Hermann Paul - Deutsches Wörterbuch
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1 mhd. me(r) und mere als Komparativformen, zunächst in substantivischer Verwendung, ›etwas Größeres, ein größeres Quantum‹; Komparativ zu dem Positiv vil, neuhochdeutsch ↑ "viel". Substantivischer Gebrauch dauert fort, wo mehrohne nähere Bestimmung steht: er hat mir mehr gegeben als du. Zuweilen steht mehr für den fehlenden Dativ: auch machte ihn dieses Glück zu etwas mehr, als er in der Tat war (Schiller). Zuweilen substantivisch mit Artikel: da die Erbpacht ein ansehnliches Mehr eintrug (L. v.Ranke). Im Mittelhochdeutschen neben me wie neben vil ein Substantiv im Genitiv, so bei Luther: daß hernach möchte mehr Jammers werden. Bei Voranstellung des Substantivs mit Artikel in höherem Stil auch noch später: ich seh' im Busch der kleinen Feuer mehr (Goethe). Desgleichen in Fällen, wo die Verbindung eine losere, aber Genitiv logisches Subjekt ist: der Feigen waren mehr denn der Streitbaren, der Dummen mehr denn der Klugen (A222 Friedrich Schiller, Fiesko 2,8). Auf gleiche Weise wie bei vielist mehr attributiv geworden: mit mehr Glück, zu mehr Leuten. Doch bleibt mehr im Gegensatz zu viel bis heute flexionslos. Ansätze, es zu einem flektierten Adjektiv umzubilden, finden sich: Wunden hol' ich mir freilich mehre und weitere (Jean Paul), aus mehren Jahrhunderten (Freytag); namentlich findet sich öfters ein Mehres. Im allgemeinen Gebrauch bis ins 19. Jahrhundert das adverbielle mehrenteils (dafür jetzt meistenteils).2 Wie vielwird mehr frühzeitig als Adverb gebraucht (eigentlich Akkusativ des Inhalts) und stellt sich als Komparativ zu sehr: er ist mehr Dichter als Gelehrter. Zuweilen steht mehr neben einem Adjektiv oder Adverb statt des gewöhnlicheren Komparativs: und dir ist Vaterland mehr als die Fremde fremd (Goethe); üblich ist es neben Partizipien, von denen der Komparativ weniger geläufig ist, vgl. man ist mit niemand mehr geplagt als mit den Dienstboten (Goethe); "vielmehr" (↑ "viel") Schon im Mittelhochdeutschen hat mehrauch die Bedeutung ›ferner, von einem bestimmten Zeitpunkt an‹: wer wollte mehr ein Vater sein wollen (Wieland). Diese Bedeutung. besteht noch allgemein neben Negationen: ↑ "nimmer", nimmermehr, nicht mehr, nichts mehr; er wird niemanden mehr beleidigen. Vgl. mehr neben dem einer Negation nahestehenden "kaum": Gradiska konnte sich kaum vierzehn Tage mehr halten (Schiller). Südostdeutsch ist allgemein nur mehr, wo man anderswo nur noch sagt: was flammte, das glimmt nur mehr (Lenau), wir sahen den Park nur mehr als einen dunklen Fleck in der Ferne liegen (A.Stifter). Allgemein ist mehrin der Verschmelzung "nunmehr"; ⇑ "immer", "nimmer". Ohne zeitliche Beziehung ist mehrweiter, außerdem‹: und andere mehr. Dieser Gebrauch ist jetzt in der Schriftsprache zurückgedrängt, und befremdlich klingen schon Wendungen wie wem ist er mehr schuldig? (Lessing), so ist mir's schon mehr gegangen(Goethe).
3 In Zusammensetzungen, die erst in der neueren Zeit gebildet sind, bezeichnet Mehr- gewöhnlich einen Überschuß über ein gewisses Quantum, vgl. Mehraufwand, Mehrkosten, Mehrbedarf, Mehrbetrag, Mehrausgabe, Mehreinnahme, Mehrwert (s. unten) usw. Anders in Mehrzahl (s. unten), das entweder ›Majorität‹, Gegensatz zu Minderzahl ist oder Gegensatz zu "Einzahl", Übersetzung von Plural. Den Gegensatz zu 1{{link}}ein-{{/link}} bezeichnet mehr- auch in mehrjährig, mehrtägig, mehrsilbig,"S208" mehrsprachig, mehrstimmig. Daran schließen sich auch mehrfach (s. unten), mehrfältig,"S208" mehrdeutig, ferner mehrbesagt, mehrgedacht, mehrerwähnt in der älteren Kanzleisprache. Ableitungen mehren, vermehren, Mehrheit (s. unten).
mehrer- Weiterbildung zu mehr, in der das gewöhnliche Komparativsuffix noch einmal an den fertigen Komparativ getreten ist, nur attributiv und daher nur in flektierter Form gebraucht; hatte zunächst echt komparativischen Sinn wie das unflektierte mehr: das mehrere Teil (Luther), hier noch Komparativ zu "groß"; wo man das Positiv "viel" einsetzen kann, ist es als Komparativ noch im 18. Jahrhundert allgemein üblich und reicht auch noch in das 19. Jahrhundert hinüber: man kann sie [eine Rolle] nicht mit mehrerer Würde und Empfindung spielen (Lessing), man versprach sich öftere Wiederholung und mehrere Zusammenübung (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Wahlverwandtschaften 20,94,4); auch mit bestimmtem Artikel: die mehrern Fälle. Indem mehrere in Vergleich zu einer gesetzt wurde, entstand die heute allein übliche Verwendung (öfter, öfters, öftere, ↑ "oft").
mehrfach L033 Joachim Heinrich Campe 1809, ⇓ "S125" Lehnübertragung von franz. multiple, lat. multiplex; "vielfach" (↑ "viel").
Mehrheit ahd. merheit als ⇓ "S124" Lehnübersetzung von lat. maioritas, ⇓ "S175" im 18. Jahrhundert neu gebildet nach niederländ. meerderheit und franz. majorité.
Mehrwert wohl aufgrund lateinischen Vorbilds (lat. plus accipere, superabundantia, incrementum, ultra valorem, vgl. Entsprechungen im Englischen und Französischen) in den Zinsdekreten des 16. Jahrhunderts als Komparativkonstruktion (mer wert) aufgekommen (L138 HWbPh), gebucht L033 Joachim Heinrich Campe 1809
1 wirtschaftlich ›durch ein Unternehmen erarbeiteter Zuwachs an Wert‹;
2"S129" marxistisch ›den Lohn übersteigender Wert, den die Arbeiterschaft produziert‹, dazu Mehrwerttheorie, absoluter Mehrwert und relativer Mehrwert (L138 HWbPh);
Mehrwertsteuer Fem. , wirtschaftlich ›von einem Unternehmen auf den Verkaufspreis eines Produktes aufgeschlagene Umsatzsteuer, die an das Finanzamt abgeführt wird‹ (Abkürzung MwSt.) (L099 3GWb).
Mehrzahl"S071" L033 Joachim Heinrich Campe 1809 (gegen konkurrierendes Vielzahl) ⇓ "S208" für
1Plural‹, L284 Justus Georg Schottelius 1663 mehrere Zahl, so noch L003 Johann Christoph Adelung 1777, zudem
2größerer Teil einer bestimmten AnzahlDie Mehrzahl erklärte sich dagegen (L033 Joachim Heinrich Campe 1809);
meiste got. maists zu mais, engl. most, Superlativ zu mehr. Zuweilen erscheint dafür mit genauem Anschluß an mehr die Neubildung mehrste. Abweichend von mehr von vornherein adjektivisch gebraucht. Zunächst ›größte‹, vgl. der meiste Haufe (Luther), den meisten Teil seiner Untertanen (Rabener), noch allgemein meistenteils. Sonst stellt es sich jetzt als Superlativ zu "viel", am meisten auch zu "sehr". Eigentümliche Konstruktion: die Städte, in welchen am meisten seiner Taten geschehen waren (Luther). Bei Luther aufs meistehöchstens‹. Der Akkusativ Singular Neutr.
meist"S215" wird adverbial gebraucht ›in den meisten Fällen‹. In dem gleichen Sinn zumeist bzw. meistens ("erstens" [↑ "erst"], zweitens usw.).
meistbietend 1722 (L059 DWb).
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