanalyse neutraler
1.3Sitz innerer Vorgänge‹: daß eine starke Tendenz zum Lustprinzip in der Seele besteht (S.A063 Sigmund Freud III,219); dazu beseelen, entseelen; ↑ "Psyche".
Seelenleben (1719; L059 DWb), übertragen das seelenleben der völker (Treitschke; L059 DWb); in der Psychoanalyse Wenn Schmerz und Unlust… selbst Ziele sein können, ist… der Wächter unseres Seelenlebens gleichsam narkotisiert (S.A063 Sigmund Freud III,343);
Seelenruhe (L308 Kaspar Stieler), abgeblaßt brave geschäftsleute, welche in aller seelenruhe auch den gewinn der unredlichen an sich bringen (G.Keller; L059 DWb), so vor allem
seelenruhig (L033 Joachim Heinrich Campe), häufig auf die Art und Weise sprachlichen Ausdrucks bezogen: fügte der Herrnhuter seelenruhig hinzu(Jean Paul; L033 Joachim Heinrich Campe);
Seelenverkäufer (um 1700) ›Sklavenhändler, Matrosenwerber‹ (⇓ "S124" Lehnübersetzung von niederländ. zielverkooper, vgl. L144 Johann Karl Gottfried Jacobsson [1794]: »Eine beruchtigte Beschäftigung in Holland«); auch ›leicht kenterndes Boot‹, dann allgemein ›ein kaum noch seetaugliches Schiff‹;  
Seelsorger um 1500; ›Geistlicher, Pfarrer‹;
seelisch (16. Jahrhundert; L059 DWb); die unsichtigen geistlichen creffte und seelischen würckungen (1576; L059 DWb), die seelischen Bedürfnisse (Auerbach; L264 Daniel Sanders), den seelischen Schmerz (L264 Daniel Sanders), psychoanalytisch seelische Vorgänge in einer Person, Vorstellungen, Erregungszustände, Willensimpulse (S.A063 Sigmund Freud I,480).
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