Hermann Paul - Deutsches Wörterbuch
irre
ahd. irri, mhd. irre, altengl. irre, yrre, got. aírzeis, altgermanisch, verwandt mit lat. errare›(umher)irren‹. Es bedeutet von alters her entweder1ohne ein bestimmtes Ziel umherschweifend‹ oder
2auf einem falschen Weg befindlichUnd die irren Tritte wanken / Auf dem Meer der Leidenschaft (A222 Friedrich Schiller, Würde der Frauen, 1,240). In letzterem Sinn in Verbindungen wie irregehen, irreführen, irreleiten, Irrfahrt.
3 Weiterhin (in Ausdrücken wie irre werden) ›nicht wissend, wohin man sich wenden soll‹: Da nu das Kriegsuolck höret / das Holoferni der Kopff abwar / erschracken sie / vnd wurden jrr (A180 Martin Luther, Judith 15,1); außerdem
4geistig gestört‹: ich müßte Sie für irre im Kopfe gehalten haben (A177 Gotthold Ephraim Lessing, 1,261), häufig substantivisch: der, die Irre, vgl. noch Die Irre von Chaillot (deutscher Titel des Schauspiels La Folle de Chaillot von J.Giraudoux, 1946). Im Zuge der allgemeinen Verfachsprachlichung der Standardsprache sind seitdem Wörter wie irre, Irrenanstalt (Jean Paul), Irrenarzt in die Umgangssprache abgedrängt und durch z. B. geistesgestört (↑ "Geistesgestörtheit"), psychiatrische Klinik, ↑ "Psychiater" ersetzt worden. Schließlich
5"S105" jugendsprachliches ⇓ "S060" Entzückungswort: irrer Sound (L106 Helmut Henne, Jugend 73), adverbial ⇓ "S229" steigernd: so herrisch, so irre selbstbewußt (B.A249 Botho Strauß, Kalldewey 48).
IrrgartenLabyrinth‹ besonders auf die Bepflanzung von Renaissance- und Barockgärten bezogen (nach dem minoischen Labyrinth der griechischen Mythologie): ein irrgarten zu lust geziert (1547 Schmeltzl; L059 DWb); übertragen J.G.Schnabel: Der im Irrgarten der Liebe herum taumelnde Cavalier (1738);
Irrlicht A095 Andreas Gryphius 1637, schon übertragen: Was sind wir Menschen doch!… ein Irrliecht dieser zeit… (Menschliches Elende). Nach der unruhigen Bewegung (vermutlich selbstentzündeter Sumpfgasflammen) benannt, ⇓ "S001" doch denkt man dabei v. a. daran, daß das Irrlicht den Wanderer vom rechten Weg ablockt: In die tiefsten Felsengründe lockte mich das Irrlicht hin (W.Müller, Winterreise). Übertragen auch in M.v.d.A093 Max von der Grüns Romantitel: Irrlicht und Feuer (1963); dazu
irrlichtern (L033 Joachim Heinrich Campe), zuvor bei A075 Johann Wolfgang von Goethe das von L033 Joachim Heinrich Campe getadelte irrlichtelieren (Faust I,1917) »wie ein Irrlicht unstät sein, flattern« (L033 Joachim Heinrich Campe);
Irrsal Neutr. , bis Uhland auch Mask. , ahd. / mhd. irresal Mask. / Fem. / Neutr. ; ⇓ "S015" nur noch literarisch
1Zustand, in dem man nicht weiß, woran man ist, Verwirrung‹ (vgl. oben irre werden): kein Ausweg aus dem Irrsal zeigt sich mir (Goethe), und stehe wundernd, wie das Irrsal sich entwirren soll und lösen (Schiller); dergleichen Halbwahrheiten und die daraus entspringenden Irrsale (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Dichtung und Wahrheit 28,270,13).
2 synonym mit Irrtum (s. unten); dergleichen Irrsale (Schlegels Irrtümer) aufzudecken (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Brief vom 27.7.28).
Irrsinn L284 Justus Georg Schottelius 1663,456; dazu
irrsinnig von L033 Joachim Heinrich Campe als neugebildet markiert; bis ins 20. Jahrhundert wie ↑ "blödsinnig" ›geistesgestört‹, fast nur noch als ⇓ "S060" Entzückungswort, meist adverbial: irrsinnig komisch (A083 Günter Grass, Butt 583).
Irrtum ahd. irrituom, irratuom, mhd. irretuom;
1 bis frühneuhochdeutsch ›Aberglauben, Heidentum, Ketzerei, Sektenwesen, Schwärmertum‹: das ich im irrthum und ketzerei… halsstarriglich verharret bin (Luther; L059 DWb).
2 Seit dem 16. Jahrhundert die (heute allein geltenden) Bedeutungen ›falsche Meinung, falsche Annahme, Versehen‹: O glücklich, wer noch hoffen kann / Aus diesem Meer des Irrtums aufzutauchen!(A075 Johann Wolfgang von Goethe, Faust I,1064f.);
Irrwisch (frühnhd.) Irrlicht… im gemeinen Leben Irrwische (L004 Johann Christoph Adelung), heute ›sehr unruhiger Mensch (besonders Kind)‹, ↑ "Wisch";
Irre Fem. , mhd. irre, got. aírzei; wie ein Wild in der jrre (A180 Martin Luther, Hosea 8,9). Heute nur noch phraseologisch in die Irre führen/ gehen: eine Metapher, die in die Irre führt (N.A048 Norbert Elias, Prozeß, Einleitung LXIII).
irren Aus irre sind zwei ursprünglich verschiedene Verben abgeleitet, die schon im Mittelhochdeutschen als irren lautlich zusammengefallen sind.
1 Transitiv (ahd. irren, irran) ›jmdn. an der Erreichung eines Zieles hindern, hemmen oder stören‹: Keiner wird den andern jrren / Sondern ein jglicher wird in seiner ordnung daher faren (A180 Martin Luther, Joel 2,8). Diese Bedeutung reicht noch ins 18. Jahrhundert hinein: mich irrt's nicht, wenn noch so viel um mich herum krabbeln (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Götz 2,4), Lassen Sie sich nicht irren (L004 Johann Christoph Adelung). Dafür im 20. Jahrhundert beirren.Bis in die Gegenwart erhalten intransitiv (ahd. irron)
2eine falsche Meinung haben‹: Hier irrt Goethe (dem Goethe-Philologen H.Düntzer [1813–1901] zugeschrieben). In dieser Bedeutung konkurriert irren mit dem synonymen reflexiven sich irren: Wenn einer… meint, daß er ein Vogel wär', so irrt sich der (W.A033 Wilhelm Busch, Fink und Frosch). Veraltet ist intransitiv irrenim Sinne von
3vom rechten Weg abkommen‹: Ein Mann der vom Wege der Klugheit jrret (A180 Martin Luther, Sprüche Salomos 21,16), Seine Kugel irrte, die meine traf (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Egmont 5,4). Dafür heute abirren, sich ↑ "verirren".
Irrung (mhd. ) ›Abweichen vom rechten Weg, Handeln oder Denken‹; bis ins 18. Jahrhundert geläufig, vgl. Irrungen in einer Rechnung machen (L004 Johann Christoph Adelung), vgl. noch ⇓ "S243" A060 Theodor Fontanes Romantitel Irrungen, Wirrungen (1888).
irrig (mhd. ), entsprechend der Bedeutungs-Vielfalt von irrenin vielfältigen Zusammenhängen, z. B. die strassen sind Irrig / habend vil abwäg (L200 Josua Maaler 1561), die so jrrigen Geist habend (›sich im Irrtum befinden‹) werden verstand annemen (A180 Martin Luther, Jesaja 29,24); andere irrige (›schwer entscheidbare‹) fragen wil ich auf dis mals ruhen lassen(1550 Adam Riese; L059 DWb). Heute noch in bezug auf Meinungen, Ansichten, Lehren u.dgl.: eine irrige Vorstellung von etwas haben.
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