Hermann Paul - Deutsches Wörterbuch
Nation
"S175" Anfang des 15. Jahrhunderts bei Oswald von Wolkenstein (L215 Paul Möller) < lat. natio, besonders dem Akkusativ Singular nationem›Volksstamm‹, auch ›Gattung, Klasse‹. Erst seit Mitte des 15. Jahrhunderts häufiger. »Ein volck das in einem Landt erborn ist« (S.L261 Simon Rot 1571); im 18. Jahrhundert wird der Begriff der Nationvon den Aufklärern enger gefaßt: Diejenige Menge oder auch der Theil derselben, welcher sich durch gemeinschaftliche Abstammung für vereinigt zu einem bürgerlichen Ganzen erkennt, heiszt Nation (gens). (I.Kant; L138 HWbPh 6,407); da wir Deutsche noch keine nation sind! (Lessing; ebenda). Einen Aufschwung erhält der politische Begriff Nationdurch die französische Revolution, die Nation als ⇓ "S192" Schlagwort auf ihre Fahnen heftet. Doch bleibt die Bedeutung ›Volk‹ dominant, daneben ›Völkerschaft‹ (von L032 Joachim Heinrich Campe Erg. als Ersatz propagiert), von denen durchaus mehrere das politische Staatsvolk ausmachen können, beides bei L111 Johann Christian August Heyse 1807. Skeptisch ist A075 Johann Wolfgang von Goethe, Xenien; 5.1,218: Zur Nation euch zu bilden, ihr hoffet es, Deutsche, vergebens: / Bildet… dafür freier zu Menschen euch aus. Im 19. Jahrhundert v. a. positiv konnotiert: … daß wir aus einem Volke von Kleinbürgern und halbfreien Bauern… eine Nation geworden sind mit freiem Grundbesitz und einem… Antheil am Welthandel (A263 Heinrich von Treitschke, Briefe 2,425 [27.10.1865]). Im Laufe des 20. Jahrhunderts wird mit Nation immer mehr die staatliche Struktur, in der ein Volk lebt, verbunden (1963; L097 GWb), so daß im L337 WdG 1974 die Bedeutung ›Volk‹ als umgangssprachlich gebucht werden kann und ebenda die Rede von der DDR als sozialistische Nation ist ⇑ "Staat", "Volk". Veraltet mit Bezug auf einen Stand oder ein Geschlecht: wir mädchen sind doch eine wunderliche nation (Goethe; L059 DWb); in den Mundarten oft abwertend, so »leipzigerisch« (L059 DWb) ›Gelichter, Lumpen‹.national < lat. nationalisdie Nation betreffend, ihr eigentümlich‹, im 18. Jahrhundert unter dem Einfluß von franz. national (2.Hälfte des 18. Jahrhunderts; L081 FWb), nicht gebucht in den Wörterbüchern des 18. Jahrhunderts, doch existieren entsprechende Zusammensetzungen (s. unten). Bei S.L261 Simon Rot 1571 steht National als Substantiv für: »Ein gemeiner Reichstag einer gantzen Nation oder Konigreichs«. In der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts häufig auch nationell, schon bei Goethe (L059 DWb), Hölderlin und bis in die Gegenwart: Und jedes Bruchstück Verständigung / gleicht einer Zelle im nationellen Geweb, / die immer den Bauplan des Ganzen enthält (B.A248 Botho Strauß, Erinnerung 48). Zusammensetzungen:
Nationalautor (1767 A121 Johann Gottfried Herder, 1,402),
Nationalbühne
(Schiller; L059 DWb),
Nationalcharakter (1759 Mendelssohn; L081 FWb),
Nationaldichtung (1812 Goethe; L081 FWb),
Nationalgefühl (1784 Herder; L059 DWb),
Nationalgeist 1761 in einer Übersetzung, dann 1763 bei Moser,
Nationalgericht (1843 Lewald; L081 FWb),
Nationalspeise (1822; L081 FWb);
nationalistischübersteigert national‹, abwertend, gebucht L242 Richard Pekrun 1933, Nationalist »betont völkisch Eingestellter« (ebenda);
Nationalhymne nach franz. hymne nationale (1793; L081 FWb) erst »um die Mitte des 19.Jhs.« (ebenda) gebildet (Illustrirte Zeitung 1856, 106 und Hoffmann von Fallersleben, Unsere Volksthümlichen Lieder, 31869, 66; Feldmann, in: L360 ZDW13,273) ›patriotischer, das nationale Selbstverständnis artikulierender Text und Gesang mit (zumeist) ausdrucksstarker Melodie‹, erst im 20. Jahrhundert gebucht, z. B. L025 Brockhaus 1907 Jetzt wird meist das Lied ›Deutschland, Deutschland über Alles‹… als Nationalhymne gebraucht (Bd. 17, Supplm.); E.Bohn, Die Nationalhymnen der europäischen Völker, 1908; H.Kurzke, Hymnen und Lieder der Deutschen, 1990.
Nationalliteratur in der Form National-Litteratur seit 1768 (Herder; L257 3RL2,445), bürgerliche deutsche Nationalliteratur (L337 WdG).
Nationalsozialismus (1887 Deutsches Adelsblatt; L015 Cornelia Berning) ⇓ "S175" zunächst auf die Politik Bismarcks gemünzt. Ernsthafte Bestrebungen, Nationalismus und Sozialismus zu vereinen, gab es zuvor schon auf zionistischer Seite (Moses Heß) und später im Rahmen der deutschen »Nationalsozialen Partei« (Ende des 19. Jahrhunderts). Kaum über den Wert einer Propagandalüge hinaus geht die Verwendung des Adjektivs nationalsozialistisch als Bezeichnung »völkischer« Parteien, auch wenn es einzelnen Mitgliedern damit vielleicht ernst war. Im Parteinamen zuerst 1918 in Österreich: »Deutsche Nationalsozialistische Arbeiterpartei im Sudetenland«. Nach dem Vorbild dieser Gruppierung nahm die »Deutsche Arbeiterpartei« am 1.3.1920 den Namen »Nationalsozialistische Arbeiterpartei Deutschlands« an. Literatur: L015 Cornelia Berning, 137ff. Dazu
Nationalsozialist (1887 Deutsches Adelsblatt; L015 Cornelia Berning) und
Nazi"S198" gebildet analog zu "Sozi", v. a. von Gegnern benutzt: Mannesmut, Ehre, Treue und Schneid sind Dinge, die die Nazis sehr schätzenan andern (A170 Wolfgang Langhoff, Moorsoldaten 163). Doch auch als ⇓ "S145" Eigenbezeichnung, so in der von Goebbels verfaßten Schrift Der Nazi-Sozi (31931). Seit den 70er Jahren
Neonazijüngerer Anhänger einer rechten Partei in der Tradition der NSDAP‹ (L337 WdG1974), im Gegensatz zum Altnazi, der schon »damals« dabei war. Auch als Eigenbezeichnung (L030 Brisante Wörter). Selten die feminine Nazisse (L021 Karl-Heinz Brackmann/ L021 Renate Birkenhauer): Einer dieser Lümmel wollte sie tatsächlich verzinken, als Nazisse denunzieren (A018 Heinrich Böll, Gruppenbild 254).
Nationalsprache (1768 ⇓ "S032" Herder; L081 FWb), v. a. Begriff der marxistisch orientierten ⇓ "S208" Sprachwissenschaft »Sprachform mit überlandsch. Geltung, die sich im Prozeß der Entwicklung der Nation herausbildet« (L337 WdG), vgl. M.M.Guchmann, Der Weg zur deutschen Nationalsprache, 1964;
Nationalstaat (1871; L081 FWb),
Nationalstolz (1758; L081 FWb),
Nationaltheater (1768 Lessing),
Nationaltracht (1778; L081 FWb),
Nationalversammlung (1526; L345 Friedrich Karl Ludwig Weigand/ L345 Herman Hirt).
Nationalismus (L361 Johann Heinrich Zedler 1740), zuerst von Studenten-Nationen (Landsmannschaften), dann durch franz. nationalisme (1798; L389 Petit Robert) ins Politische gewendet: ›nationaler Egoismus, rücksichtslose nationale Interessenpolitik‹, schon 1809 spricht R.Rask von einem gewissen falschen Nationalismus nordischer Schriftsteller (Samlede Afhandlinger, 3,446), der Nationalismus, dieser Nachfolger der Religion(A266 Kurt Tucholsky, Gesammelte Werke 2,392). Eine Nation keinen Nationalismus (L282 Wolfgang Schneider, Demontagebuch, 141);
nationalisieren
1einbürgern, ins Volk bringen‹ (1725 Gottsched; L345 Friedrich Karl Ludwig Weigand/ L345 Herman Hirt), nach franz. nationaliser, das jedoch nach ›L389 Petit Robert‹ erst seit dem Ende des 18. Jahrhunderts belegt ist. Auch
2verstaatlichen‹ (L081 FWb1942).
NationalitätVolkszugehörigkeit, Staatszugehörigkeit‹ (1797; L081 FWb).
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