Hermann Paul - Deutsches Wörterbuch
schneiden
ahd. snidan, mhd. sniden, gemeingermanisches starkes Verb (got. sneiþan, altnord. sniða), urverwandt tschech. snet ›Ast‹ (eigentlich ›Abgeschnittenes‹);1 zum Ausdruck einer völligen Abtrennung,
1.1 als Objekt das Ganze, das in Teile zerlegt wird: einen Braten, Glas, Stämme (zu Brettern), Stroh (zu Häcksel) schneiden; ⇓ "S131" neu auf Film- und Tonbandaufnahmen bezogen ›bespielte Zelluloidstreifen durchtrennen und zu dem endgültigen Werk wieder zusammenfügen‹ (vgl. L320 Trübner), auch ›aufnehmen‹: eine Sendung (auf Tonband) schneiden(L097 GWb); etwas in Stücke schneiden, ↑ "aufschneiden", auseinanderschneiden, durchschneiden, entzweischneiden, kleinschneiden; zerschneiden;
1.2 als Objekt ein gewöhnlich mit einer Präposition angeknüpfter Gegenstand, der von einem anderen, oder ein Teil, der vom Ganzen abgetrennt wird: Vnd Dauid… schneitt leise einen zipffel vom Rock Saul (A180 Martin Luther, 1.Samuel 24,5), einen Zweig von einem Baum schneiden, veraltet ein Kind aus dem Mutterleib schneiden (↑ "Kaiserschnitt"); ohne solche Bestimmung Getreide, Gras schneiden, ohne Objekt ›ernten‹: dieser säet, der andere schneidet(Luther); hierher wohl auch
Geld schneiden(auf unrechtmäßige Weise) gewinnen‹, »seinen Schnitt bey einer Sache machen« (L004 Johann Christoph Adelung); neuer von schlecht gelüfteten Räumen
die Luft ist zum Schneiden dick (L320 Trübner); dazu ↑ "abschneiden", ausschneiden, losschneiden;
1.3 als Objekt der Gegenstand, von dem etwas abgeschnitten wird: das Haar, den Bart, die Nägel, Hühneraugen schneiden, im Sinne von ›kastrieren‹: einen Menschen oder Thier männlichen Geschlechts schneiden (J. L.L078 Johann Leonhard Frisch), ↑ "verschneiden";
1.4 das Resultat eines Zerschneidens als Objekt: Bretter, Scheiben, Häcksel schneiden;
2 im Sinn eines Einschneidens
2.1 fachsprachlich in der ⇓ "S132" Medizin ›operieren‹: einen Bruch schneiden (L308 Kaspar Stieler), der Finger mußte geschnitten werden, in der bildenden Kunst »Ein bildtnuß machen in steinwerck oder sunst« (L200 Josua Maaler), mittelhochdeutsch präpositional mit an (L059 DWb), in Stein… Holz schneiden (J. L.L078 Johann Leonhard Frisch); allgemeiner ›ritzen‹: schnitt ich mein elend in die linden (J.Ch.Günther; L059 DWb); als Objekt der bearbeitete Gegenstand: Edelsteine schneiden (L305 Christoph Ernst Steinbach), geschnittene Steine, oder das Resultat: Feder (L308 Kaspar Stieler), Stempel schneiden, Figuren in Holz schneiden; hierher auch ›eine bestimmte Gestalt hervorbringen‹: ein Kruzifix schneiden (gewöhnlicher "schnitzen"), ein Kleid zuschneiden, etwas zurecht schneiden, Pfeifen schneiden, übertragen ›geformt‹: der mund ist fein geschnitten, die nase recht gut gebogen (A. v.Arnim; L059 DWb), orientalisch geschnittene Augen; seit dem Frühneuhochdeutschen er ist yhm also ehnlich, als were er yhm ausz der hawt [heute Gesicht] geschnitten (Agricola; L059 DWb), Grimassen schneiden, bei starker attention gesichter dazu schneiden (I.Kant; L059 DWb), ungewöhnlicher Schlurck schnitt eine ironische Miene (Gutzkow); veraltet
die Cour schneidenwerben‹ (19. Jahrhundert; L081 FWbs. v. Cour);
2.2verwunden‹ (mhd. ), jetzt auf unabsichtliche Verwundung beschränkt: der Barbier hat ihn geschnitten; am häufigsten sich schneiden, mit näherer Bestimmung sich in den Finger, in den Arm schneiden;
⊚⊚ sich ins eigene Fleisch schneidensich schaden‹, sich schneiden (Goethe; L264 Daniel Sanders) ›in einer Erwartung betrogen werden‹; das Werkzeug als Subjekt: das Messer schnitt (ihn) tief ins Fleisch, ohne Objekt üblicher; von da aus übertragen von starken Gefühlsregungen: eine Geschichte, die desto blutiger in mein Inwendiges schneidet, je sorgfältiger ich das Messer der Welt verberge (Schiller), in die Seele schnitt mir's(Schiller); nach der Ähnlichkeit des Empfindungseindrucks es schneidet mir im Leib; hierher auch attributive Verwendung des Partizips: schneidender Wind, von akustischen Eindrücken ein schneidender Pfiff (Goethe; L059 DWb), seinen schneidenden Ton (Fichte; L264 Daniel Sanders); ›verletzend‹ von der Rede: schneidende Worte (L305 Christoph Ernst Steinbach), schneidender Spott, Hohn (L320 Trübner), im Sinne von ›krassschneidender Gegensatz, Widerspruch, ↑ "einschneiden";
3 intransitiv mit einem Werkzeug als Subjekt kann schneiden die Fähigkeit zum Schneiden ausdrücken: das Messer schneidet gut, schlecht, nicht; mit menschlichem Subjekt der Friseur schneidet gut, wenn er sein Handwerk versteht;
4 in der ⇓ "S130" Mathematik zwei Linien schneiden sich (1518; L276 Alfred Schirmer, Mathematik), danach zwei Straßen schneiden [›kreuzen‹] sich, ähnlich beim Billardspiel eine Kugel schneidenvon der Seite berühren‹, dazu ⇓ "S147" neu im ⇓ "S138" Straßenverkehr: Eine Kurve schneiden »sagt der Kraftfahrer, wenn er sie [d. h. eine Linkskurve] an der kürzeren Innenseite fährt« (L320 Trübner), dann auch ›knapp (und rücksichtslos) vor einem überholten Fahrzeug einscheren‹ (L337 WdG); anders
jmdn. schneidenabsichtlich nicht beachten‹, um 1850 als ⇓ "S024" Bedeutungsentlehnung nach engl. to cut. ⇑ "Schneise", "Schnitt", "schnitzen".
Schneider mhd. snidære; allgemein ›der schneidet‹ noch in Zusammensetzungen wie Haarschneider, Holzschneider, Steinschneider, Formschneider, Modellschneider, Stempelschneider, Gewandschneider, mittelhochdeutsch negativ auch ›Abschneider‹, also jmd. , der anderen Schaden zufügt, so noch in "Beutelschneider", "Geldschneider", übertragen Gesichterschneider, Fratzenschneider; seit dem Spätmittelalter Handwerkerbezeichnung ›Kleidermacher‹, nach der Tätigkeit des Zuschneidens; die Märchenfigur Das tapfere Schneiderlein (Brüder A087 Jacob und Wilhelm Grimm), weil den Schneidern ein furchtsames Wesen nachgesagt wird, bei W.A033 Wilhelm Busch Schneider, Schneider meck, meck, meck (Max und Moritz, 3.Streich) Anspielung auf den Bock oder die Ziege als Sinnbilder der Schneider; »oft gehöhnt als.. Fröstlinge« (L264 Daniel Sanders), daher
frieren wie ein Schneider, niederdt. he früsst as een snider (Richey; L059 DWb); als ⇓ "S067" Familienname weit verbreitet; übertragen
⊚⊚ Schneider werden landschaftlich ›es bei einem Geschäft, einem Spiel zu nichts bringen‹ (Schneiderhandwerk halbes Handwerk), daher wohl beim Kartenspiel aus dem Schneider seinmehr als 30 Punkte haben‹ (vgl. L279 Johann Andreas Schmeller), danach auch scherzhaft von Personen ›über dreißig Jahre alt sein‹ (vgl. L059 DWb), heute allgemeiner von einer abgewendeten Notlage. Landschaftlich übertragen als Tierbezeichnung ›langbeinige Spinne‹ (besonders westmitteldeutsch, vgl. L066 Jürgen Eichhoff, Karte 4–56 und Weberknecht ↑ "Knecht") und ›langbeinige Mücke‹ (regional auch Schneider Wipphopp, ⇑ "Mücke", 1"Schnake", "Schuster", Hochbeiner, Weberknecht, österr. Gelse, süddt. Staunze usw.; vgl. ⇑ "lang", "hoch", "Knecht" und L066 Jürgen Eichhoff, Karte 4–56).
Schneide mhd. snide; Schneide eines Messers, Schwertes, Beiles, im Gegensatz zum "Rücken", daneben auch für die ganze Klinge eines Messers oder Degens (Richter 3,22, in der Vulgata ferrum ›Stahlklinge‹);
auf des Messers Schneide stehen wenn die Gefahr eines negativen Ausgangs besteht, bei L264 Daniel Sanders auf Schermessers Schneide; in den Alpenländern ›scharfe Kante eines Berges‹; südostdeutsch ›Fähigkeit zu schneiden‹, dann überhaupt ›Wirkungsfähigkeit‹, von Personen ›Tatkraft‹, auch ›Trieb zu etwas‹, daher mundartlich
Schneid Mask. ›Mut‹, Ende des 18. Jahrhunderts ⇓ "S213" südostdeutsch, von der Waffenschneide übertragen (L213 MLN38,407), um 1840 literarisch durch den Darmstädter E.E.Niebergall, seit etwa 1860 als ⇓ "S202" soldatensprachlich verbreitet. Bayrisch-österreichisch noch heute als Fem. : Schneid';
jmdm. den Schneid abkaufenentmutigen‹: Uns haben sie allen unseren Schneid abgekauft. Warum, wenn ich aufmuck, möchts das Geschäft schädigen(B.A025 Bertolt Brecht, Mutter Courage; 4,1394).
schneidig mhd. snidec, kann als Ableitung aus Schneide gefaßt werden, schließt sich aber im Sinn direkt an schneiden an: ir scharfen snidegen swert (Heinrich von Freiberg; L059 DWb), in Zusammensetzungen an Schneide angelehnt einschneidig, scharfschneidig, zweischneidig (s. unten); meist übertragen seit Arndt 1813 (L345 Friedrich Karl Ludwig Weigand/ L345 Herman Hirt) ›mutig, elegant‹: er schwinget so schneidig sein blitzendes schwert, ein schneidiger Kerl, so besonders Leutnantston nach 1870, um 1900 auch schon verspottet (L360 ZDW2,308); "schnittig" (↑ "Schnitt");
zweischneidig 1420 zweisnedig (L059 DWb), übertragen ›ungewiß‹: des… A. zunge ein zweyschneidiges schwert (Harsdörffer; L059 DWb);
schneidernSchneiderarbeit tun‹ (Ende des 17. Jahrhunderts), auch transitiv: sein Affe schneidert schon ein Kleid(Lessing).
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