Hermann Paul - Deutsches Wörterbuch
Natur
ahd. natura< lat. natura, mhd. nature, auch natiure (mit Einfluß von altfranz. nature). Zuerst aufgekommen ist es im Sinne von1angeborene Beschaffenheit‹, was der lateinischen Bedeutung entspricht (schon ahd. ; L059 DWb 7,430): Mir sind nicht allein durch meine Verhältnisse, auch durch meine Natur engere Grenzen… gezogen (Ch.A285 Christa Wolf, Ort 132). Zusammensetzungen Naturanlage (I.Kant; L059 DWb), Naturtalent (erst im 20. Jahrhundert gebucht; H.Paul, Deutsches Wörterbuch, 51966). Man spricht dann auch von der Natur der Sache, der Dinge usw.: Die Verschwommenheit nämlich liegt in der Natur der Sache, des Ruhmes also (A069 Robert Gernhardt, Glück 83). Besonders häufig von Natur: wer nicht in diesem Sinne einig lebt mit dem Elemente… , ist von Natur auch in sich selbst so einig nicht (A131 Friedrich Hölderlin, Hyperion 82). Der Mensch wird mit seiner Natur identifiziert: Bei diesen labilen Naturen weiß man nie, was dahintersteckt (B.A247 Botho Strauß, Besucher 58), Die schweigen so vor sich hin… Das sind verschlossene Naturen (A296 Carl Zuckmayer, General 542), diese Übertragung ebenfalls schon althochdeutsch (L059 DWb 7,440). Man versteht unter Natur
2 die Gesamtheit des ohne Zutun der menschlichen Kultur Entstandenen: nicht nur die Berge, sondern jegliche Art nutzloser, unfruchtbarer Natur, Heide und Strand, Wüste und Karst, Moor und Meer (A069 Robert Gernhardt, Glück 48), die Gegenden menschenleer, Nachahmungen unberührter Natur (A102 Peter Handke, Brief 73). Zusammensetzungen Naturerzeugnis (2.Hälfte des 18. Jahrhunderts, Heynatz), Naturprodukt (Herder), Naturgesetz (I.Kant), Naturwissenschaft (Wolff; alle L059 DWb), Naturwunder (L308 Kaspar Stieler), Naturkunde (ebenda), Naturgeschichte (L004 Johann Christoph Adelung), Naturschutz (L056 Duden 111934), das Buch der Natur (Konrad von Megenberg im 14. Jahrhundert, Titel). »Der Begriff ›Natur‹ gehört einem vorwissenschaftlichen Weltbild an; er ist allenthalben ideologisch vorbelastet; wir kennen keinen wissenschaftlichen, präzisen Naturbegriff, sondern nur naive Naturvorstellungen.« (H.Schipperes; L086 GG4,216). Diese Gesamtheit der Natur erscheint
3 häufig nach antikem Vorbild personifiziert (Wolff, Brockes; L059 DWb): Wie sie die Natur besiegten, um Sklaven der Technik zu werden! (A154 Hermann Kasack, Stadt 189), Es gibt sie, die glückliche Hand der Natur. Es gibt die Perfektibilität ihrer Geschöpfe (Ch.A285 Christa Wolf, Ort 41), Mutter Natur: Schön ist, Mutter Natur, deiner Schöpfung Pracht (A162 Friedrich Gottlieb Klopstock, Der Zürchersee), Wie ist Natur so hold und gut, die mich am Busen hält (L092 GoeWb). Häufig wird Natur
4 in Gegensatz zu "Kunst" oder "Kultur" gestellt: daß Benedictine… die künstlichen Zeichen und Gegenstände der Zivilisation schon als Natur erlebte (A102 Peter Handke, Brief 117), Es ist schwer zu sehen, ob die radikale Gegenüberstellung von »Zivilisation« und »Natur« mehr ist als ein Ausdruck für die Gepreßtheit der »zivilisierten« Seelen selbst(N.A048 Norbert Elias, Prozeß I,218), Es hat sich allmählich herumgesprochen, daß der Gegensatz von Kunst nicht Natur ist, sondern gut gemeint (A010 Gottfried Benn, Phänotyp 156). Hierzu ein Bild usw. nach der Natur (Lessing). Zusammensetzungen Naturzustand (I.Kant), Naturkind, (Schiller), Naturvolk (Herder), Naturrecht (1738 Hayme; alle L059 DWb): Was auch immer der Lehrer tun mag, um das Vernunftrecht zur Darstellung zu bringen, seine Schüler stützen sich immer wieder auf das Naturrecht (A210 Wilhelm Raabe, Hungerpastor 36), Naturheilkunde (1874–78; L059 DWb), dazu auch ↑ "Unnatur". Natur kann
5 auch mehr oder weniger verhüllend gebraucht werden für die Bedürfnisse und Regungen des Sexus wie der »Urogenitalsphäre« insgesamt. So für männlichen und weiblichen Zeugungsstoff (1409; L059 DWb), »Menschlicher samen, Sperma« (L200 Josua Maaler); ›die Geschlechtsteile‹ »Scham oder gemächt« (L200 Josua Maaler 1561); ›Zeugungsfähigkeit und -lust‹ (mhd. ; L059 DWb7,436); ›der Drang, sich zu entleeren‹: Doctor Er hat auf die Straß gepißt, an die Wand gepißt wie ein Hund.Woyzeck Aber Herr Doctor, wenn einem die Natur kommt (A030 Georg Büchner, Woyzeck 174). Für das Wort Naturgilt noch heute, was Lexer 1889 schrieb: »Übrigens wird man in einem lexicalischen artikel eine auch nur annähernd erschöpfende darlegung und behandlung des unendlich oft gebrauchten wortes und seiner begriffsentwicklung .. nicht suchen oder von ihm verlangen« (L059 DWb7,430).
Naturbursche zunächst Rollenfach auf dem Theater wie Naiver, jugendlicher Liebhaber usw. (1841; L164 Friedrich Kluge), dann übertragen verallgemeinert »unsophisticated fellow« (L218 Muret/ Sanders).
Naturalien früher auch die lateinische Form Naturalia, ⇓ "S172" Plural zum lateinischen Adjektiv naturalis.
1natürliche Gaben des Menschen‹ (1709 L330 Johann Christian Wächtler; L081 FWb);
2Lebensmittel‹ (1794; L081 FWb), vorher seit 1712 ›Naturerzeugnisse, Lebensmittel‹: Der Sold… wird in Naturalien und Sachleistungen entrichtet (A154 Hermann Kasack, Stadt 37);
3Naturmerkwürdigkeiten‹ (L144 Johann Karl Gottfried Jacobsson 1793), dazu Naturalienkammer, Naturalienkabinett (ebenda).
Naturalismus »Lehre eines Naturalisten«, der »die natürliche Übung der Pflichten gegen Gott für hinlänglich hält« (L003 Johann Christoph Adelung 1777). Dann ›Naturtreue‹ in der Malerei (1801 Goethe; L081 FWb) und Literatur (1836 Gutzkow; ebenda). ⇓ "S061" Als ⇓ "S192" Schlagwort für die literarische Richtung des späten 19. Jahrhunderts (1883; L081 FWb) < franz. naturalisme: Diese beiden Strömungen, die philosophisch materialistische und die soziale andererseits haben in der Literatur auch ein neues Kunstprinzip erzeugtden Naturalismus (J.Hillebrand 1886, in: Naturalismus. Hg. von M.Brauneck und C.Müller 1987, 39). Dazu
Naturalist Die Naturalisten glauben zu schreiben, wie man spricht. (K.Groth, Briefe über Hochdeutsch und Plattdeutsch, 1858, SW VI,1961, 135), früher ›Naturforscher‹ (L308 Kaspar Stieler, noch bei Lessing; L059 DWb), dann ›Autodidakt, Dilettant, der sich nur von seinen Naturgaben leiten läßt‹: die bloßen Naturalisten des Kopfs… Autodidacti (1798 I.Kant; L081 FWb), als Fachausdruck der Fechtersprache schon 1742 (L081 FWb). Auch ›Natur- oder Vernunftgläubiger‹ im Gegensatz zum Deisten (1752; L081 FWb);
natürlich ahd. naturlih,
1 früher (seit dem Mittelhochdeutschen; L059 DWb) allgemein ›auf die Natur bezüglich‹, noch natürliche WissenschaftenNaturwissenschaften‹ (Goethe, Briefe).
2"S114" Es bildet den Gegensatz zu dem durch willkürliche Absicht des Menschen Geschaffenen, dem Künstlichen. Hierher gehört auch natürlicher (nicht gewaltsamer) Tod; ferner natürlicher Sohn (15. Jahrhundert; L345 Friedrich Karl Ludwig Weigand/ L345 Herman Hirt) usw. (wohl Lehnbildung nach franz. fils naturel), bei dessen Erzeugung nicht die menschliche Einrichtung der Ehe wirksam gewesen ist, während in älterer Zeit natürlicher Sohnleiblicher‹ war. Der Mensch und sein Benehmen wird als natürlich bezeichnet im Gegensatz zu künstlicher Bildung. Insbesondere ist natürlich
3angeboren‹, schon spätmittelhochdeutsch (L059 DWb).
4 Es bildet den Gegensatz zu dem, was auf eine unbegreifliche Weise dem natürlichen Lauf der Dinge widerspricht, dem Übernatürlichen oder Wunderbaren; natürlich ist daher auch, was nach dem gewöhnlichen Verlauf der Dinge erwartet wird; so gebraucht man namentlich das Adverb im Sinne von ›begreiflicherweise, selbstverständlich‹ (süddeutsch dafür meist ↑ "freilich", vgl. L066 Jürgen Eichhoff, Karte 3–57).
5 In der Bibel wird der natürliche Mensch (ein natürlicher Leib) dem wiedergeborenen, von der göttlichen Gnade erleuchteten gegenübergestellt. Im 18. Jahrhundert auch als literaturtheoretischer Begriff (Hagedorn, Gellert; L059 DWb);
6ungekünstelt, einfach, offen‹. Dazu "unnatürlich" (↑ "Unnatur") und als noch schrofferer Gegensatz
widernatürlich (1349/ 50 Konrad von Megenberg; L059 DWb), oft im Sinne von ›obszön‹, insbesondere bezogen auf Homosexualität (1622; L059 DWb).
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