Hermann Paul - Deutsches Wörterbuch
Kammer
Mit dem römischen Steinbau aus ⇓ "S120" lat. camera›gewölbter Raum‹ voralthochdeutsch entlehnt; ahd. c(h)amara, mhd. kamer(e). Europäische Verflechtung der Wortgeschichten: franz. chambre, ital. camera, engl. chamber usw. Verwandt ⇑ "Kamera", "Kamerad". Seit dem Althochdeutschen vor allem1.1Raum in einem Gebäude, insbesondere zum Schlafen oder sicheren Aufbewahren‹, auch im Unterschied zum heizbaren Wohnraum (vgl. "Stube"), sowie
1.2Privatgemach bzw. Residenz eines Fürsten‹ (↑ "Hof") ⇓ "S175" Im Zusammenhang mit Regierungstätigkeit (vgl. Schatzkammer) und dem Ausbau des Verwaltungswesens wurde Kammer(1.2) seit dem Spätmittelhochdeutschen entwickelt zu
2.1(öffentliche) Kasse, Finanzbehörde‹ (synonym auch Kämmerei, 15. Jahrhundert) und
2.2Gericht, Rechtsbehörde‹ (vgl. kaiserliche Kammer, "Kammergericht"); im Zeitalter des Absolutismus auch
2.3zentrale Behörde‹ (Hofkammer, 16. Jahrhundert) bzw. ›Abteilung der obrigkeitlichen Verwaltung‹ allgemein (KameralwissenschaftStaats- und Wirtschaftslehre‹ wird im 18. Jahrhundert Studienfach; vgl. J.C.Dithmar, Programm von der… Cameral-Wissenschaft, 1727). Eine parallele Entwicklung (Finanzen, Recht) nahm Kammerin der klerikalen und städtisch-bürgerlichen Verwaltung (vgl. L046 DRWb). Im Anschluß an (1.2) bedeutete Kammer im 18. Jahrhundert auch ›Haushalt, ständige Umgebung eines Fürsten‹; dazu zählte insbesondere das Dienstpersonal (L004 Johann Christoph Adelung). Im Zuge der Demokratisierung staatlicher Verfassungen erhielt Kammer im frühen 19. Jahrhundert die Bedeutung
3.1parlamentarische Körperschaft‹ entsprechend franz. chambre: wenn eine Ständeversammlung… in zwei Kammern getheilt ist… die eine als Ober- die andere als Unterhaus (1819 W. v.Humboldt, Werke, hg. von A.Flitner und K.Giel, 4,475); Die Volkskammer in Weimar hatte die Öffentlichkeit ihrer Sitzungen beschlossen. Aber die Edelleute in den anderen Kammern [Adelskammern] haben die Öffentlichkeit verworfen (A021 Ludwig Börne, Briefe aus Paris 99). Vgl. die Bedeutungsentwicklung von "Haus", "Kabinett". Im 19. Jahrhundert weiterhin
3.2Organisation zur Verfolgung wirtschaftlicher oder berufsständischer Interessen‹. A021 Ludwig Börne 1834 spöttisch Handelskammerdiener (Briefe aus Paris 95). Kammer wurde bzw. wird in verschiedenen Fachsprachen gebraucht, z. B. heißt Kammer in der Waffentechnik der Raum, der die Ladung aufnimmt (15. Jahrhundert). Bei A075 Johann Wolfgang von Goethe (z. B. 20,316,23) und Jean Paul dunkle Kammer für camera obscura (L059 DWb5,111). Vgl. Dunkelkammer, Herzkammer.Die Bedeutung (1.1) blieb relativ stabil, (1.2) war wichtigster Ausgangspunkt der weiteren Entwicklung. – Heute: Kammer(1.1) häufig Grund- und Kurzwort von Komposita: Abstellkammer, Besenkammer, Dachkammer, Schlafkammer, Speisekammer, Vorratskammer, Rumpelkammer; vgl. ↑ "Wohnung". Kammer(3.2): Ärztekammer, Handwerkskammer, Industrie- und Handelskammer, Landwirtschaftskammer usw.; Kammer(3.1): (BRD) Länderkammer für den Bundesrat; (DDR) Kammer für Außenhandel, Volkskammer; Kammer(2.2): Erste, Zweite (usw.) Kammer, Strafkammer, Zivilkammer. Vgl.: H.Grünert, Sprache und Politik. Zur Bezeichnung der Repräsentativkörperschaften. In: W.Mitzka, Wortgeographie und Gesellschaft. 1968,370ff. Zu Kammer(1.2) (meist historisch): Kammerherr (mhd. kamerherre) ›oberster Kämmerer‹ (15. Jahrhundert), ›hoher Hofbeamter‹, auch bloßer Titel (s. unten Kämmerer); Kammerfrau (15. Jahrhundert, vgl. mhd. kamerwip); Kammerdiener (16. Jahrhundert) synonym auch Kämmerling (ahd. chamerling), beide Wörter im Wechsel bei A222 Friedrich Schiller, Wallensteins Tod 5,5; sprichwörtlich Für einen Kammerdiener gibt es keinen Helden (z. B. Hegel; L027 Büchmann); Bildungen des 17. und 18. Jahrhunderts sind: Kammermädchen; Kammerkätzchen, als Neckwort z. B. A177 Gotthold Ephraim Lessing, Minna 3,1; KammerzofeKammerjungfer‹; Kammerjäger, zunächst ›Leibjäger des Fürsten‹, bald übertragen für jmdn. , der gewerbsmäßig Ratten, Mäuse und Ungeziefer (im Haus) vernichtet; produktiv im künstlerischen Bereich ⇓ "S141" :
Kammermusik (⇓ "S124" nach ital. musica da camera), ursprünglich im fürstlichen Gemach aufgeführt, mit eigener Stilentwicklung seit dem frühen 17. Jahrhundert (1629; L345 Friedrich Karl Ludwig Weigand/ L345 Herman Hirt);
Kammerton, ursprünglich eine besondere, vom Chorton abweichende Stimmung der Instrumente, heute der Normalton a;
Kammerkonzert gebucht L264 Daniel Sanders;
Kammerspiel, früh bei ⇓ "S071" Opitz nach ⇓ "S151" niederländ. kamerspelSchauspiel‹ (L059 DWb), heute Kammerspiele auch Bestandteil des Namens von Schauspielhäusern. Neuere Bildungen:
Kammersänger 1817 A075 Johann Wolfgang von Goethe, 4,27,358;
Kammersängerin (schon 1767; L046 DRWb), bereits im 19. Jahrhundert Ehrentitel;
Kammerorchester (vgl. Kammerkapelle, 18. Jahrhundert);
Kammerchor zu Kammer(2.1 und 2.2); (historisch);
Kammergut (15. Jahrhundert) ›fürstliche Domäne‹ (vgl. Salzkammergut, ursprünglich ›Salzdomäne‹);
Kammergericht (15. Jahrhundert) vornehmlich für das kaiserliche Kammergericht (1495 – 1806; Sitz ab 1527 Speyer, ab 1689 Wetzlar), später Reichskammergericht. Zu Kammer(2.3) im Nationalsozialismus
Reichsschrifttumskammer und
Reichskulturkammer (z. B. A010 Gottfried Benn, Doppelleben 422f.). Zu Kammer(3) (historisch) (Ein-, Zwei-)
Kammersystem. –
Kämmerer ahd. chamarari, mhd. kamerære.
1.1Aufseher über die Finanzen und Vorräte eines Fürsten‹. Das Amt gehörte im Mittelalter zu den vier Hofämtern (⇑ "Marschall", "Schenk", "Truchseß"), die bald zu erblichen Ehrenämtern umgewandelt wurden. Kämmerer des Reiches (Erzkämmerer ↑ "Erz-") war seit der Stauferzeit der Markgraf von Brandenburg.
1.2 Dann auch für das Amt in Städten, Klöstern u.dgl. (›Verwalter der Finanzen, des Besitzes‹); vgl. heute Stadtkämmerer. In der Lutherbibel
2Hofbeamter‹ allgemein (A180 Martin Luther, Esther 1,10), so auch noch A222 Friedrich Schiller, Kabale und Liebe 2,3. Differenzierungen gemäß dem Hofzeremoniell mittels Wortbildungen, z. B. Oberstkämmerer in Preußen. Kämmerier nach ital. cameriere z. B. A075 Johann Wolfgang von Goethe, Campagne in Frankreich 22.8.92; vgl. L003 Johann Christoph Adelung 1775. Vereinzelt bei A075 Johann Wolfgang von Goethe Kämmerer in der Bedeutung ›Kellner‹ (Venezianische Epigramme 3), im Spiel mit ital. cameriere. Vgl.: M.Gebhardt, Die Verwaltung des königlichen Hofes im Frühmittelalter und ihre Widerspiegelung in den althochdeutschen Glossen. In: Beiträge zur Erforschung der deutschen Sprache 5,5ff.
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