Hermann Paul - Deutsches Wörterbuch
müssen
ahd. muoz(z)an, mhd. müezen, altgermanisches Präteritopräsens (↑ "dürfen"), ablautend wurzelverwandt mit "messen". Präteritum mußte, mhd. muoste (älter muose), dem engl. must entspricht (jetzt mit Präsensbedeutung); Partizip gemußt, vereinzelt gemüßt (Hauff). Über Verwendung des Infinitivs statt des Partizips siehe "dürfen". Die ursprüngliche Bedeutung ist ›in die Lage kommen, etwas zu tun, in einen Zustand zu geraten‹. Indem dabei die Vorstellung in den Vordergrund trat, daß diese Lage durch die Verhältnisse herbeigeführt wird, ohne daß der Wille des Subjekts mitwirkt, und selbst gegen den Willen desselben, ist die heutige gewöhnliche Bedeutung entstanden. Diese ist schon mittelhochdeutsch in positiven Behauptungssätzen allgemein. Wie dürfen usw. steht müssen mit dem Infinitiv, mit pronominalem Objekt, mit Richtungsbezeichnungen (nach Hause, heraus-, durchmüssenusw.), auch für sich, wenn der Bezug aus dem Zusammenhang klar wird (vgl. umgangssprachlich mal müssen, und zwar die Notdurft verrichten); jetzt nicht üblich ist unpersönlich es muß (Schiller, Grillparzer) ›es muß sein‹. Eine besondere Anwendung in der neueren Sprache ist die für die logische Notwendigkeit einer Annahme, vgl. das muß sehr wahr sein; er muß wohl betrunken gewesen sein; ich müßte mich schlecht darauf verstehen; es müßte mit dem Teufel zugehen. Lessing gebraucht in diesem Sinn öfter müssen ohne Infinitiv, z. B. das Letztere muß wohl. – Eine andere Richtung hat die Bedeutungsentwicklung in negativen Sätzen genommen. Der Sinn, daß durch die Verhältnisse eine Lage nicht herbeigeführt wird, ist entwickelt zu dem Sinn, daß die Möglichkeit zu etwas nicht gegeben wird; es wurde also gebraucht, wo wir ein dürfen einsetzen können. So noch öfter in der Luther-Bibel: Sebul verjagte den Gaal und seine Brüder, daß sie zu Sichem nicht mußten bleiben; also verstieß Salomo den Abiather, daß er nicht mußte Priester des Herrn sein. Aber auch später, vgl. niemand muß mich verdächtigen, daß ich zeitliche Absichten gehabt habe (Haller); es versteht sich, daß Er den Grenadier nicht verraten muß (Gleim); ich muß nicht vergessen, welche Ehre mir gestern widerfahren ist (Klopstock); es muß dich nicht beleidigen(Lessing); Luthers Geist erfordert, daß man keinen Menschen hindern muß (Lessing; und so oft bei ihm); gewisse Grenzen, die von dem tragischen Dichter nicht überschritten werden müssen (Mendelssohn); ich muß nicht viel mehr daher kommen (Iffland; oft bei ihm); ich muß nicht nach dem Schlosse zu gehn vergessen (Tieck); du mußt nicht mit(Pestalozzi). Es kommen auch Fälle vor, in denen wir nicht dürfen, sondern "können" einsetzen würden, vgl. so schön muß ihn (den Branntwein) kein Mensch abziehen (Rabener) dafür haben wir auch ein Nationaltheater, wie kein andres in der Welt sein muß (Wieland). – In Fragen erscheint früher müssen, wo wir können oder "mögen" einsetzen: Was muß doch der Herr Professor wollen? (J.Ch.Rost). Allgemein üblich ist eine ähnliche Verwendung von müssen noch, wo sich der Satz einer Aufforderung nähert: du mußt nicht meinen u.dgl. – Unmittelbar aus der ursprünglichen Bedeutung hervorgegangen, ohne besondere Hervorhebung von Notwendigkeit oder Möglichkeit, ist die Verwendung von müssen im Konjunktiv in Wunschsätzen, die im Mittelhochdeutschen allgemein war, wo wir heute mögen setzen. Sie ist noch ganz üblich in der Luther-Bibel: des Leben müsse gottlos sein; und sein Gebet müsse Sünde sein. Beispiele aus neuerer Zeit: du müssest weinen Tränen der Menschlichkeit; durch dich müsse deinen Gespielinnen sichtbar werden die heilige Tugend (Klopstock) (und so öfter); Engel müssen deine Begleiter sein (Hermes); Gesundheit müsse Sie bis an Ihr Ende zieren (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Knabengedichte; I,37, 1); du müssest hinfort des Schwertes nimmer bedürfen (Voß); so müsse mir Gott helfen (Schiller); kein Wanderer müsse da ausruhen(Kotzebue); dann müsse kommen über dich ein Schrecken; und müsset sein von Ahnungen durchzittert (Rückert). Ganz abgeblaßt ist der Sinn in Sätzen wie es müßte denn sein, wofür man auch einfach sagen könnte es wäre denn. – Die 1. und 3. Person Singular muß erscheint nicht selten substantiviert: sprichwörtlich Muß ist ein bitter Kraut; mit Artikel dasMuß: Die beißen alle mit Verdruß Aufs Muß als eine harte Nuß (Goethe), vgl. Fontane Muß ist eine harte Nuß (L320 Trübner). Substantivierter Infinitiv z. B. A222 Friedrich Schiller, Piccolomini 1,2 Die Menschen, in der Regel… finden sich in ein verhaßtes Müssen Weit besser als in eine bittre Wahl. Literatur siehe "können".
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