Hermann Paul - Deutsches Wörterbuch
Norm
< gleichbedeutend lat. normaWinkelmaß, Richtschnur, Regel, Vorschrift‹; schon mhd. norm, norme, häufiger erst seit dem 17. Jahrhundert (L081 FWb), vielleicht erneute Übernahme < franz. norme, in Wörterbüchern gebucht seit L330 Johann Christian Wächtler 1709. Die Industrialisierung im 19. und 20. Jahrhundert bringt einen Aufschwung des Wortes, dessen Bedeutung auf ›Einheitsmuster, Größenvorschrift‹ ⇓ "S029" verengt wird: Geheimräte, nach Regel und Normen, / In Fracks, in Orden, in Staatsuniformen (Fontane; L320 Trübner). Die industriellen Normen legt der Deutsche Normenausschuß (seit 1926) fest, zuvor (1917) Normenausschuß der deutschen Industrie, dazu ↑ "DIN". Weiterhin wird Norm auch für ethische, soziale und politische Regeln gebraucht: Alle zugehörigen Individuen sind normalerweise durch die gleiche Art der Sozialisierung auf die gleichen Normen abgestimmt (N.A048 Norbert Elias Prozeß, Einl. XL). Hierzu gehört die Bezeichnung für das Unterrichtsfach Werte und Normen (1. Hälfte der 1970er Jahre). Zu den sozialen Normen gehört auch die Sprachnorm (↑ "Sprache"). Rechtsgrundsätze können in der BRD durch Normenkontrollklagen z. B. beim Bundesverfassungsgericht überprüft werden. In der ⇓ "S045" DDR war die Norm unter Einfluß von russ. norma vyrabotki das »Ergebnis der Festlegung des notwendigen Aufwands an gesellschaftlicher Arbeit, an Material und an Arbeitsmitteln für die Herstellung von Erzeugnissen« (L137 HWb), gemeint war damit vor allem die festgesetzte, vom Arbeitenden geforderte Leistung: He, Aktivist. Du hast die Taschen voll / mit unserm Geld für deine rote Norm (1956/ 71 H.A195 Heiner Müller, Texte 5,56f.). Hierzu Normerfüllung (L337 WdG), Normübererfüllung. Relativ jung ist eine ähnliche Bedeutung in der ⇓ "S205" Sportsprache ›Mindestleistung, die zur Teilnahme an einem Wettkampf berechtigt‹ (L097 GWb1978). In der Fachsprache der ⇓ "S054" Drucker ist Normabgekürzter Buchtitel unten auf der ersten Seite jedes Bogens‹ (L144 Johann Karl Gottfried Jacobsson 1783). Eng mit dem industriellen Begriff der Norm zusammen hängen die Ableitungen:normal (1716 Ch.Wolff; L345 Friedrich Karl Ludwig Weigand/ L345 Herman Hirt) < lat. normalis und franz. normalder Norm oder Regel entsprechend‹, dann auch umgangssprachlich abgeblaßt ›üblich, alltäglich, gewöhnlich‹ (19. Jahrhundert; L320 Trübner). Umgangssprachlich
nicht normalnicht ganz richtig im Kopf‹ (1934; L320 Trübner): Männer sind natürlich nie ganz normal. Bei uns ist immer eine Schraube los (A296 Carl Zuckmayer, General 548). Aus der Sichtweise von Boheme und Subkultur ist das scheinbar Normale immer in Frage gestellt worden: diese fette gedeihliche Zucht des Mittelmäßigen, Normalen, Durchschnittlichen (A124 Hermann Hesse, Steppenwolf 44). Dazu auch das im alternativen ⇓ "S103" Jargon übliche NormaloSpießer‹, mit dem hier sehr produktiven Wortbildungssuffix -o, vgl. Realo (↑ "real"), HeteroHeterosexueller‹, FaschoFaschist‹ usw. ↑ "enorm".
Normal Neutr. Fachsprache ›Prototyp, Normalmaß, das zur Überprüfung von Gebrauchsmaßen dient‹: die internationalen Konferenzen über elektrische Einheiten und Normale(1913 E.Korschelt, Handwörterbuch der Naturwissenschaften 3,229). Umgangssprachlich ist NormalNormalbenzin‹ im Gegensatz zu "Super" ›Superbenzin‹ (↑ "super-"), nur in Wendungen wie Ich tanke Normal!, Normal oder Super?;
Normalfallder Fall, der üblicherweise eintritt‹ (L337 WdG 1976);
Normalgewichtdas übliche Gewicht (eines Menschen)‹ (L218 Muret/ Sanders 1905);
Normalnulldie Höhe des Meeresspiegels‹ (L201 Lutz Mackensen 1952) gekürzt < Normalnullpunkt (L320 Trübner 1943), abgekürzt N. N. (ebenda);
Normalspurdie Spurbreite der westeuropäischen Eisenbahnen von 1,435 m‹ (L218 Muret/ Sanders 1905);
Normalverbraucherder statistische Durchschnittsbürger‹ ⇓ "S144" um 1948 (↑ "Otto"): weit oben in der Natur… , unermeßlich hoch und fern von uns Normalverbrauchern (A140 Elfriede Jelinek, Lust 15);
Normalzeitdie gesetzliche Einheitszeit‹ (L218 Muret/ Sanders 1905). Heute in Deutschland von der Atomuhr in der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt zu Braunschweig bestimmt;
normalerweise diese nur adverbiale Ableitung ist relativ jung und gegenüber normal dahingehend spezialisiert, daß sie das Erwartbare einer Handlung beschreibt und sich dabei auf einen ganzen Satz bezieht: Ich meine es so, daß die Welt normalerweise so eingerichtet ist, wie es den Bedürfnissen der Menschen entspricht (1924 Th.A183 Thomas Mann, Zauberberg 580), sprach sie uns allen ein Gebet vor, das man normalerweise zwischen Opfer und Wandlung hersagt (A083 Günter Grass, Blechtrommel 83);
normalisierenfachsprachlich ›einheitlich machen, normen‹ (L218 Muret/ Sanders 1905), meist jedoch ›(wieder) normal werden(nachdem zuvor ein außergewöhnlicher Zustand geherrscht hat)‹: Das Leben in dem kleinen Ort hatte sich normalisiert (H.W.Richter; L337 WdG);
Normalität »regelrechte, vorschriftsmäßige Beschaffenheit; z. B. vollkommener Gesundheitszustand u. Körperbau« (L111 Johann Christian August Heyse 1838), heute ›das, was als normal empfunden wird‹ (L097 GWb);
normieren < franz. normer (L243 Friedrich Erdmann Petri 51828), zunächst ›anordnen, vorschreiben‹, heute ›nach einer Norm richten, normgerecht herstellen, einheitlich machen‹ (L056 Duden 91915), ⇓ "S052" dazu fachsprachlich
normen (L056 Duden 101929; zuvor schon einmal im 14. Jahrhundert ›regeln, einrichten‹ [L345 Friedrich Karl Ludwig Weigand/ L345 Herman Hirt]), ›gemäß einer industriellen usw. Norm festlegen‹, dazu auch standardsprachlich bzw. literarisch: alles klein und genormt wie Reihenhäuser (A140 Elfriede Jelinek, Lust 216);
Normung (L056 Duden 101929);
normativ (L111 Johann Christian August Heyse 1807) ›als Richtschnur oder Muster dienend‹: normative Kraft des Faktischen(G.Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 1900,) Wie kann aber ein neuer Gedanke ein normativer sein gleichzeitig? (A159 Heinar Kipphardt, Oppenheimer 211), ⇓ "S208" sprachwissenschaftlich normative Grammatikdie den richtigen Sprachgebrauch lehrt‹ im Gegensatz zu: deskriptive Grammatik als ›Beschreibung sprachlicher Phänomene‹.
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