Hermann Paul - Deutsches Wörterbuch
reichen
ahd. / mhd. reichen (ahd. auch reichon), westgermanisches schwaches Verb (engl. reach), urverwandt litauisch ráizytis ›sich recken‹ und vielleicht im Ablaut zu ⇑ "Reich", "reich".1 Zunächst: ›sich bis zu einem gewissen Punkt erstrecken‹. Oft bezieht es sich nicht auf die Erstreckung des Subjekts selbst, sondern die seiner Wirkungen, seines Vermögens: soweit der Blick, das Auge, die Stimme reicht; großer Herren Arm reicht weit; sein Gebet reicht bis in die Wolken (Luther). Vom Raum wird es auf die Zeit übertragen: so lange die Sonne währet, wird sein Name auf die Nachkommen reichen (Luther); ebenso auf geistige Beziehungen: Geheimnissen, an welche nur der tieffühlendste Geist mit Ahnungen zu reichen vermag (Goethe). Insbesondere ist reichen an soviel wie gleichkommen: wer unter diesen reicht an unsern Friedland(Schiller).
2 In den besprochenen Fällen ist der Punkt, bis zu dem sich etwas erstreckt, die Hauptsache in der Aussage, der sich das Verb logisch und daher auch in der Betonung unterordnet; es wird geantwortet auf die Frage wie weit reicht das? Man kann aber auch von einem schon gegebenen Punkt ausgehen und nun fragen reicht das so weit? Dann wird das Verb stärker betont, und der Sinn erscheint modifiziert. Die Erstreckungsgrenze braucht dann auch gar nicht immer zu reichen hinzugefügt zu werden, weil sie nach dem Vorhergegangenen selbstverständlich sein kann. Auch hier kann es sich zunächst um räumliche Verhältnisse handeln: der Faden reicht nicht sagt man, wenn der Versuch, ihn bis zu einem gewissen Punkt anzuspannen, mißglückt ist. Durch Übertragung auf nichträumliche Verhältnisse entwickelt sich der allgemeine Sinn ›genügend sein‹ zwei Mark, drei Tage reichen nicht (dazu), das Tuch reicht nicht zu einem Rock, das Brot reicht für uns zwei Tage. Dazu "ausreichen", hinreichen,zureichen. Um geistige Beziehungen auszudrücken, wird jetzt ausreichen oder hinreichen vorgezogen, und als literarische Abweichung vom Gewöhnlichen erscheint uns daher o, welche Stimme reichte zur Klage!(Goethe). Ebenso ungewöhnlich ist jetzt reichen statt ausreichen mit zu und dem Infinitiv: die träge Farbe reicht nicht, den himmlischen Geist nachzuspiegeln (Schiller). Eine merkwürdige Veränderung der Subjektsbezeichnung ist eingetreten in reichen mit: ich reiche damit drei Tage im Sinne von das reicht für mich drei Tage. Desgleichen bei "ausreichen".
3 Aus der Bezeichnung eines bestehenden Verhältnisses hat sich reichen zur Bezeichnung einer Tätigkeit entwickelt, indem die Erstreckung bis zu einem Punkt erst durch eine Bewegung unserer Glieder hergestellt werden kann: mittelhochdeutsch er reicht dar mit dem stabe ›er langte dahin mit dem Stab‹. So auch noch mitunter neuhochdeutsch: die Feder, nach der ich bisher so oft reichte (Goethe).
4 Zu diesem reichen als Tätigkeitsbezeichnung tritt ein Objektsakkusativ: Dejanira reicht die Arme gegen den Gemahl (Goethe), und reichte es mit rührender Andacht gen Himmel (Novalis). Allgemein ist dieser Gebrauch nur, wenn ein Dativ der Person daneben steht oder wenigstens eine Person in Gedanken vorschwebt, der etwas gereicht wird: jmdm. die Hand, den Arm, den Mund, einen Becher, Speise, eine Gabe reichen; übertragen literarisch Hilfe, Trost reichen. Dazu hinreichen, darreichen, "überreichen", "verabreichen".
⊚ jmdm. nicht das Wasser reichen könnenursprünglich ›nicht wert sein, den Dienst des Wasserreichens an der höfischen Tafel zu verrichten‹, so z. B. Luther, übertragen 16. Jahrhundert (L258 Lutz Röhrich).
5 Auch der Gegenstand, bis zu dem man durch Ausstrecken eines Gliedes reicht, wird als Objekt behandelt, wobei wieder das Verb wie bei (2) das logisch bedeutsamere und stark betonte ist: steig auf meine Schultern, da kannst du die Lücke reichen (Goethe). Dieser Gebrauch ist jetzt der Schriftsprache fremd, vgl. "erreichen"; ↑ "Bereich".
Reichweite (1928; L320 Trübner) ursprünglich zu reichen(3), so auch im Sport, etwa beim Boxen; jetzt wohl durch militärischen Einfluß zu reichen(5) bzw. erreichen: die Reichweite eines Flugzeuges, einer Rakete.
2 In den besprochenen Fällen ist der Punkt, bis zu dem sich etwas erstreckt, die Hauptsache in der Aussage, der sich das Verb logisch und daher auch in der Betonung unterordnet; es wird geantwortet auf die Frage wie weit reicht das? Man kann aber auch von einem schon gegebenen Punkt ausgehen und nun fragen reicht das so weit? Dann wird das Verb stärker betont, und der Sinn erscheint modifiziert. Die Erstreckungsgrenze braucht dann auch gar nicht immer zu reichen hinzugefügt zu werden, weil sie nach dem Vorhergegangenen selbstverständlich sein kann. Auch hier kann es sich zunächst um räumliche Verhältnisse handeln: der Faden reicht nicht sagt man, wenn der Versuch, ihn bis zu einem gewissen Punkt anzuspannen, mißglückt ist. Durch Übertragung auf nichträumliche Verhältnisse entwickelt sich der allgemeine Sinn ›genügend sein‹ zwei Mark, drei Tage reichen nicht (dazu), das Tuch reicht nicht zu einem Rock, das Brot reicht für uns zwei Tage. Dazu "ausreichen", hinreichen,zureichen. Um geistige Beziehungen auszudrücken, wird jetzt ausreichen oder hinreichen vorgezogen, und als literarische Abweichung vom Gewöhnlichen erscheint uns daher o, welche Stimme reichte zur Klage!(Goethe). Ebenso ungewöhnlich ist jetzt reichen statt ausreichen mit zu und dem Infinitiv: die träge Farbe reicht nicht, den himmlischen Geist nachzuspiegeln (Schiller). Eine merkwürdige Veränderung der Subjektsbezeichnung ist eingetreten in reichen mit: ich reiche damit drei Tage im Sinne von das reicht für mich drei Tage. Desgleichen bei "ausreichen".
3 Aus der Bezeichnung eines bestehenden Verhältnisses hat sich reichen zur Bezeichnung einer Tätigkeit entwickelt, indem die Erstreckung bis zu einem Punkt erst durch eine Bewegung unserer Glieder hergestellt werden kann: mittelhochdeutsch er reicht dar mit dem stabe ›er langte dahin mit dem Stab‹. So auch noch mitunter neuhochdeutsch: die Feder, nach der ich bisher so oft reichte (Goethe).
4 Zu diesem reichen als Tätigkeitsbezeichnung tritt ein Objektsakkusativ: Dejanira reicht die Arme gegen den Gemahl (Goethe), und reichte es mit rührender Andacht gen Himmel (Novalis). Allgemein ist dieser Gebrauch nur, wenn ein Dativ der Person daneben steht oder wenigstens eine Person in Gedanken vorschwebt, der etwas gereicht wird: jmdm. die Hand, den Arm, den Mund, einen Becher, Speise, eine Gabe reichen; übertragen literarisch Hilfe, Trost reichen. Dazu hinreichen, darreichen, "überreichen", "verabreichen".
⊚ jmdm. nicht das Wasser reichen könnenursprünglich ›nicht wert sein, den Dienst des Wasserreichens an der höfischen Tafel zu verrichten‹, so z. B. Luther, übertragen 16. Jahrhundert (L258 Lutz Röhrich).
5 Auch der Gegenstand, bis zu dem man durch Ausstrecken eines Gliedes reicht, wird als Objekt behandelt, wobei wieder das Verb wie bei (2) das logisch bedeutsamere und stark betonte ist: steig auf meine Schultern, da kannst du die Lücke reichen (Goethe). Dieser Gebrauch ist jetzt der Schriftsprache fremd, vgl. "erreichen"; ↑ "Bereich".
Reichweite (1928; L320 Trübner) ursprünglich zu reichen(3), so auch im Sport, etwa beim Boxen; jetzt wohl durch militärischen Einfluß zu reichen(5) bzw. erreichen: die Reichweite eines Flugzeuges, einer Rakete.