Hermann Paul - Deutsches Wörterbuch
nicht
ahd. neowiht, niwiht, mhd. niht, ⇓ "S242" aus ni eo wihtnicht irgend etwas‹, wobei niNegationspartikel, eoje‹ (↑ 1"je"), wihtWesen, Ding‹ (↑ "Wicht"), ⇑ "nein", "nie", "nimmer", "nirgends", "niemand", "noch"(2), "nur", vgl. altengl. nawiht, daraus engl. not; zunächst1 Substantiv ›nicht irgendein Ding‹, anstelle des heutigen ↑ "nichts", das mit nicht seit dem 14. Jahrhundert konkurriert und es im Laufe des 16. Jahrhunderts aus dieser Funktion verdrängt; althochdeutsch, mittelhochdeutsch und noch bei A180 Martin Luther: Da aber die Taube nicht fand / da jr fuss rugen kund / kam sie wieder zu jm in den Kasten (1.Mose 8,9); noch vorhanden in zunichte gehen, werden, machen ( < mhd. zuo nihtiu, ze nichte; frühnhd. L037 Petrus Dasypodius 1536 zu Neüt): Es wird mein schonstes Gluck zu nichte! (A074 Johann Wolfgang von Goethe, 12,35 LH); Nebenform nichten, aus mhd. mit nihte en (mit Negationspartikel en-), die im 16. Jahrhundert auch sonst für nichtsund nicht eintreten kann, vgl. noch jetzt bair. nixen; Verschmelzung zunächst nur in der Stellung unmittelbar vor dem finiten Verb, von wo aus dann Übertragung auf andere Positionen; Genitiv erhalten in nichts; bis in die neuere Zeit Verbindungen von nichtmit einem ursprünglich als partitiv verstandenen Genitiv, die sich aus seiner substantivischen Herkunft erklären: sie wollten meines Rates nicht(Luther); ich will deines Schutzes nicht (J.G.Fichte); etwas ungewöhnlich: ich kenne deiner nicht (Uhland); noch üblich die Redewendung hier ist meines Bleibens nicht;
2 Negationspartikel, in dieser Funktion ursprünglich ahd. ni, mhd. ne, en, die immer direkt vor dem finiten Verb standen und zu denen zur Verstärkung neowiht, niht als Akkusativ der Beziehung treten konnte im Sinne von ›in nichts‹; bei zunehmender Auslaßbarkeit des seit dem 15. Jahrhundert endgültig fortgefallenen en war niht schon im 12. Jahrhundert (L164 Friedrich Kluge) bis auf wenige Ausnahmen unentbehrlich und wurde die allgemeine Verneinungspartikel (vgl. L012 Otto Behaghel, Syntax 2,65ff.); in den Mundarten und der gesprochenen Umgangssprache abgeschwächt zu süddt. nit (L200 Josua Maaler 1561), norddt. nich (L004 Johann Christoph Adelung), vgl. L066 Jürgen Eichhoff, Karte 116;
2.1 bei der Satznegation, im Hauptsatz nach dem finiten Teil des Verbs, nach den Objekten und eingeschobenen adverbialen Bestimmungen (bei Inversion auch nach dem Subjekt), im Nebensatz vor dem finiten und infiniten Teil des Verbs: daz ist niht rehtiu minne (Walther v. d.Vogelweide; L059 DWb); Die Sterne lügen nicht (A222 Friedrich Schiller, Wallensteins Tod 3,9); Max! du kannst mich nicht verlassen!(A222 Friedrich Schiller, Wallensteins Tod 3,18); Mußt nicht widerstehn dem Schicksal, / Aber mußt es auch nicht fliehen!(A074 Johann Wolfgang von Goethe, 2,299 LH); in Imperativsätzen, nach dem finiten Verb oder nach den Objekten: O! tu es nicht! tus nicht! (A222 Friedrich Schiller, Wallensteins Tod 2,2); O schaudre nicht! (A074 Johann Wolfgang von Goethe, 12,166 LH); in Fragesätzen: Warumb bin ich nicht gestorben von Mutterleib an? (A180 Martin Luther, Hiob 3,11); sehet ihr nicht? es ist eine Katze / die also mit den Augen funckelt (1663 A095 Andreas Gryphius, Horribilicribrifax 7,49); in der Entscheidungsfrage mit nicht wird der Satzinhalt negiert, daher lautet die widersprechende Antwort ↑ "doch"! im Sinne von ›im Gegensatz zu dem, was der Sprecher sagt, ist die Negation des negativen Satzinhalts, also der positive Sachverhalt, wahr‹; hierher auch satzwertiges nichtmit Frageintonation als Aufnahme einer Hörerreaktion durch den Sprecher: Hat Hofrat Behrens Ihnen auch von der Deutschrussin erzählt, die wir voriges Jahr… hier hatten? Nicht? Das hätte er tun sollen (Th.A183 Thomas Mann, Zauberberg 276); elliptisch auch bei der spontanen Aufforderung, eine begonnene oder geplante Handlung zu unterlassen: Nicht… Nicht! (B.A249 Botho Strauß, Kalldewey 107); im 18. Jahrhundert ist nichtüblich in Ausrufungen in Frageform: wie artig stehet dem herrn prof. nicht der angenommene eifer (Liscov; L059 DWb); O Lotte, was erinnert mich nicht an dich! (A074 Johann Wolfgang von Goethe, 16,188 LH), dafür heute zumeist die positive Form, nicht selten ergänzt durch abtönendes doch; bis ins 18. Jahrhundert in der Schriftsprache, heute noch in der gesprochenen Mundart zwei Negationen nebeneinander, die sich nicht gegenseitig aufheben (ebenso z. B. im Französischen, Italienischen und im gesprochenen Englisch): Das disputiert ihm niemand nicht (A222 Friedrich Schiller, Wallensteins Lager 11.Auftritt); gott ist niemals nicht / von seinem volk geschieden (Klopstock; L059 DWb); nach Verben mit negativem Sinn wie hindern, fehlen, leugnen, zweifeln usw. im 18. Jahrhundert noch das »sogenannte pleonastische nicht« (L059 DWb) im abhängigen Satz, das den im übergeordneten enthaltenen negativen Sinn noch einmal ausdrückt: Verhüt es Gott, daß ich nicht Hülfe brauche (A222 Friedrich Schiller, Tell 3,1); bewahre dich gott, dasz du darüber nicht lachest (Goethe; L059 DWb); dagegen ohne nicht: Bewahre dich Gott, daß du daruber lachest (A074 Johann Wolfgang von Goethe, 16,56 LH); besonders, wenn die abhängigen Sätze selbst wieder direkt oder indirekt negiert sind: Was hindert mich, rief er aus, daß ich nicht eine der grunen Schnuren ergreife und sie, wo nicht eurem Hals, doch eurem Rucken anmesse! (A074 Johann Wolfgang von Goethe, 24,97 LH); konnte es nicht fehlen, daß man seinen Ansprüchen nicht eine gewisse Achtung zugestand (Schiller); ebenfalls neben einem Infinitiv: was könnte sie also hindern, nicht lieber bessere… witterung abwarten zu wollen! (Lessing; L059 DWb); auch nach fürchten und ähnlichen Verben: sie fürchteten sich vor dem Volk, daß sie nicht gesteinigt würden(Luther); des weiteren nach dem Komparativ (wie im Französischen): Und leichter ware sie[die Gunst der Frauen] dir zu entbehren, / Als sie es jenem guten Manne nicht ist (A074 Johann Wolfgang von Goethe, 9,187 LH); desgleichen nach ander: eine ganz andere Empfindung des Glücks, als er es selbst an dem vergnügten Tage seines überstandenen Examens nicht gefühlt hatte (Moritz); nach ohne: der gemeine Soldat kann nicht verurteilet werden, ohne daß nicht zwei seiner Kameraden mit zu Gerichte kommen(Möser); hierher die z. T. in der philosophischen Sprache aus substantivierten Infinitiven entstandenen Zusammensetzungen: Nichtwissen, Nichterscheinen, Nichtbemerken und Nomina actionis: ⇓ "S153" Nichtachtung, Nichtangriffspakt (um 1930), ⇓ "S153" Nichtberücksichtigung, Nichterfüllung, Nichtgebrauch, seltener Nomina agentis: ⇓ "S154" Nichtdenker, Nichtkenner; vgl. aber auch: Nichtchrist, Nichtich (bei Fichte);
2.2 bei der Satzteilnegation, vor dem Bezugsglied: Jch habe deine Tochter nicht Jungfraw funden (A180 Martin Luther, 5.Mose 22,17); Nicht Ihr habt ihn gemordet! Andere tatens (A222 Friedrich Schiller, Stuart 1,4); Nicht jung genug, vor Gotzen mich zu neigen (A074 Johann Wolfgang von Goethe, 9,157 LH); auch nachgestellt: das klingt so unrecht nicht(Lessing; L059 DWb); hierzu nicht einmal (↑ "einmal"[5]), nicht gerade, nicht mehr, nicht minder, nicht weniger, nicht zuletzt; nicht nur – sondern auch (⇑ "nur", 2"sondern" [↑ "sonder"]), auch einfaches nicht zum Ausdruck eines Gegensatzes: Nicht der in's Dorf Hereingehende, sondern der Hinausgehende erhalt etwas (A074 Johann Wolfgang von Goethe, 17,73 LH); daraus
3"S079" Gliederungspartikel (18. Jahrhundert, aber wohl älter), häufig in der Form nicht wahr?(verkürzt aus ist es nicht wahr?);
3.1 satzausleitend mit Frageintonation ›Sprecher übergibt das Rederecht und bittet um Rückbestätigung‹: Wir wollen uns eine lustige Nacht machen! Nicht wahr; Herr Mollfels? (1827 A082 Christian Dietrich Grabbe, Scherz 3,1); Ach Liebes, liebes Schönes, und du lügst mich nur ein bißchen an, nicht wahr? (A004 Ingeborg Bachmann, Gomorrha 2,195); hierfür auch einfaches nicht: Tempelherr. .… Ich kann euch wohl auch Vater nennen, nicht?Klosterbruder. Nur BruderLayenbruder nur, zu dienen (A177 Gotthold Ephraim Lessing, Nathan 1,5); Was nun Sie betrifft, so waren Sie ja wohl immer ziemlich bleichsüchtig, nicht? (Th.A183 Thomas Mann, Zauberberg 255); Helen. Du hast Wolf getroffen, nicht. Georg. Ja. (B.Strauß, Der Park, 1983,24); auch erweitert zu nicht wahr: Da stimmt doch was nicht, nicht wahr? (A167 Wolfgang Koeppen, Treibhaus 64);
3.2Gliederungspartikel, satzintegriertes Pausensignal ›Sprecher möchte weitersprechen, bittet aber vorläufig um Bestätigung‹, meist erweitert zu nicht wahr: so lernt man als Grundlage vor allem einmal die alten Sprachen, nicht wahr, der formalen Bildung halber, wie man sagt (Th.A183 Thomas Mann, Zauberberg 366);
3.3 Gliederungspartikel, satzeinleitend, mit Frageintonation ›Sprecher bittet vorab um Zustimmung für das nachfolgend Gesagte‹; meist erweitert zu nicht wahr: Nicht wahr, Gottliebchen, du willst ein Gelehrter werden? (1827 A082 Christian Dietrich Grabbe, Scherz 1,1);
4"S185" Rückmeldepartikel, mit Frageintonation, ›Hörer bestätigt das Gesagte und überläßt dem Sprecher weiter das Rederecht‹, häufig in der Form nicht wahr?: »Welch eine wirklich liebe Frau«, sagte ich. »Nicht wahr?« fragte Stopfkuchen (A210 Wilhelm Raabe, Stopfkuchen; 18,58); »Natürlich«, sagte ich »es müßte viel mehr Prügel in der Schule geben.« »Nicht wahr«, rief er freudig (A018 Heinrich Böll, Ansichten 117f.), dafür auch einfaches nicht, das aber auch rückfragend gebraucht sein kann: Valer. mir ist nicht lächerlich. Lisette. nicht? (Lessing; L059 DWb); norddeutsch heute in der gesprochenen Sprache zumeist ne? (⇑ "gelt", "oder", "wohl"), vgl. L066 Jürgen Eichhoff, Karte 104. Die Frage nach einem negativen Sachverhalt legt zugleich nahe, daß der Sprecher die positive Entsprechung für wahr hält; ist das Erfragte eine mögliche künftige Handlung des Partners, so suggeriert die Verneinung Erstaunen über mögliches Nicht-Erfolgen der betreffenden Handlung bzw. den Wunsch nach dieser Handlung; was also in verneinten Fragesätzen als nicht-bestehend beschrieben wird, mag später als sprecherseitige Unterstellung der Wahrheit des positiven Satzes oder als Ausdruck des Wunsches nach der beschriebenen Partnerhandlung verstanden worden sein (die möglichen Hörerantworten lauten hier ja und nein und beziehen sich auf die positive Vorannahme des Sprechers), daher der Gebrauch als
5"S002" Abtönungspartikel
5.1 in rhetorischen Fragen ›Sprecher hält den positiven Sachverhalt für wahr‹: Hab ich Nit gesagt es werde also gon? (L200 Josua Maaler 1561); Hat man uns nicht seit vierzig Wochen / Die Löhnung immer umsonst versprochen? (A222 Friedrich Schiller, Wallensteins Lager 11.Auftritt); Könnte man nicht sagen, daß Kultur nur durch Krieg, Kampf, Spannung möglich ist… ? (A004 Ingeborg Bachmann, Unter Mördern und Irren 2,170); Bin ich nicht deine Frau? (A004 Ingeborg Bachmann, Wildermuth 2,245);
5.2 in als Frage formulierten Aufforderungen, insbesondere Bitten und Angeboten, ›Sprecher macht deutlich, daß er die beschriebene Handlung wünscht bzw. akzeptiert‹: Willst du nicht das Lämmlein hüten? (A222 Friedrich Schiller, Der Alpenjäger); »Na, setzen Sie sich nicht zu uns?« ward Diederich von Doktor Heuteufel gefragt (H.A182 Heinrich Mann, Untertan 138).
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