Hermann Paul - Deutsches Wörterbuch
leiden
⇓ "S075" ahd. lidan, mhd. liden, gemeingermanisch mit der Bedeutung ›gehen‹ (noch jetzt niederdt. forleden ›vergangen‹, ↑ "leiten"). Die jetzige Bedeutung erscheint seit althochdeutscher Zeit. Als Zwischenstufe ist wohl die Bedeutung ›durchgehen, durchmachen‹ zunächst für die Zusammensetzung irlidan(↑ "erleiden") anzunehmen, die sich, gefördert von der Vorstellung des irdischen Leidensweges als einer Pilgerfahrt zur himmlischen Heimat, zu leidenentwickelte (vgl. gilidan ›mit jmdm. dulden‹, L087 Glossen 1,789,17). Mit Leid, leid ist leidenalso nicht verwandt, es ist urverwandt mit tochar. lit- ›gehen‹, griech. loíte ›Grab‹. Allenfalls könnte Leid vom Spätmittelalter an Einfluß auf die Bedeutungsentwicklung von leiden gehabt haben.1 Zunächst transitiv, indem als Objekt etwas Unangenehmes steht, was einem widerfährt, was man durchzumachen hat: Hunger, Mangel, Schiffbruch leiden, auch mit nicht persönlichem Subjekt: der Wagen hat Schaden gelitten. Erst in jüngerer Zeit steht es auch absolut ›etwas Unangenehmes erdulden, Schaden haben‹; vielfach mit näherer Bestimmung: veraltet leiden von (z. B. vom Winde, von Liebe Goethe), an (einer Krankheit, einem Übel), unter, z. B. er leidet unter dem Hochmut seiner Frau, das Geschäft leidet darunter; der Leidende ›Kranke‹ (↑ "Patient").
2 In manchen Fällen, jetzt eher veraltend, ist leiden›aushalten‹: der Tag des Herrn ist groß und sehr erschrecklich: wer kann ihn leiden? (Luther). Daraus entwickelt jmdn. / etwas leiden können oder mögen ›keinen Widerwillen gegen jmdn. / etwas haben‹, dann geradezu ›gern haben‹: Ich mag es gerne leiden, wenn auch der Becher überschäumt (A222 Friedrich Schiller, Karlos 3,10).
3 Mit Verneinung entwickelt leiden dann die Bedeutung ›(nicht) gestatten, erlauben‹: das kann, das werd ich nicht leiden(A075 Johann Wolfgang von Goethe, Clavigo 4); abgeblaßter mit nichtpersönlichem Subjekt: die Sache leidet keinen Aufschub, die Stelle leidet eine mehrfache Auslegung; leidenmit räumlicher Bestimmung: er leidet ihn nicht in seinem Haus/ um sich; sie ist überall wohlgelitten, auch bloß gelitten; unpersönlich (veraltend) er litt es nicht länger in seinem Zimmer ›er kann es nicht darin aushalten‹.
4 Frühneuhochdeutsch ist sich leiden ›sich geduldig verhalten‹: wie lange soll ich mich mit euch leiden? (Luther) – Verschieden ist ein aus leidabgeleitetes leiden, das nur noch in ↑ "verleiden" üblich ist; leiden eigentümlich bei Schiller: was kann mir Juno leiden (›was kann mir Juno für Leid zufügen?‹).
Leiden mhd. liden, substantivierter Infinitiv nach der intransitiven Verwendung des Verbs leiden. Die Bildung eines Plurals (18. Jahrhundert; L059 DWb) zeigt den völligen Übertritt in substantivische Natur. Vgl. "Mitleid" (↑ "mitleiden").
Leidenschaft ⇓ "S075" (1647 Zesen; L320 Trübner), ⇓ "S125" Lehnübertragung von franz. passion, daher zunächst
1 ›leidender Zustand‹ (im Gegensatz zur Tätigkeit): eine veränderung, davon der grund in der sache anzutreffen, die verändert wird, heiszet man eine that oder ein thun: hingegen eine veränderung, davon der grund in einer andern sache, als die verändert wird, anzutreffen, heiszet man eine leidenschaft (Wolff; L059 DWb); vgl. noch "Mitleid" (↑ "mitleiden").
2 ›heftige Seelenregung (aufgrund einer sinnlichen Begierde)‹ (18. Jahrhundert; L059 DWb): die durch die vernunft des subjects schwer oder gar nicht bezwingliche neigung ist leidenschaft (I.Kant; L059 DWb), Immer ist es Leidenschaft, wenn wir tun, was wir nicht wollen (Ch.A285 Christa Wolf, Ort 98). Diese ›Neigung‹ äußert sich z. B. in einer ungestümen Liebe »zu einer Person des andern Geschlechts« (L109 Moriz Heyne): du kennst meine leidenschaft für Ottilien (Goethe; ebenda); die Begierde kann sich auch auf eine Sache richten: Leidenschaft zum Theater. Das Adjektiv
leidenschaftlich (1778 Hermes; L345 Friedrich Karl Ludwig Weigand/ L345 Herman Hirt) schließt sich an Leidenschaft(2) an; überdies »in jetziger Spr.« (L109 Moriz Heyne) auch verstärkend in adverbialer Funktion v. a. mit gern: ich höre leidenschaftlich gern gute musik (ebenda).
leidlich spätmhd. lidelich ›was zu leiden, zu ertragen ist‹: er ist uns nicht leidlich (Luther), Vns ist leidlicher / das wir im streit umbkommen (A180 Martin Luther, 1.Makkabäer 3,59), und noch bei Goethe: eine Trennung würde doch leidlicher und läßlicher geworden sein. ⇓ "S227" Verblaßt und so heute nur ›nicht ganz schlecht, in einem nicht ganz geringen Grade‹: ich komme mit allem guten Mut, leidlichem Geld und frischem Blut (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Faust I,1877).
2 In manchen Fällen, jetzt eher veraltend, ist leiden›aushalten‹: der Tag des Herrn ist groß und sehr erschrecklich: wer kann ihn leiden? (Luther). Daraus entwickelt jmdn. / etwas leiden können oder mögen ›keinen Widerwillen gegen jmdn. / etwas haben‹, dann geradezu ›gern haben‹: Ich mag es gerne leiden, wenn auch der Becher überschäumt (A222 Friedrich Schiller, Karlos 3,10).
3 Mit Verneinung entwickelt leiden dann die Bedeutung ›(nicht) gestatten, erlauben‹: das kann, das werd ich nicht leiden(A075 Johann Wolfgang von Goethe, Clavigo 4); abgeblaßter mit nichtpersönlichem Subjekt: die Sache leidet keinen Aufschub, die Stelle leidet eine mehrfache Auslegung; leidenmit räumlicher Bestimmung: er leidet ihn nicht in seinem Haus/ um sich; sie ist überall wohlgelitten, auch bloß gelitten; unpersönlich (veraltend) er litt es nicht länger in seinem Zimmer ›er kann es nicht darin aushalten‹.
4 Frühneuhochdeutsch ist sich leiden ›sich geduldig verhalten‹: wie lange soll ich mich mit euch leiden? (Luther) – Verschieden ist ein aus leidabgeleitetes leiden, das nur noch in ↑ "verleiden" üblich ist; leiden eigentümlich bei Schiller: was kann mir Juno leiden (›was kann mir Juno für Leid zufügen?‹).
Leiden mhd. liden, substantivierter Infinitiv nach der intransitiven Verwendung des Verbs leiden. Die Bildung eines Plurals (18. Jahrhundert; L059 DWb) zeigt den völligen Übertritt in substantivische Natur. Vgl. "Mitleid" (↑ "mitleiden").
Leidenschaft ⇓ "S075" (1647 Zesen; L320 Trübner), ⇓ "S125" Lehnübertragung von franz. passion, daher zunächst
1 ›leidender Zustand‹ (im Gegensatz zur Tätigkeit): eine veränderung, davon der grund in der sache anzutreffen, die verändert wird, heiszet man eine that oder ein thun: hingegen eine veränderung, davon der grund in einer andern sache, als die verändert wird, anzutreffen, heiszet man eine leidenschaft (Wolff; L059 DWb); vgl. noch "Mitleid" (↑ "mitleiden").
2 ›heftige Seelenregung (aufgrund einer sinnlichen Begierde)‹ (18. Jahrhundert; L059 DWb): die durch die vernunft des subjects schwer oder gar nicht bezwingliche neigung ist leidenschaft (I.Kant; L059 DWb), Immer ist es Leidenschaft, wenn wir tun, was wir nicht wollen (Ch.A285 Christa Wolf, Ort 98). Diese ›Neigung‹ äußert sich z. B. in einer ungestümen Liebe »zu einer Person des andern Geschlechts« (L109 Moriz Heyne): du kennst meine leidenschaft für Ottilien (Goethe; ebenda); die Begierde kann sich auch auf eine Sache richten: Leidenschaft zum Theater. Das Adjektiv
leidenschaftlich (1778 Hermes; L345 Friedrich Karl Ludwig Weigand/ L345 Herman Hirt) schließt sich an Leidenschaft(2) an; überdies »in jetziger Spr.« (L109 Moriz Heyne) auch verstärkend in adverbialer Funktion v. a. mit gern: ich höre leidenschaftlich gern gute musik (ebenda).
leidlich spätmhd. lidelich ›was zu leiden, zu ertragen ist‹: er ist uns nicht leidlich (Luther), Vns ist leidlicher / das wir im streit umbkommen (A180 Martin Luther, 1.Makkabäer 3,59), und noch bei Goethe: eine Trennung würde doch leidlicher und läßlicher geworden sein. ⇓ "S227" Verblaßt und so heute nur ›nicht ganz schlecht, in einem nicht ganz geringen Grade‹: ich komme mit allem guten Mut, leidlichem Geld und frischem Blut (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Faust I,1877).