Hermann Paul - Deutsches Wörterbuch
Not
ahd. / mhd. not, gemeingermanisch (got. nauþs, engl. need). Plural Nöte, am häufigsten im Dativ vorkommend (in, von Nöten), woher es wohl kommt, daß bei Goethe und anderen zuweilen im Nominativ und Akkusativ die unrichtige Form Nöten gebraucht wird.1 Ursprüngliche Bedeutung ›Zwang‹, der z. B. von bestimmten Personen ausgeübt wird, so z. B. in "Notzucht" (s. unten). Gewöhnlich ›Zwang durch die Umstände im Sinne von Notwendigkeit‹: der Not gehorchend, nicht dem eigenen Trieb (Schiller), Not kennt kein Gebot, Not bricht Eisen. Not am Mann wohl aus die Not des Kampfes ist am Mannder Kampf steht bevor‹ (L320 Trübner); ferner ohne Not, zur (höchsten) Notwenn es die Not erfordert‹; früher von Notnotwendigerweise‹, altertümelnd bei Wieland: welch ein gewaltig Wesen müßte dann von Not die Minne sein. Hierher auch von Nöten (vonnöten) sein; ein Satz wie es ist vonnöten, daß ich gehe bedeutet eigentlich ›es geschieht infolge eines Zwanges, daß ich gehe‹, hat dann den Sinn ›es besteht ein Bedürfnis‹; erst nachdem der ursprüngliche Sinn verdunkelt war, konnte man auch Sätze bilden wie mir ist Geld vonnöten. Danach dann wieder gebildet ist vonnöten haben, teils mit Genitiv: Psyche hatte der Ruhe vonnöten(Wieland), teils mit Akkusativ: Danae hat einen Aufseher über ihre Gärten vonnöten (Wieland). Mittelhochdeutsch sagt man des ist notdazu ist eine Nötigung, dafür ist ein Bedürfnis vorhanden‹; dies setzt sich fort in es ist Not, worin der Genitiv es zum Nominativ umgedeutet ist (↑ "er"); wenn Luther schreibt eines aber ist not, so könnte man eines noch als Genitiv fassen, doch sagt danach z. B. Goethe das eine, was not ist, und schon Luther hat was ihm not war; durch diese Umwandlung der Konstruktion hat sich Not der Natur eines Adjektivs genähert und wird daher mit kleinem Anfangsbuchstaben geschrieben. Nach mir ist Not gebildet ist das seltenere ich habe Not, ursprünglich mit Genitiv, in der neueren Sprache noch zuweilen mit es: wollten Sie nicht ein bischen ruhen? Sie haben's not; (Goethe) auf ein Substantiv bezogen: dein Roß war alt und hast's nicht not (Herder); mit Substantiv als Objekt sie haben Speis' und Trank nicht not (R.Wagner); mit zu und Infinitiv: wer nicht Not hat, sich in eine kalte Beschränktheit zu verstecken (Goethe); am üblichsten unpersönlich damit hat es keine Notdamit hat es keine Eile‹; im gleichen Sinn sagt Goethe das hat keine Not. In mir tut not war Notwohl ursprünglich Subjekt, dann wurde not tun wie ein einfaches Verb behandelt, zu dem ein Subjekt tritt (vgl. das nimmt mich wunder), am üblichsten ein Satz, ein Infinitiv mit zu oder ein Pronomen: es täte not, ich verrichtete alles selbst (Goethe); drum tut es not, den Zaum ihr anzulegen (Schiller); ungewöhnlich doch tat's Euch sehr um unsre Freundschaft not (Schiller); doch auch mit Substantiv: dem Leben tut eine Inkonsequenz oft not (Goethe). Vgl. dazu die Zusammensetzungen "Notbehelf", "Notdurft", "Notlüge", "Notnagel", "Notwehr" (s. unten), Notanker, Notbrücke, Notdach, Notdamm, Noterbe, Notfall, Notpfennig, Notsache, Nottaufe, "notgedrungen", "notwendig", "notreif" (s. unten) u. a.
2 Der gewöhnlichste Sinn von Not, abgesehen von den erwähnten bestimmten Wendungen, ist ›Bedrängnis‹, ›unangenehme Lage, aus der man gern befreit wäre‹: mein Rock, den ich… versetzt hatte, weil ich in der äußersten Not war, steht noch zu Gevattern (J.M.R.A174 Jakob Michael Reinhold Lenz, Hofmeister 2,3), jmdm. seine Not klagen, aus der Not eine Tugend machen (16. Jahrhundert; L258 Lutz Röhrich), in der Not frißt der Teufel Fliegen, Freunde in der Not, man hat seine Not mit ihm, Feuersnot, Hungersnot, Todesnot, Kindesnöte (Geburtswehen) usw.; schwere Not in Flüchen, eigentlich ›Epilepsie‹ ("Schwerenot" ↑ "schwer"); mit (genauer, knapper) Not. In Zusammensetzungen wie "Notstand" (s. unten), Notfeuer, Notglocke, Notlage, Notrecht, Notruf, Notschrei, Notschuß, Notzeichen.
3 Speziell bezieht sich Not öfters auf den Mangel am Notwendigsten: es herrscht große Not im Lande.
Notbehelf (1716 Ludwig; L059 DWb): wo zum waschen wasser fehlt / wird dazu der sand erwählt / diesen notbehelf hat euch / der profete zugezählt (Rückert; L059 DWb).
Notbremse in der Eisenbahn (L218 Muret/ Sanders 1905), häufig ⇓ "S027" übertragen die Notbremse zieheneine gefährliche Angelegenheit abrupt beenden‹.
Notdurft (↑ "dürfen"), ahd. notduruft, eigentlich ›zwingendes Bedürfnis‹. Meist bezeichnet es ein Bedürfnis des Leibes: Wasser nach Notdurft haben (Luther), was die Notdurft erfordert; Spezialisierung in seine Notdurft verrichten (L200 Josua Maaler 1561: die Notdurfft der natur): Zum Abort daneben führt ein Steinportal… (drinnen diente der Notdurft ein bloßes Loch) (A105 Peter Handke, Wiederholung 232); seltener für ein Bedürfnis, das durch den Zwang der Umstände erzeugt wird: doch endlich löst die Notdurft mir die Zunge (Schiller). Es wird auch gebraucht für das, was zur Befriedigung des dringenden Bedürfnisses erforderlich ist: wer wasser vnd brot / kleider vnd haus hat / Damit er sein Notdurfft decken kann (A180 Martin Luther, Sirach 29,28), weil der Mensch zum Glück den Überfluß nicht zählte, ihm Notdurft Reichtum war (Haller). In der älteren ⇓ "S181" Rechtssprache ist Notdurftwas zur Führung einer Rechtssache vorgebracht werden muß‹: wo man des Richters Frau in der Küche seine Notdurft vorstellig macht (Rabener), Herr Fernow möchte alsdann im Merkur, Herr Müller in den Horen seine rechtliche Notdurft anbringen (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Brief vom 1.2.97). Selten ist der Plural: Notdürfte, auch Notdurften (Goethe).
notdürftig mhd. notdürftic, früher in mannigfacher Verwendung der Bedeutung von Notdurft entsprechend, insbesondere ›dringend erforderlich‹, noch bei Schiller die Ausschmückung des Notdürftigen verrät schon die anfangende Zivilisierung; jetzt nur noch im Sinne von ›geradehin oder kaum für das dringende Bedürfnis ausreichend‹. Dazu
Notdürftigkeit mhd. notdürfticheit, früher ›was man dringend braucht‹: steckte ein jeder an lebensmitteln, pulver, blei und ander notdurftigkeiten… in seine säcke (J.G.Schnabel; L059 DWb); oder ›was dringend besorgt werden muß‹: ich bin von allerlei kleinen Notdürftigkeiten so erschöpft (Schiller).
notgedrungen »von noth gedrängt oder durch dringende noth erzeugt« (L059 DWb), Ende des 18. Jahrhunderts (Wieland, Goethe, Schiller), ↑ "dringen".
Nothelfer mhd. nothelfæreHelfer in der Not‹; so werden besonders Heilige genannt, zu denen man in der Not betet, speziell eine Gruppe, die als die vierzehn Nothelfer bezeichnet wird.
notlanden,
Notlandung vom Flugzeug (L056 Duden 101929).
Notlüge gebucht L308 Kaspar Stieler (1691,1149), eine notlüge schadet nicht(Zedler; L059 DWb), weil sie eine Lüge zugunsten anderer ist, so z. B. L003 Johann Christoph Adelung 1777, ⇓ "S147" im 20. Jahrhundert eine Verschiebung der Bedeutung »Lüge aufgrund einer Notsituation« (L099 3GWb) als ›Ausrede, Ausflucht zum eigenen Schutz‹: Es war doch nur eine Notlüge (zur Beschwichtigung des Betrogenen) (FAZ 5.7.2000, 57).
Notnagel (1716 Ludwig; L059 DWb) ›Nagel, der in der Not aushelfen muß‹, übertragen auf einen Menschen: wen in den Nebenrollen ein Anfänger oder ein Notnagel so sehr beleidiget (Lessing), der Notnagel zu sein, wo die Menschen sich rar machen (Schiller).
notreif (L361 Johann Heinrich Zedler 1740) ›infolge von Dürre zu früh reif geworden, ohne ausgewachsen zu sein‹; dazu
Notreife (L264 Daniel Sanders), Gegensatz Überreife (ebenda);
Notstand (1673 Lohenstein; L059 DWb) ›der Zustand der Not‹. Die ⇓ "S181" juristische Fachsprache unterscheidet zwischen strafrechtlichem, zivilrechtlichem und staatsrechtlichem Notstand (L046 DRWb), ⇓ "S175" großes Aufsehen erregte in den 1960er Jahren in der BRD die Diskussion um die sogenannten Notstandsgesetze; fachsprachlich »Gesamtheit des.. Bundesrechts, das zusammen mit der Notstandsverfassung [in das Grundgesetz 1968 aufgenommen] der Bewältigung eines äußeren oder inneren Ausnahmezustandes dient« (L211 Meyer, Konv.Lex.).
Notverordnung seit 1919 für eine nach §48,2 der Weimarer Verfassung erlassene Verordnung.
Notwehr mhd. notwer, L308 Kaspar Stieler 1691 »necessaria defensio«;
notwendig seit Anfang des 16. Jahrhunderts (L059 DWb), ursprünglich ›die Not wendend, d. h. beseitigend‹, um 1526 (ebenda) im Sinne von nötig (s. unten), dieses dann teilweise zurückdrängend. Neben notwendig haben steht zuweilen wie bei nötig haben der Genitiv: er hat jetzt eurer Liebe und eures Erbarmens notwendig (Pestalozzi). Sehr häufig ist notwendiges Übel: Eine Armee… ist im besten Fall ein notwendiges Übel und eine üble Notwendigkeit (A266 Kurt Tucholsky, Gesammelte Werke 2,139). Am jüngsten ist der Gebrauch in der ⇓ "S168" philosophischen Sprache (1723 Ch.Wolff). Adverb notwendig neben notwendigerweise.
Notwendigkeit im 17. und 18. Jahrhundert auch ›was notwendig erfordert wird‹, und in diesem Sinn häufig im Plural: mit allen Notwendigkeiten und Bequemlichkeiten versehn (Lessing).
Notzucht als ⇓ "S181" juristisches Fachwort für ›Vergewaltigung‹ zuerst in der »Carolina«, der »peinlichen Gerichtsordnung« Karls V. von 1532, §119 (aber schon 1523 Weistümer 3,892; L059 DWb), eigentlich »mit Zwang (Not) eine Frau fortziehen« (W.L244 Wolfgang Pfeifer), ⇓ "S183" Rückbildung zu spätmhd. notzühten (vgl. ahd. notzogon), hat andere synonyme Ausdrücke (wie ahd. / mhd. notnumft zu nehmen) zurückgedrängt (L360 ZDW9,7);
nötig ahd. notag, mhd. notec, notic, nœtec, nœtic,
1 eigentlich ›zwingend‹ (vgl. Not[1]), daher ›was notwendigerweise getan werden muß‹: Arbeit, Geschäft, Gang u.dgl. sind nötig, wofür man aber seit Ende des 19. Jahrhunderts z. T. notwendig vorzieht; dann ›was notwendigerweise erfordert wird‹: das nötige Geld u.dgl., zu etwas nötig: dazu nötig haben, nicht selten mit dem Genitiv, was nur auf Vermischung mit anderen Wendungen beruhen kann: ich hatte keiner Verstellung nötig (Wieland), du hast des Schlafs und der Ruhe nötig (Miller). Zuweilen nötig tun statt not tun: da ihr eine Ortsveränderung sehr nötig tut (Goethe, Briefe); ferner sich nötig machen: eine gute Übersetzung wird sich wohl nötig machen (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Brief vom 18.9.13). Als Adverb ist nötig allgemein üblich nur in nötig brauchen.
2 Frühneuhochdeutsch und noch oberdeutsch ist nötig, auch notigin Not, Mangel befindlich‹;
nötigen ahd. notagon, notigon, zu nötig, ist direkt an Not(1) angelehnt und hat allmählich das ältere nöten (noch bei Schiller) verdrängt. Es bedeutet ›zwingen‹: Warum nötigen Sie mich, mit dem Kutscher und Magd gemeinsam zu wohnen? (A138 Hans Henny Jahnn, Chatterton 30), frühneuhochdeutsch spezialisiert ›notzüchtigen‹: Sie… nötigen die Weiber in jhrer kranckheit (A180 Martin Luther, Hesekiel 22,10); abgeschwächt ›dringend bitten, einladen‹ (schon Luther). Anders konstruiert abnötigen, aufnötigen (jmdm. etwas), ↑ "benötigen".
nötigenfalls im Sinne von
notfalls ist eigentlich eine ungenaue Verknüpfung. Beide fehlen noch bei L004 Johann Christoph Adelung und L033 Joachim Heinrich Campe; notfalls bei Goethe (L059 DWb), nötigenfalls bei Heine (ebenda).
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