Hermann Paul - Deutsches Wörterbuch
Neige
mhd. neigeNeigung‹, zuweilen früher ›Verbeugung‹: eine bäurische Neige, einen dummen Knix (Lessing); häufiger für den Niedergang des Gestirns und danach des Tages, einer Epoche: der Abendsonne kühle Neige(Lenau), an des Jahrhunderts Neige (Schiller); am gewöhnlichsten für die Neigung eines Fasses, welches schief gestellt ist, um den letzten Rest des Inhalts herauslaufen zu lassen: auf der Neige sein, häufig übertragen: und weil mein Fäßchen trübe läuft, so ist die Welt auch auf der Neige (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Faust I,4095). Endlich wird ein solcher Rest selbst als Neigebezeichnet, überhaupt jeder Rest von Getränk (im Glas usw.), auch von Speisen. Häufig übertragen: die Neige der köstlichen Zeit(Schiller); besonders auf die Neige gehen, zur Neige gehen.neigen mhd. neigen, ⇓ "S107" Kausativum zu einem verlorengegangenen altgermanischen intransitiven starken Verb ahd. (h)nigan (verwandt mit lat. coniveo, nixus ›die Augen schließen‹), das jetzt durch sich neigen ersetzt ist, wofür aber auch einfaches neigenerscheint, bei Dichtern nicht selten: wir neigen dir (Goethe), unserm Gruße freundlich neigend (Goethe). Allgemein ist es in übertragener Verwendung neigen/ geneigt sein zur Milde usw.: Die menschliche Natur… neigt zu Ausschreitungen (A138 Hans Henny Jahnn, Chatterton 38). Die eigentliche Bedeutung ist ›etwas, was sich bisher in stehender, aufrechter Stellung befunden hat, der liegenden annähern‹. Weiterhin bezeichnet es auch die Veränderung der waagerechten Lage (z. B. eines Fasses) in eine schräge. Endlich wird es öfters ungenau wie "senken" verwendet: die Waagschale, die Sonne neigt sich. Wird es mit zu verbunden, so tritt die Vorstellung des Wendens nach einer bestimmten Richtung in den Vordergrund. Allgemein üblich jetzt nur mit einem Objekt, das entweder mit dem Subjekt identisch oder ein Teil desselben ist: ich neige mich, mein Haupt, der Baum neigt sich. So auch übertragen: neige mir dein Herz zu. Doch noch bei Goethe und Schiller wird es auf ein dem Subjekt fremdes Objekt bezogen: mich neigt dein mächtig Seelenflehn (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Faust I,488), zu diesem Extrem neigt die ästhetische Verfeinerung den Menschen (Schiller). (sich) neigen kann auch von dem durch Neigen hervorgebrachten dauernden Zustand gebraucht werden, der genauer durch geneigt sein bezeichnet wird: der Mensch neigt sich(üblicher neigt, s. oben) ursprünglich zum Verderblichen (Schiller), doch neigt sich meine Art und Weise immer zur Ausführlichkeit (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Brief vom 21.6.14). Jmdm. geneigt seinwohlgesonnen sein‹; der sinnlichen Grundanschauung gemäß noch mit gegen: nicht wenige… wurden gegen die Hugenotten geneigter (Schiller). Dazu ↑ "nicken".
Neigung (S.L261 Simon Rot 1571 s. v. Declination) entspricht allen Verwendungsweisen des Verbs neigen. In der ⇓ "S032" Kantischen Ethik Gegensatz zu ↑ "Pflicht": Liebe als Neigung kann nicht geboten werden, aber Wohlthun aus Pflicht selbst, wenn dazu gleich gar keine Neigung treibt, ja gar natürliche und unbezwingliche Abneigung widersteht, ist praktische und nicht pathologische Liebe (I.A153 Immanuel Kant, Grundlegung; AA 4,399). Die sinnliche Bedeutung wirkt bei unsinnlichem Gebrauch im 18. Jahrhundert noch darin nach, daß es auch mit anderen Präpositionen als zu konstruiert wird: Spuren einer Neigung gegen Natalien(Goethe), eine unwiderstehliche Neigung nach dem Original(Goethe). Dagegen weist das jetzt auch wenig übliche Neigung für auf Verblassen der ursprünglichen Bedeutung,↑ "Abneigung".
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