Hermann Paul - Deutsches Wörterbuch
schauen
ahd. scouwon, mhd. schouwen, westgermanisch (engl. show ›zeigen‹) mit Verwandtschaft auch im Gotischen und Skandinavischen, verwandt mit ↑ "schön"; süddeutsch, namentlich südostdeutsch, sonst jetzt gehoben für umgangssprachlich "gucken" (L171 Paul Kretschmer 454ff., L066 Jürgen Eichhoff, Karte 8);1.1mit den Augen wahrnehmen‹, vor allem vom bewußten Sehen, transitiv: schawet die Lilien auff dem felde / wie sie wachsen (A180 Martin Luther, Matthäus 6,28), mit abhängigem Satz: Ich will schauen, was er macht (L308 Kaspar Stieler), infinitivisch mit lassen (mhd. ): Laßt mich noch einmal Genuas Türme schauen und den Himmel (A222 Friedrich Schiller, Fiesko 5,4), intransitiv man kommt zu schaun, man will am liebsten sehn (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Faust I,90), imperativisch Schau doch! (L308 Kaspar Stieler), schau! schau! (L169 Matthias Kramer) als Ausdruck von Verwunderung, zur Lenkung von Aufmerksamkeit (ahd. ; L059 DWb) Schau / da ist er (L169 Matthias Kramer); übertragen
1.2 im Sinne eines geistigen Wahrnehmens, auf Gott bezogen Vnd da sie Gott geschawet hatten assen vnd truncken sie (A180 Martin Luther, 2.Mose 24,11), allgemeiner Erleichtert schaute ich, in einem paradiesischen Zustand,… in dem einem das Sehen schon ein Erkennen war (A102 Peter Handke, Brief 36), hierher auch jmdn. durchschauen; im Sinne von ›kümmern‹: die inquisition sollte weder vor sich noch hinter sich schauen (Schiller; L059 DWb), auf/ nach etwas/ jmdm. schauen (L169 Matthias Kramer), ›sich nach etwas richtenschaw du auffs Recht (A180 Martin Luther, Psalm 17,2), zur Vorbereitung einer Erklärung, appellierend Schauen Sie, das ist doch so, einer Beschwichtigung Schau, sei vernünftig, im Sinne von ›zusehenschau… dasz du von schulden los und ich vom richten bin (Logau; L059 DWb), vor allem in der rüden Zurückweisung schau, daß du fort kommst;
2 mit Richtungsangabe, häufig auf Gestirne bezogen vom Himmel schauen (L308 Kaspar Stieler), als Lagebezeichnung, z. B. von Fenstern, übertragen: die fenster, welche gegen Babel der welt schauen (17. Jahrhundert; L059 DWb);
3 mit anderer Perspektive im Sinn eines optisch wahrnehmbaren Ausdrucks er schaut böse drein, Verena schaut wild (A222 Friedrich Schiller, Fiesko 1,11), auch auf Dinge bezogen [die Bäume] schaun gespenstisch kahl (A118 Heinrich Heine, Neuer Frühling XLIII); ⇑ "anschauen" ("anschaulich", "Anschauung"), "beschauen" ("beschaulich");
zuschauen (1539; L059 DWb)
1 veraltet ›den Blick auf einen Punkt richten, hinblicken‹ (L320 Trübner): ich habe alle, meine zähne frisch und gesund, wenn [S]ie zuschauen wollen (Brentano; L059 DWb), gebräuchlicher die Übertragung im Sinne von ›achtgebenschauet zu, wem ihr eure heimlichkeit vertrauet(Kramer; L059 DWb),
2 besonders im Süddeutschen, Österreichischen (L098 2GWb) ›einer Sache/ einem Vorgang zusehen (v. a. bei Sport- und Theaterdarbietungen)‹: Nur zuschauen, … mehr fodern wir nicht [vom Theaterspiel] (J. M. R. Lenz, Anmerkungen übers Theater),
3 abwertend ›unbeteiligt zusehen‹: Nichts ist vergänglich, als der eine, der genießt und zuschaut (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Lehrjahre, 8,5; 1,23,199);
Zuschauer (1555; L059 DWb) wohl nach gleichbedeutend lat. spectator (L320 Trübner)
1jmd. , der einer Darbietung zusieht‹ (entsprechend zuschauen[2]): Die Bühne und der Saal, die Schauspieler und die Zuschauer machen erst ein Ganzes (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Regeln für Schauspieler §82; 1,40,166), so auch in der häufigen Zusammensetzung Fernsehzuschauer; mitunter übertragen als Gegensatz zum Handelnden (L059 DWb): Ich bin bei der ganzen Sache mehr Zuschauer (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Götz von Berlichingen 1; 1,8,22); jünger, aber bereits veraltend
2jmd. , der auf etwas hinsieht‹ (L320 Trübner): vor seinem Marmorbild ahndete der Zuschauer zum erstenmal, wie größere Menschen empfinden (G.A061 Georg Forster, Die Kunst und das Zeitalter, 7,19); Zuschauerin (1689; L059 DWb). Zu schauen substantivisch
Schau mhd. schouwe;
1 seit dem 19. Jahrhundert veraltet bzw. gehoben ›optische Wahrnehmung, Anblick‹: nach vorgenommener Schau (Wieland), strenger Schönheit seltne Blume enthüllt dem Meister sich zur Schau(Chamisso), wie "Sicht" übertragen aus historischer Schau; speziell ›(amtliche) Prüfung‹ wie heute Beschau, in Zusammensetzungen Fleischschau, Brod-Schau (L169 Matthias Kramer), Heerschau, Deichschau (L003 Johann Christoph Adelung 1777), dazu auch Brautschau, Rundschau, "Ausschau"; in geistigem Sinn ›Erkennenin des geistes schouwe (L190 Lexer), Schau… das Gegenteil von Erkenntnis(J.R.Becher; L337 WdG); seit dem 19. Jahrhundert allgemein zumeist nur noch in festen Verbindungen, häufig abwertend: Ihr stelltet mit dreister Stirne eure Schmach zur Schau (A222 Friedrich Schiller, Stuart 1,4), etwas zur Schau tragen (L264 Daniel Sanders), bei L169 Matthias Kramer etwas zur Schau herum tragen; im Anschluß an schauen(1.1) ›bewußt wahrnehmen‹ und unter Einfluß von engl. show seit dem 18. Jahrhundert
2Ausstellung‹: etwas zur Schau ausstellen »daß es von jedermann gesehen und besehen werden kann« (L003 Johann Christoph Adelung 1777), Frucht- und Blumenschauen (L264 Daniel Sanders); früh auch abwertend wie Fassade zum Ausdruck von Oberflächlichkeit Nur zur Schau da stehen (L003 Johann Christoph Adelung 1777); engl. show folgend, von diesem aber häufig auch ersetzt seit Mitte der 50er Jahre (L010 AWb)
3öffentliche, auf Wirkung abzielende, unterhaltende Darbietung‹, dazu
⊚⊚ jmdm. die Schau stehlensich auf Kosten eines andern in den Vordergrund spielen‹, eine Schau abziehenauf Wirkung bedacht sich in bestimmter Weise verhalten‹, umgangssprachlich zum Ausdruck höchster Anerkennung er/ sie ist eine Schau; adjektivisch schau nach 1945 und heute veraltet ⇓ "S105" jugendsprachliches ⇓ "S060" Entzückungswort ›hervorragend, wunderbar‹: »Das ist schau« (Woher? Seit wann?) (A303 Victor Klemperer 3.8.1958; Tagebücher II,698), unser Lehrer ist schau (L337 WdG);
Schaubühne »theatrum« (L308 Kaspar Stieler), seit der Klassik national und ethisch gedeutet: Die Schaubühne ist mehr als jede andere öffentliche Anstalt des Staats eine Schule der praktischen Weißheit… Wegweiser durch das bürgerliche Leben… Schlüssel zu der menschlichen Seele (A222 Friedrich Schiller Schaubühne; 20,93), Die vaterlandische Schaubühne (L033 Joachim Heinrich Campe);
Schaufenster (L169 Matthias Kramer) »fenster, in dem waren zur schau ausgelegt werden« (L059 DWb);
Schaulust »die Lust, das Verlangen zu schauen, zuzuschauen, etwas zu sehen« (L033 Joachim Heinrich Campe), dazu zumeist abwertend
schaulustig Es fanden sich Schaulustige genug ein (ebenda);
Schauplatz 1522 A180 Martin Luther, Apostelgeschichte 19,29, ⇓ "S125" Lehnübertragung von griech. théatron; ursprünglich »Gebeüw halb rund darin man schauwspiel hielt« (L200 Josua Maaler); seit dem 18. Jahrhundert vor allem übertragen »ein jeder Ort, auf welchem eine Handlung vorgenommen wird« (L003 Johann Christoph Adelung 1777): Der große Schauplatz der Welt(ebenda), vom Schauplatze abtreten »sterben« (L033 Joachim Heinrich Campe), Der Schauplatz eines Krieges(ebenda);
Schauprozeß"S149" (L337 WdG) »groß angelegter, öffentlicher Prozeß mit bestimmten (politischen) Zielsetzungen« (ebenda): Wie lange halten sie uns hier noch fest? Natürlich wegen des Prozesses! Bevor er zu Ende ist, ist an Entlassung nicht zu denken! Dabei ist es nur ein Schauprozeß! (16.5.1946; C.Haensel, Das Gericht vertagt sich, 1950, 239), zumeist auf Gerichtsverhandlungen zur Zeit des Nationalsozialismus (Reichtagsbrand) und Stalins bezogen;
Schauspiel (Ende des 15. Jahrhunderts); zunächst
1jede zur Unterhaltung für Zuschauer bestimmte Veranstaltung‹: »so man dem gemeine volck zu kurtzweyl haltet« (L200 Josua Maaler); ⇓ "S127" seit dem 16. Jahrhundert
1.1 auf die dramatische Aufführung beschränkt, wobei es langsam das fremde "Komödie" zurückdrängte; dann teils allgemeiner Begriff, Lust- und Trauerspiel einschließend, teils für eine mittlere Gattung: Schiller Die Räuber. Ein Schauspiel; theoretisch reflektiert: So lang das Schauspiel weniger Schule als Zeitvertreib ist… so lange mögen immer unsere Theaterschriftsteller der patriotischen Eitelkeit entsagen, Lehrer des Volks zu seyn (A222 Friedrich Schiller, Ueber das gegenwärtige teutsche Theater; 20,81f.);
1.2 als Personalkollektiv gebraucht: der director seines schauspiels (Goethe; L059 DWb) bzw. in räumlichem Sinn ins schauspiel gehen (L059 DWb);
2was einen interessanten Anblick gewährt‹, schon im Neuen Testament: wir [die Apostel] sind ein Schauspiel worden der Welt(A180 Martin Luther, 1.Korinther 4,9), bei A075 Johann Wolfgang von Goethe mehrdeutig: welch Schauspiel! aber ach! ein Schauspiel nur (Faust, I,454);
Schauspieler (L037 Petrus Dasypodius 1537), Die Bühne und der Saal, die Schauspieler und die Zuschauer machen erst ein Ganzes (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Regeln für Schauspieler; I 40,166), dagegen im epischen Theater Nicht nahekommen sollten sich Zuschauer und Schauspieler, sondern entfernen sollten sie sich voneinander (B.A024 Bertolt Brecht, Dialog über Schauspielkunst; 15,189); übertragen zur Bezeichnung von Unaufrichtigkeit die menschen sind… je civilisirter, desto mehr schauspieler (I.Kant; L059 DWb);
Schauspielhaus (L308 Kaspar Stieler), Ein Schauspielhaus… kann leer nicht beurtheilt werden (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Eröffnung des Weimarer Theaters; I 40,9);
Schausteller (L033 Joachim Heinrich Campe) »einer, der etwas zur Schau ausstellt; dann einer, der irgend ein Schauspiel, irgend etwas Belustigendes oder Unterhaltendes zu sehen giebt« (ebenda), heute auf Budenbesitzer bzw. Betreiber von Fahrgeschäften auf Jahrmärkten beschränkt;
Schaustellung (L033 Joachim Heinrich Campe), übertragen zur Bezeichnung einer übertriebenen (öffentlichen) Darstellung bei akademischen schaustellungen(Freytag; L059 DWb).
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