Hermann Paul - Deutsches Wörterbuch
scheinen
ahd. scinan, mhd. schinen, gemeingermanisches starkes Verb (got. skeinan, engl. shine), hier und da schwach, hat eine ähnliche Entwicklung gehabt wie Schein (s. unten);1Licht, Helligkeit, Glanz ausstrahlen‹, zunächst auf die Himmelskörper bezogen an die berga scinet diu sunna ze erist (Notker; L059 DWb), die Sonn scheint durch das Glas (L169 Matthias Kramer), auch als Gefühlseindruck wenn die Sonne beginnet heis zu scheinen (A180 Martin Luther, 1.Samuel 11,9), allgemeiner vom Licht die finsternis ist vergangen / vnd das ware Liecht scheinet jtzt (A180 Martin Luther, 1.Johannes 2,8), überhaupt auf Wahrnehmbares bezogen Es scheinen die alten Weiden so grau (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Erlkönig), übertragen die angeborne Würde, die, unverhüllbar, auch durch eine Kutte scheint (Wieland); übertragen ›sichtbar werdendas Liecht der Gerechtigkeit hat vns nicht geschienen (A180 Martin Luther, Weisheit Salomos 5,6), unpersönlich es scheinet darausz gottes providenz (17. Jahrhundert; L059 DWb); von hier aus mittelhochdeutsch weiterentwickelt zu
2aussehen, einen bestimmten Eindruck erwecken‹: auswendig hübsch scheinen (A180 Martin Luther, Matthäus 23,27), mit Infinitiv und zu: Er scheinet ein ehrlicher Mann zuseyn (L308 Kaspar Stieler), zum 18. Jahrhundert hin bezüglich Konstruktionen mit abhängigen Sätzen weiterentwickelt: es scheinet daß, als wolte es regnen, es scheinet mir, als… , wie es scheinet, so ist er noch wol auf, es hat mir geschienen, als wann (alle L169 Matthias Kramer), gemischt konstruiert mich will Antonio von hinnen treiben, und will nicht scheinen, daß er mich vertreibt (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Tasso 2751), diese Frage scheint mir der Untersuchung werth (A222 Friedrich Schiller, Karlos 4,12); häufig seinentgegengesetzt: Scheinen ist nicht allezeit seyn (L308 Kaspar Stieler), moralisch bewertet Die Menschen sind nicht immer, was sie scheinen (A177 Gotthold Ephraim Lessing, Nathan 2,6), Jener [der Edelmann] darf und soll scheinen; dieser [der Bürger] soll nur sein (L092 GoeWb s. v. Bürger); dazu anscheinen (↑ "Anschein"), ↑ "erscheinen".
Schein ahd. scin, mhd. schin, westgermanisch (wurzelverwandt ⇑ "Schemen", "Schimmel", "schimmern"); zunächst
1Glanz‹, übertragen ›Ruhm, Ansehen‹ bis heute: disz ziehmet sich den weibern, gibt jhrem ruhme schein(Logau; L059 DWb), der wahrheit voller schein(Herwegh; L059 DWb), bei A075 Johann Wolfgang von Goethe abgeblaßter das wär' gut, gäb' auch der Sache einen Schein (Götz 5,1), etwas das diesem Gerede einen Schein geben könnte (Brief vom 20.1.05); abgeblaßt
2lichtartige Ausstrahlung eines Körpers‹: nach dem trübsal… werden Sonn und Mond den schein verlieren (A180 Martin Luther, Matthäus 24,29), Der Schein des Feuers, Bey dem blassen Scheine einer Lampe (L003 Johann Christoph Adelung 1780), im Sinne von ›Auraer hat einen heiligen schein (Lichtenberg; L059 DWb); astrologisch im gevierten, im gesechsten Schein (Schiller), Widerschein; weiter abgeblaßt
3die Art, wie sich etwas (den Augen) darstellt‹, meist mit den Merkmalen ›falsch, trügerisch‹, Gegensatz ›wahr, wirklich‹: Vnder falschem Scheyn (L200 Josua Maaler), dem ausserlichen Schein nach, zum Schein (L169 Matthias Kramer), Der Schein trugt (L033 Joachim Heinrich Campe), Den Schein gegen sich haben(ebenda), der… auf den schönen schein… angelegten äuszerung (I.Kant; L059 DWb), wir leben aber in der welt des scheins (Hebel; L059 DWb), den Schein wahren; dazu ⇑ "Augenschein", "Anschein", Zusammensetzungen wie Scheinbild, Scheingefecht, Scheinkauf, Scheingrund »wo der Schein allemahl der wahren Beschaffenheit entgegen gesetzet ist« (L003 Johann Christoph Adelung 1780), Scheinvertrag (L033 Joachim Heinrich Campe 1810), ↑ "wahrscheinlich"; mittelhochdeutsch speziell rechtssprachlich ›Evidenz, Beweis‹ (was sichtbar ist), im Anschluß daran
4Beweis, Urkunde, Zeugnis in schriftlicher Form, Schriftstück zur Bestätigung von etwas‹: durch versigelte briefe oder… schin (1417; L190 Lexer), Geben Sie auch dem Boten einen Schein, daß er den Brief gebracht hat (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Brief vom September 1780); einen Schein… aushandigen(L169 Matthias Kramer), ausstellen (L003 Johann Christoph Adelung 1780), wohl erst Mitte des 19. Jahrhunderts ›Geldscheinein 50-Thaler-Schein (L264 Daniel Sanders); dazu Geburtsschein, Schuldschein, Seminarschein, Taufschein, Zehnmarkschein usw. und
bescheinigen (L169 Matthias Kramer 1700);
scheinbar ahd. scinbari; zunächst
1leuchtend‹, dann ›offenkundig‹, bis ins 19. Jahrhundert: an dem scheinbarsten Orte des Hauses (Lessing); ohne eine scheinbare Ursache (Lessing); wertend äußerlich scheinbar… innerlich wurmstichig und hohl (Goethe, Briefe);
2 im 18. Jahrhundert häufig, jetzt umgangssprachlich ›wahrscheinlich‹: was hätte Hyperides Stärkeres und Scheinbareres zu deiner Verteidigung sagen können? (Wieland), adverbial wahrscheinlicher oder nicht! für ihn genug, scheinbar genug für König Philipp (Schiller); seit dem 17. Jahrhundert
3 adjektivisch und Gegensatz zu "wirklich" und "anscheinend": scheinbare Danckbarkeit (Hofmannswaldau; L305 Christoph Ernst Steinbach), eine scheinbare Liebe (L305 Christoph Ernst Steinbach); dazu
unscheinbar (15. Jahrhundert), scheinbar folgend; seit dem späteren 18. Jahrhundert in heutigem Sinn ›unauffällig, unbedeutend‹ »ziemlich zu ehren gekommen« (Heynatz; L059 DWb), eingerichtet durch A075 Johann Wolfgang von Goethe: meinen blauen einfachen Frack… abzulegen, er ward… gar unscheinbar (Werther 19,119,25), das gedicht ist unscheinbar gedruckt(A.W.Schlegel; L059 DWb);
scheinheilig 1581 J.Fischart, Bienenkorb 192a: heimlichs scheinheyligs verlügen, ⇓ "S124" Lehnübersetzung von niederländ. schijnheilig (1557), vorbereitet bei Luther: der waren heyligen und der scheynenden heilgen (L059 DWb);
Scheinheiligkeit 1626 Opitz, niederländ. schijnheiligheid (1557);
Scheintod 1818 Planck: die Auferstehung… ein Erwachen vom Scheintode (A263 Heinrich von Treitschke 2,87);
scheintot 1847 J.Kerner;
Scheinwerfer L033 Joachim Heinrich Campe 1791, ⇓ "S125" Lehnübertragung von franz. réverbère: »eine Lampe, deren Licht von einem glänzenden Metall oder Spiegel zurückgeworfen wird« (ebenda), dazu Scheinwerferlicht; übertragen, Und Charlies Augen waren förmlich Scheinwerfer (A208 Ulrich Plenzdorf, Leiden 55), wie "Rampenlicht"
im Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit stehen (L097 GWb).
Sie können einen Link zu dem Wort setzen

Ansicht: scheinen