Hermann Paul - Deutsches Wörterbuch
nahe
nah, ahd. nah, mhd. nach, na; germanisch (got. nef(a), altnordisch na in Zusammensetzungen, altengl. neah, engl. nigh [poetisch]). Adverb und Adjektiv, Gegensatz zu "fern". Das ch des Superlativs nächste (früher selten näheste) und des verwandten ↑ "nach" weist noch auf den im Mittelhochdeutschen allgemeinen Wechsel zwischen h und ch, dieses Nebeneinander noch bis ins 18. Jahrhundert (W.L244 Wolfgang Pfeifer), ↑ "hoch". Der adverbiale Gebrauch ist älter (W.L244 Wolfgang Pfeifer) und überwiegt bis ins Neuhochdeutsche. Als Adverb erscheint es in enger Verbindung mit Verben als der eigentliche Hauptbegriff (das logische Prädikat) nahe sein: die vnter den Völckern vmb euch her sind / sie seien dir nahe oder ferne (A180 Martin Luther, 5.Mose 13,7), übertragen ich war nah an einer ohnmacht (Goethe; L059 DWb); jmdm. nahe sein/ nahe stehen meist übertragen ›nahe Beziehung zu einem haben‹ (L059 DWb 1889); nahe liegen: die berg… gelegen seind nahe der stadt Hierusalem (S.Frank; L059 DWb), übertragen hier lag der Gedanke nahe, sich an das ältere recht anzuschlieszen (Savigny; L059 DWb); nahe gehenzu Herzen gehen‹: sit [›da‹] ir min langez leit niht nahe gat(Minnesangs Frühling 195,31), jmdm. nahe legen/ nahe bringenjmdn. deutlich auf etwas hinweisen‹ (Schiller; L059 DWb); jmdm. zu nahe treten/ kommenjmdn. verletzen, beleidigen‹, 1663 bei L284 Justus Georg Schottelius als Redensart ohne Paraphrase, dann eindeutig übertragen bei J.Ch.Günther (1746; L059 DWb). Allgemein üblich ist adverbiales nahe in enger Verbindung mit Präpositionen: nahe bei wird früher oft zu nahebei zusammengezogen (Fischart, Gargantua), nahezu, nahe an, nahe daranbeinahe‹: er war nahe daran zu erstickenwäre beinahe erstickt‹. Auch unpersönlich es ist nahe daran/ dabei: wie nahe es dabei war, daß sie selbst die Heiligtümer der Nation preisgegeben hätten(Schiller). Damit zu vergleichen ist der Gebrauch von "beinahe" und nahezu, wofür früher auch einfaches nahegebraucht wurde: das her [er] nâhe / wêre kumen umbe sîn leben (Rothe, Anfang des 15. Jahrhunderts, mitteldeutsch; L059 DWb), er ist nahe 17 Jahr (Goethe). »Im übrigen ist adverbiales nahein räumlichem und zeitlichem Sinne selten« (H.Paul, Deutsches Wörterbuch, 1897), neuere Wörterbücher geben darauf keinen Hinweis (L320 Trübner, L337 WdG, L097 GWb). Unüblich bei nahe (räumlich) und von nahe, dafür bei nahem, aus der Nähe: wenn man es bei nahem betrachtete, war das schlosz nicht grosz (Goethe; L059 DWb) und von nahem: wer von ferne samlet ein / kan von nahem lustig sein (Logau; L059 DWb).
2 Der adjektivische Gebrauch von nahe beginnt beim Superlativ nächst: si kuste ir næhsten friunde, di si bi ir vant (Nibelungenlied 493). Der Positiv wird zunächst nur wie andere Adverbia prädikativ gebraucht: sin vigent [›Feind‹] ist sorehte na (U.Boner; L059 DWb), dann auch attributiv: Ez was ein nahiv sippe (Nibelungenlied, Handschrift C 2077,13. Jahrhundert) und flektiert: Nahe freundschafft, Naher blutsfreund(L200 Josua Maaler), so im Mittelhochdeutschen noch selten,
der Nahe Ostendie arabischen Länder, Israel, die Türkei und Ägypten‹ (L331 Gerhard Wahrig 1968). Bereits althochdeutsch (W.L244 Wolfgang Pfeifer) wird nahe auch als Präposition mit dem Dativ verwendet: ich sah, den Wolken nah, eine verfallene… Hütte stehen(Koeppen; L097 GWb). Die Steigerungsformen haben einige Bedeutungsentfaltungen gehabt, die für den Positiv nicht oder wenig in Betracht kommen. Der Komparativ findet häufig Verwendung bei Verben der Bewegung: tritt/ komm näher. Ferner ist nähergenauer‹: näher eingehen auf etwas, kennen lernen, studieren. Mittelhochdeutsch bis 18. Jahrhundert näherwohlfeiler, billiger‹ (»nahe der Wertgrenze«, L109 Moriz Heyne) ich kann es um keinen nähern Preis geben(L004 Johann Christoph Adelung) übertragen ›leichterer gebe es schon näher(ebenda). Der Superlativ
nächst bezeichnet das in der Zeit zunächst Folgende, früher auch das Nächstvergangene: vor dem nechsten baierischen Krieg vor zweiundzwanzig Jahren (Aventinus; L190 Lexer), wobei nur aus dem Zusammenhang sich ergab, ob die Beziehung auf Zukunft oder auf Vergangenheit ging. Substantiviert bezeichnet der Nächste den Nachbarn, ahd. nahisto, mhd. næheste, dann im biblischen Sinn den Mitmenschen, dazu ↑ "Nächstenliebe". Adverbiales nächst erscheint althochdeutsch zunächst im zeitlichen Sinn (Otfried von Weißenburg; L059 DWb), so auch mittelhochdeutsch: do ich s'nahest sach (Tristan 3959), räumlich erst neuhochdeutsch (Schuppius; L059 DWb). Ebenfalls schon althochdeutsch (L094 Eberhard Gottlieb Graff 2,1003) ist nächst als Präposition mit dem Dativ: und nächst dem leben was erflehst du dir? (Goethe; L059 DWb).
Nahkampf (1856 Th.Mommsen, Römische Geschichte 3,315): der deutsche Soldat war bekannt für schmerzlosen Nahkampf und humanes Trommelfeuer(A265 Kurt Tucholsky, Deutschland 218).
Nähe ahd. nahi, mhd. næhe: Wir… berührten uns nicht einmal, empfanden aber schon die Nähe als einen Austausch von Zärtlichkeit(A102 Peter Handke, Brief 98); in der Nähe für adverbiales nah schon mittelhochdeutsch: komt uns der keiser in die næhe(Lohengrin; L059 DWb), auch aus der Nähevon nahem‹;
nahen ahd. nahen, mhd. nahen, jetzt meist nur in feierlicher Rede, häufig auf die Zeit bezogen; die Stunde der Entscheidung naht. Statt jmdm. nahen in der älteren Sprache auch zu einem nahen: da sie so redeten… nahet Jhesus zu jnen (A180 Martin Luther, Lukas 24,15), er nahete zu ihr (Musäus); nicht selten auch reflexiv: darumb / das sich ewer erlosung nahet (A180 Martin Luther, Lukas 21,28), ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Faust I,1.) Zusammensetzungen annahen, herannahen, veraltet herbeinahen, hinzunahen. Als Transitivum dient
nähern, mhd. næheren; sich nähern ist üblicher als (sich) nahen; auch dieses früher mit zustatt des bloßen Dativs: wie zu Rachel sich Jemina nähert(Klopstock), ein Bad zu dem Almansor selbst sich niemals nähern darf (Wieland). In dem Sinn ›beinahe gleich kommen‹ kann man nur sich nähern (nicht nahen) gebrauchen: seine Aufregung nähert sich der Raserei. Zuweilen wurde nähern intransitiv gebraucht: dir öfters nähern zu dürfen (Wieland), meinem Unglück, was mir nähert(Wieland). Zusammensetzung "annähern";
Näherung im Sinne von ›Annäherung‹ (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Stella 1) ist nicht mehr üblich, sondern nur noch als ⇓ "S130" mathematischer Terminus lat. approximatio (1716; L276 Alfred Schirmer, Mathematik), dafür heute ⇓ "S241" verdeutlichend
Näherungswert .
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