Hermann Paul - Deutsches Wörterbuch
nehmen
ahd. neman, mhd. nemen, gemeingermanisches starkes Verb. Verwandtschaft mit Wörtern anderer indogermanischer Sprachen (griech. némo, lat. emo, lett. nemt) noch ungeklärt. Wie unter ↑ "geben" bemerkt ist, kann es eine Entsprechung zu diesem bilden, indem es die Tätigkeit desjenigen, dem etwas gegeben wird, bezeichnet. Moralisch gewertet wird dies in der Bibel (Apostelgeschichte 29,35): Geben ist seliger den nemen. Mit nehmenwird danach häufiger die Vorstellung von Egoismus und Raffgier verbunden. Umgangssprachlich sagt man von einer Person Sie ist vom Stamme Nimm (nach dem Imperativ des Verbs und in Anspielung auf 4.Mose 13,9): Die ist doch vom Stamme Nimm! Willi war noch nicht kalt, da hatte die schon drei Neue! (W.A041 Wiglaf Droste, Kommunikaze 124). Es kann aber auch etwas genommen werden, ohne daß es von der anderen Seite gegeben wird, und dann stehen nehmen und geben nicht in dem Verhältnis der Wechselseitigkeit, sondern nur in dem des Gegensatzes. Nur in diesem Fall wird es mit einem Dativ verbunden: ich nehme dir das Geld gegen ich nehme das Geld von dir. Ein ganz anderes logisches Verhältnis bezeichnet der reflexive Dativ, nämlich nicht die Person, der der Besitz entzogen, sondern die, der er übertragen wird; nehmen korrespondiert auch insofern mit geben, als es ein sinnliches Erfassen (in der Regel mit der Hand) und zugleich Besitzergreifung ausdrücken kann, aber auch das bloße Erfassen ohne Aneignung (nimm das Buch und trag es zu Karl), wie andererseits bloße Aneignung ohne sinnliches Erfassen. ›Erfassen‹ scheint aber die ursprüngliche Bedeutung zu sein. Daher sagt man auch im Mittelhochdeutschen z. B. wa namet ir daz? eigentlich ›wo habt ihr das ergriffen‹, wo wir sagen woher habt ihr das genommen? Dieser Gebrauch reicht noch in die neuere Sprache hinein: der Offizier stellte das Rohr an den Ort, wo er es genommen hatte (J.P.Hebel). An diese Bedeutung schließt sich vielleicht nehmen im Sinne von ›gebrauchen‹ an in Sätzen wie sie nimmt nur Öl zum Braten (L097 GWb), hierzu auch die aus Kochbüchern bekannte Formel Man nehme. Eine Aktivität des Subjektes muß vorhanden sein, abgesehen von den weiter unten erwähnten Fällen. Sonst könnten manche Aufforderungen nur als Ausnahmen betrachtet werden, bei denen an eine Befolgung im eigentlichen Sinne nicht zu denken ist, z. B. nimm diesen Streich. Hierzu gehörtjmd. ist hart im Nehmenjmd. kann viele (Schicksals-)Schläge aushalten‹ (L337 WdG 1974), das genau wie er hat Nehmerqualitäten (L097 GWb1978) aus dem Jargon des ⇓ "S205" Boxsports stammt. Als eine besondere Art der Besitznahme kann das Einverleiben in den eigenen Körper betrachtet werden: eine Mahlzeit, ein Frühstück, ein Glas Wein nehmen, vgl. zu sich nehmen. Einen nehmen bedeutet dann umgangssprachlich allgemein ›einen trinken‹: jetzt wollen wir erstmal einen nehmen Ich stehe an der Theke (1925 A266 Kurt Tucholsky, Gesammelte Werke 2,105). Die Anwendung von nehmenals einer Besitzergreifung ist einer ähnlichen Ausdehnung fähig wie das Possessivpronomen. Ich kann sagen ich nehme einen Diener, Führer, Lehrer, Anwalt, Vertreter, weil derselbe dadurch mein Diener usw. wird; ebenso jmdn. zum Lehrer usw. nehmen. So auch zum Mann, zur Frau nehmen, in welchem Sinn häufig einfaches nehmen gebraucht wird, dieses nimmt dann aus männlicher Perspektive auch den Sinn ›mit einer Frau Geschlechtsverkehr treiben‹ an. Ferner etwas zum Vorbild/ Muster nehmen. Daß man etwas in seinen Besitz nimmt, schließt nicht notwendig ein, daß einem anderen der Besitz entzogen wird (vgl. sich Zeit nehmen), umgekehrt aber kann in nehmen eine Besitzentziehung liegen, der keine Besitzergreifung durch das Subjekt entspricht: jmdm. seine Ehre, seinen guten Namen, seinen Glauben, seine Hoffnung, sein Glück nehmen usw. Von dem sinnlichen Erfassen, wie es ursprünglich in nehmen liegt, mag damit der Gedanke an eine Art von Besitznahme verknüpft sein oder nicht, gelangt man stufenweise zu einer immer abgeblaßteren, schließlich zu einer ganz unsinnlichen Vorstellung: Platz, Wohnung, Herberge, ein Bad, Unterricht, das Wort, ein Beispiel, Anteil, Partei, Gelegenheit, Anlaß, Anstoß, Ärgernis, Kenntnis, Notiz nehmen, teilnehmen (↑ "Teil"). Fast befremdlich klingt wenn Voltaire einiges Augenmerk auf die Pantomime genommen hätte (Lessing). ⇓ "S073" Besonders verblaßt erscheint der Begriff von nehmen in Verbindung mit Tätigkeitsbezeichnungen, mit denen es eine Umschreibung für ein Verb bildet: Stellung, Bezug, den Rückzug, Rache, die Flucht, seine Zuflucht nehmen; mein Entschluß ist genommen(Wieland) (jetzt gewöhnlich gefaßt). Zu manchen können auch nichtpersönliche Subjekte treten: eine Richtung, Wendung, einen Ausgang, Anfang nehmen; auch indessen hatte die Oper das Übergewicht über das Schauspiel genommen (Goethe). Ebenso verhält es sich auch noch mit einigen Verbindungen, die nicht Substantivierungen eines Verbalbegriffs enthalten: ein Ende, Schaden nehmen. Vielfach wird nehmenmit Präpositionen, die eine Richtung bezeichnen, verbunden; infolgedessen nimmt es die Vorstellung einer Ortsveränderung in sich auf, die mehr oder weniger zur Hauptsache werden kann: auf die Arme, auf den Rücken, in sein Haus, in den Mund, vor die Augen, zu sich, aus dem Koffer, aus dem Gefängnis nehmen; nehmen tritt häufig in festen Verbindungen mit nominalen Abstrakta zur Umschreibung eines Verbalbegriffs auf: in Besitz, in Acht, in Haft, in Kauf, zu Hilfe, zur Kenntnis nehmen usw., vgl. auch: ich nahm sie [die beiden Akte] aber bald in Aversion (Goethe), auf sich nehmenAusführung von etwas oder Verantwortung für etwas übernehmen‹, ähnlich über sich nehmen. Mit prädikativem Adjektiv erscheint nehmenin fest nehmen,gefangen nehmen. Dem sich geben im Sinne von ›sich zeigen‹ entspricht auch ein nehmen: man nimmt einen, wie er sich gibt; ähnlich eine Sache nehmen, wie sie liegt; ferner mit Adverbien übel nehmen, leicht, schlimm, ernst, streng, genau nehmen. So erscheint nehmen auch im Sinne von ›sich vorstellen, vergegenwärtigen‹: nun nehme man die Sitte der ältesten Zeit (Herder). Verwandt sind auch Verbindungen mit für: ein Zehnpfennigstück für ein Fünfzigpfennigstück nehmen bedeutet eigentlich ›jenes für dieses wirklich nehmen‹; da dies aber die Folge davon ist, daß man das eine für das andere gehalten hat, so bedeutet nehmen für auch nur ›halten für‹, ohne daß ein wirkliches Nehmen stattzufinden braucht. Im 18. Jahrhundert, auch noch im 19. sich nehmensich benehmen‹: über die Art, wie sich Leibniz dabei genommen (Lessing), wie er sich fürstlich nahm!(Grillparzer). Zu nehmen gehören -nahme, -nunft; ⇑ "angenehm", "genehm", "vornehm".
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