Hermann Paul - Deutsches Wörterbuch
lesen
ahd. lesan, mhd. lesen, verwandt mit ↑ "leer";1 gemeingermanisch ist die Bedeutung ›sammeln, auflesen‹. Bei Luther mit abweichender Art des Objekts den Weinberg lesen. Bei ↑ "auslesen" schließt sich die Vorstellung des Wählens an, vgl. lies mir die Würdigsten aus der Bande(Schiller). In Erbsen, Federn, Salat lesen u.dgl. ist der Sinn ›die einzelnen Stücke nehmen und das Ungeeignete dabei aussondern‹ (↑ "verlesen"); in Zusammensetzungen auch Weiterentwicklung zu ›säubern‹ (Steine auflesen), hierher auch nicht viel Federlesens machen; (↑ "Federlesen").
2 Deutsch und skandinavisch ist die Bedeutung ›Geschriebenes und Gedrucktes mit Augen und Verstand aufnehmen‹; sie ist wohl ⇓ "S024" Lehnbedeutung nach lat. legere, das beide Bedeutungen ([1] und [2]) in sich vereinigte. Das Lesen kann still oder laut sein; letzteres spielt in der älteren Zeit, wo die wenigsten selbst lesen konnten, eine größere Rolle, so daß oft einfaches lesenvorlesen‹ ist. Als Objekt zu lesen kann alles stehen, was geschrieben oder gedruckt ist, auch Noten, Karten lesen; reflexiv das Buch liest sich gut. Dazu ↑ "belesen", ungelesen. In der Philologie wird auch ein Text zum Subjekt gemacht, vgl. einzelner Stellen, die sie [die Handschrift] am richtigsten lieset (Lessing). Besondere Arten des Lesens für andere sind eine Messe lesen oder lesenvom akademischen Lehrer im Sinne von ›eine Vorlesung halten‹: im Sommersemester 1991 liest er über Deutschen Wortschatz;
jmdm. die Leviten lesen (↑ "Leviten"); redensartlich: aus der Hand lesen (von Wahrsagern), in den Sternen lesen (von Astrologen), auf einem Gesicht/ in jmds. Blicken lesen können, in jmds. Seele lesen u.dgl. (entsprechend es steht ihm auf dem Gesicht geschrieben). Dazu
Lesart (1745 Bodmer; L059 DWb);
1.1"S208" in der Philologie ›vom Autor selbst oder aus der Überlieferung herrührende Textvariante‹,
1.2 in der neueren Semantik ›Teilbedeutung‹, wohl Lehnübertragung von reading of the lexical item (Katz/ Postal 1964; L002 Abraham, Terminologie 435). ⇓ "S147" Neuerdings allgemein
2Formulierung, Darstellung, Deutung eines Vorgangs‹: die offizielle Lesart lautete anders.
Lesebuch (L003 Johann Christoph Adelung 1777)
1ein Buch zum Lesen‹ (Gegensatz Nachschlagebuch, Nachschlagewerk), bei Goethe auch im Sinne von ›Buch, das sich leicht liest und viele Leser findet‹: herr von Schweinichen ist ein merkwürdiges geschichts- und sittenbuch… es ist kein lesebuch, aber man musz es gelesen haben (Goethe; L059 DWb);
2 (L003 Johann Christoph Adelung 1777) ›Buch, nach dem auf Universitäten Vorlesungen gehalten werden‹, ›Lehrbuch‹: der verfasser, dessen lesebuch… ich gewählt habe (Baumgarten; L059 DWb), jetzt veraltet;
3 in pädagogischer Hinsicht ›Buch mit zusammengestellter Lektüre (für Kinder, Schüler)‹ (L111 Johann Christian August Heyse 1849).
Leseratte (L218 Muret/ Sanders 1910) »bookworm« (ebenda), ›jmd. , der sehr viel liest‹, scherzhaft, meist auf jüngere Leser bezogen.
Lesezeichen
1Interpunktionszeichen‹ (L033 Joachim Heinrich Campe 1809), noch L059 DWb1885;
2Zeichen, das man in ein Buch legt, um die zuletzt gelesene Seite sofort aufschlagen zu können‹ (Jean Paul; L345 Friedrich Karl Ludwig Weigand/ L345 Herman Hirt).
Lese (Ludwig 1716; L345 Friedrich Karl Ludwig Weigand/ L345 Herman Hirt) ›das Sammeln‹, ⇓ "S234" als Simplex meist auf die Traubenlese, Weinlese bezogen, sonst in Zusammensetzungen Ährenlese, Holzlese usw.; auch das Resultat des Sammelns heißt Lese, selten und veraltet im Sinne von ›Auswahl aus dichterischen Werken‹, sonst in den Zusammensetzungen Blumenlese, "Auslese".
Leser ahd. lesari, mhd. lesære;
1Aufsammler von Früchten‹ (ahd. ; L059 DWb): wenn man den wein lieset, so gebe man den lesern… genug zu essen und zu trinken (Colerus; ebenda);
2jmd. , der Schrift und dann auch Druckwerke liest‹: um… noch einige leser zu gewinnen, legte sich der graf auf polemik und schrieb eine satire gegen berühmte schriftsteller (Heine; L059 DWb), kritischer Leser, Geneigter Leser! (heute eher scherzhafte ⇓ "S011" Anrede eines Autors in einer Vorrede o.ä.);
3 früher auch ›jmd. , der Vorlesungen hält‹ (mhd. , Luther und noch bei L200 Josua Maaler 1561; L059 DWb).
Leserbrief (L337 WdG) ›Brief an die Redaktion einer Zeitung‹. Das Adjektiv
leserlich (L308 Kaspar Stieler 1691) ist an die Stelle des älteren (»und berechtigteren«; L059 DWb) leslich, mhd. lesenich getreten; zu vergleichen ↑ "fürchterlich".
Lesung (frühnhd.; L059 DWb), früher auch
1Aufsammlung von verstreut Liegendem‹: Blumenlesung (L308 Kaspar Stieler), und
2das Lesen von Büchern‹ (frühnhd.; L059 DWb): mit einem buche auf dem schoosz, in dessen lesung sie … vertieft schien (Wieland; L059 DWb). Jetzt nur noch
3das Vorlesen‹, ursprünglich vom (lauten) Rezitieren von Gebeten (1579 Fischart; L059 DWb), dann von der Vor-Lesung des akademischen Lehrers (L308 Kaspar Stieler 1691), schließlich für den lesenden Vortrag aus literarischen Werken (dazu Autorenlesung, Dichterlesung).
4 Nach engl. reading of a bill als parlamentarischer Ausdruck ›Beratung eines Gesetzentwurfs‹ (1867; L059 DWb).
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