Hermann Paul - Deutsches Wörterbuch
kriegen
mhd. kriegen schwaches Verb, woneben mitteldt.-niederdt. krigen starkes Verb. Für unser Sprachgefühl bestehen jetzt zwei voneinander völlig gesonderte Wörter, die aber doch auf den gleichen Ursprung zurückgehen.1Krieg führen‹, jetzt veraltend (noch Werfel; L337 WdG), häufiger sich bekriegen; früher der älteren Bedeutung von ↑ "Krieg" entsprechend auf jede Art von Feindseligkeit bezogen.
2 Die andere Verwendung gehört jetzt der Umgangssprache an, hochsprachlich ↑ "bekommen". Mitteldeutsch bedeutete das starke Verb krigenauch ›streben‹, und dies scheint die ursprüngliche Bedeutung zu sein, so daß krigen wider einen eigentlich ›gegen einen streben‹ wäre, daher ›mit ihm streiten‹. Die Zusammensetzung erkrigen bezeichnete im Mitteldeutschen das Resultat des Strebens: ›erlangen‹. In dieser Bedeutung erscheint im Mittelniederdeutschen schon das einfache krigen und weiterhin auch schon in dem Sinn ›(ohne Absicht) bekommen‹. Diese Verwendung hat sich, auch auf das schwache kriegen übergehend, über Mitteldeutschland und auch über den Südosten verbreitet; bei Luther ist sie häufig, wird aber schon in der 1. Hälfte des 18. Jahrhunderts als niedrig bezeichnet (L003 Johann Christoph Adelung 1775: »ehedem nicht so niedrig«). Der ursprünglichen Bedeutung ›streben, sich bemühen‹ (s. oben) näher steht kriegen, wenn es ein absichtliches Ergreifen bezeichnet, vgl. sie kriegte eine Scheer und schnitte mir mein goldfarbes Haar hinweg(Grimmelshausen); und kriege das volle Glas zur Hand (Goethe); einen kriegen (den man verfolgt hat); norddt. kriegen spielen, dafür westmitteldt. nachlaufen, ostmitteldt. ↑ 1"haschen", ostniederdt. ↑ "greifen", besonders süddt./ österr. ↑ "fangen", in Schleswig-Holstein ↑ "ticken" (L066 Jürgen Eichhoff, Karte 49); norddt. einen Knecht kriegenannehmen‹; norddt. Obst abkriegenabnehmen‹, etwas von der Erde aufkriegenaufheben‹; weiter verbreitet einen beim Kopf, Kragen kriegen. Da aber das Resultat nicht bloß von dem Willen des Subjekts abhängt, sondern auch von den äußeren Umständen, so konnten diese in der Vorstellung in den Vordergrund treten, so daß an die Absicht gar nicht mehr gedacht und schließlich kriegen auch für Unbeabsichtigtes gebraucht wurde. Somit hatte es die gleiche Funktion, die später in der Hochsprache ↑ "bekommen" übernahm, dem es jetzt in der Umgangssprache vollkommen entspricht, vgl. eine Frau, einen Mann, Kinder, seinen Lohn, Schläge, Kopfschmerzen, die Schwindsucht, graue Haare, Händel, Streit, Lust, schönes Wetter kriegen; etwas bezahlt, geschenkt kriegen; satt kriegen; zu Gesicht, zu kaufen, zu sehen, zu tun kriegen; mitkriegen, abkriegen, zurückkriegen, herauskriegen, ↑ "herumkriegen" usw.; vgl. auch sie kriegt noch 10 Mark (›hat noch zu beanspruchen‹). Dagegen kann man in Fällen wie sie kann das Brot nicht herunterkriegen, das Glas nicht kaputtkriegen, die Tür nicht aufkriegen, zukriegen, den Rock nicht ankriegen, weniger gut bekommen einsetzen, weil hier die absichtliche Anstrengung hervorgehoben wird. Eigentümlich norddeutsch es mit der Angst kriegenbange werden‹ (L059 DWb 1873), wohl gekürzt < zu tun kriegen.
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