Hermann Paul - Deutsches Wörterbuch
reißen
ahd. rizan(altsächs. writan), mhd. rizen, altgermanisches starkes Verb (altnord. rita, engl. write, ursprünglich vom Einritzen der Runen gebraucht und dann auch bei veränderter Technik als Ausdruck für "schreiben" beibehalten).1 Die ursprüngliche Bedeutung ist ›einen Einschnitt machen‹, gewöhnlich durch das abgeleitete Verb ↑ "ritzen" ausgedrückt. Als Objekt dazu konnte der Gegenstand stehen, in den der Einschnitt gemacht wird; L004 Johann Christoph Adelung führt an einen Karpfen reißen »der Länge nach aufschneiden«, einen Baum reißen, »damit das Harz herausfließe« (ebenda), einen Acker reißen, aufreißen oder "umreißen", »einen wüst gelegenen Boden zum ersten Mal pflügen und ihn dadurch zum Acker machen« (ebenda). Es konnte aber auch das Resultat als Objekt gesetzt werden: ihr sollt kein Mal an eurem Leibe reißen (Luther).
2 Das Reißen konnte, wie das letzte Beispiel zeigt, vorgenommen werden, um ein Zeichen, eine Zeichnung hervorzubringen. Der Ausdruck reißen wurde dann beibehalten für ein Zeichnen, das nicht mehr durch Einritzen, sondern durch Auftragen von Punkten und Linien bewerkstelligt wurde; mit Akkusativ des Resultats: eine Blume reißen (L004 Johann Christoph Adelung), ⇑ "abreißen", "umreißen". ↑ "Riß"(2).
3 An die Bedeutung ›zeichnen‹ scheint auch die Wendung Possen reißen (um 1550) anzuknüpfen, da "Posse" darin ursprünglich ›seltsame Figur‹ war. Frühzeitig ist aber jedes Gefühl für den Ursprung der Wendung verloren, und man sagt auch Zoten reißen, Witze reißen.
4 Die jetzt gewöhnliche Bedeutung ›mit Gewalt trennen‹ wird ausgegangen sein von der Anwendung auf Vorgänge, bei denen ein Einschneiden stattfand, wurde dann aber auf andere übertragen: die Haare aus dem Kopf, eine Pflanze aus der Erde, ein Blatt aus einem Buch, sich aus den Armen eines Freundes reißen; übertragen ein Gefühl aus dem Herzen, jmdn. aus seinen Gedanken, der Ungewißheit reißen. Mit einer näheren Bestimmung kann auch ein Ganzes, das in Teile getrennt wird, als Objekt stehen: etwas in Stücke reißen, entzwei reißen.Ohne solche Bestimmung gebraucht man "zerreißen", dazu auch einen Brief, eine Bonbontüte aufreißen, häufig übertragen: die Augen, eine Wagentür aufreißenweit öffnen‹. Ferner erscheint das Ergebnis als Objekt: ein Loch in ein Kleid, einen Riß (Luther), Lücken (Schiller), Spalten in die Felsen reißen(Goethe);
5 reißen wird gebraucht von einem Ziehen, das wegen des entgegenstehenden Widerstandes nicht zu einer wirklichen Trennung führt, und ist dann synonym mit ↑ "zerren": die Jungen prügeln sich. Reißen sich an den Hosen (H.A057 Hubert Fichte, Platz 62), an einer Kette, an einem Glockenstrang reißen u.dgl.; übertragen will mächtig reißen an dem Vaterherzen (Schiller). Auch in diesem Sinn erscheint es zuweilen mit Akkusativ: der unsaubere Geist riß ihn (Luther). Hierher sich um etwas reißen, wobei sicheinander‹ ist (Franck; L059 DWb). Insbesondere wird reißen gebraucht in Hinsicht auf den Empfindungseindruck, dann unpersönlich: es reißt mich in den Gliedern; statt dessen auch mit Dativ mir reißt's in allen Gliedern(Goethe); daher Reißen in den Gliedern ("Gliederreißen") haben.
6 Die Vorstellung des Trennens von einem Gegenstand kann ganz schwinden, und reißen ist dann nur ›gewaltsam bewegen‹, immer mit einer Richtungsbezeichnung: in die Höhe, in die Tiefe, an sich, mit sich fort, nach sich, hin und her reißen. Häufig übertragene Verwendung: Hundert ehrlich verdiente Mark reißen seine Familie nicht raus (H.A057 Hubert Fichte, Platz 168). Reflexiver Gebrauch in diesem Sinn selten: da riß die göttliche Here schnell vom Sitze sich auf (Goethe).
7 Der unter (4) besprochenen transitiven Verwendung entspricht eine jüngere intransitive. Bei intransitivem Gebrauch ist das, was reißt, Subjekt: Sihe / der Altar wird reissen (1.Könige 13,3); Ein Faden, ein Strick, ein Band, ein Draht u. s. f. reissen (L004 Johann Christoph Adelung), übertragen der Geduldsfaden reißt mir. Hierzu
wenn alle Stricke reißen »wenn alle übrigen Hülfsmittel vergebens sind« (ebenda). Doch steht auch ein Gegenstand, der sich von einem anderen trennt, als Subjekt: der Lappe reißt doch wieder vom Kleide (Luther);
8 eine schon ältere intransitive Verwendung ›sich gewaltsam bewegen‹ scheint direkt auf die ursprüngliche Bedeutung zurückzugehen, indem dabei an das Aufreißen der sich hemmend entgegenstellenden Gegenstände gedacht ist: ein grimmiger Wolf, der in den Schafstall reißt (Opitz), dann riß der Waldbewohner hinweg(Herder). Noch allgemein reißend auf wilde Tiere bezogen, nach dem Jägerwort reißenBeute machen‹ (1350; L320 Trübner), reißender Strom, mit reißender Schnelligkeit, reißender Absatz, »die Waare geht reißend weg« (J. L.L078 Johann Leonhard Frisch), ⇑ "anreißen", "ausreißen", "einreißen", "verreißen", "hinreißend", "Riß", "reizen";
Reißbrett (17. Jahrhundert; L345 Friedrich Karl Ludwig Weigand/ L345 Herman Hirt) »das papier, auf welches man reiszen, d. h. zeichnen will, darauf auszuspannen« (L059 DWb);
Reißschiene (L059 DWb1893) ›Lineal mit Querleiste‹;
Reißverschluß"S149" um 1925 (Patent Nr. 459959 vom 15.5.1928), vorher: Schlitzverschluß, Längsverschluß, Gleitverschluß, Universalverschluß;
Reißzwecke (L056 Duden 101929) »kleiner Nagel mit breitem Kopf zum Befestigen von Papier« (ursprünglich auf dem Reißbrett) (L242 Richard Pekrun 1933);
reißerischin marktschreierischer Weise‹, nach älterem
ReißerMarktschreier‹ (1882–88 Frischbier; L059 DWb) oder ›billiger Artikel, der zum Kauf locken soll‹, dafür früher auch "Anreißer".Heute vor allem von Büchern ›niveauloser Bestseller‹: Sie hätten… aus der… Episode der Brüderchronik einen rührselig-effektvollen Reißer gemacht! (A.A227 Arno Schmidt, Wundertüte 16).
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