Hermann Paul - Deutsches Wörterbuch
hin
ahd. hina, mhd. hin(e), wie ⇑ "hier", "her" aus dem in ↑ "heute" steckenden Pronominalstamm gebildet. Ursprüngliche Bedeutung des Adverbs wie die der Weiterbildung ↑ "hinnen"(1): ›von hier‹. Von alters her sind beide auf die Verwendung beschränkt, die ↑ "hier"(3) entspricht, sie bezeichnen also die Richtung vom Standpunkt des Sprechenden weg im Gegensatz zu ↑ "her"(1). Auch diese Bedeutung ist im Neuhochdeutschen nicht mehr ganz rein erhalten, vielmehr kann sich hin auch auf einen anderen Standpunkt als den des Sprechenden beziehen, sofern sich nur kein Gegensatz zu diesem ergibt, und außerdem hat sich die Bedeutung noch nach anderen Seiten entwickelt. Auch als tontragendes trennbares Verbpräfix hat hin verschiedene Bedeutungen (s. unten).1 Am besten erhalten ist die angegebene Bedeutung in der Verschmelzung mit den Ortsadverbien: ⇑ "hinab", "hinan", "hinauf", "hinaus", "hindurch", "hinein", "hinüber", "hinunter", "hinweg", "hinzu"; nur daß dabei immer die Bedeutung des zweiten Bestandteils, der den Ton trägt, stärker hervortritt, wie denn der zweite Bestandteil auch in der älteren Sprache genügte, wo wir jetzt die Verschmelzung anwenden müssen. Besonders in süddeutscher Umgangssprache wird hin vor den vokalisch anlautenden Adverbien zu nreduziert: 'nab, 'naus usw. Vgl. die analogen Verhältnisse bei ↑ "her". In norddeutscher Umgangssprache sind die Verschmelzungen mit hin nicht üblich (s. "her"[1]). Das Spezielle siehe unter dem zweiten Bestandteil. Die analogen Verschmelzungen mit hin in zeitlichem Sinn "hinfort", hinfür, hinfürder sind jetzt veraltet, üblich jedoch weiterhin Zeitadverbien mit -hin als letztem Element weiterhin, fernerhin, späterhin; vgl. auch lange hin, Gegensatz zu lange her; entsprechend es ist noch drei Tage hin usw. Ungewöhnlich wenn er noch einige Jahre hin hat(älter geworden ist) (Goethe); haben wir ein halbes Jahr hin (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Brief vom 28.11.06). Rückwärts gerichtete Zeitperspektive in "vorhin", letzthin.
2 Steht hin ohne eine Bezeichnung der Richtung und ohne daß eine solche aus dem Zusammenhang zu entnehmen ist, so tritt die Vorstellung, daß eine Entfernung stattfindet, in den Vordergrund, während, wenn der Ausgangspunkt hervorgehoben werden soll, vielmehr von hier gesetzt werden muß. So ist hinsynonym mit ↑ "weg", mit dem es auch kombiniert wird (↑ "hinweg"), und mit ↑ "fort" geworden, gegenüber denen es in dieser Funktion immer mehr zurückgetreten ist; vgl. Fälle wie eilt nicht von uns hin (Haller); die Zeit ist hingeflogen (Uhland); des Menschen Sohn gehet hin (›stirbt‹) (Luther); häufiger kommen vor hinfliehen, hinraffen, hinscheiden, "hingeben". Von der Bedeutung ›weg‹ geht vielleicht auch ↑ "schlechthin" aus, wie das synonyme ↑ "schlechtweg" zeigt, doch vgl. unter (6); wahrscheinlich auch "gemeinhin", "immerhin", "mithin", "ohnehin".Gebräuchlicher ist hin in dem mehr abstrakten Sinn ›verloren, zugrunde gegangen‹: er ist hin, hin ist er. In ähnlichem, etwas schwächerem Sinne steht hin in Verbindungen wie hinschwinden, hinschmelzen, hinwelken, hinsiechen, hinschmachten, hinsterben; "hinrichten", hinschlachten, hinmorden, hinmetzeln, hinwürgen; doch spielt hierbei vielleicht auch die unter (5) besprochene Vorstellung hinein.
3 Indem sich zu hinhäufig eine Bezeichnung für das Ziel der Bewegung gesellte, wurde die Vorstellung von der Richtung auf ein solches Ziel in die Bedeutung von hinselbst mit aufgenommen (vgl. den entsprechenden Vorgang bei ↑ "her"). So entstand der uns jetzt geläufigste Sinn des Wortes: gehet hin in alle Welt, fahret hin aufs Meer. Wird hinunmittelbar hinter die Zielbezeichnung gesetzt und dieser im Ton untergeordnet, so ist mit hin nur die Richtung angegeben, in der die Bewegung stattfindet, ohne daß es sich um eine Erreichung des Zieles handelt: er geht nach dem Meere hin bzw. nach dem Meere zu; nach dieser, jener Seite hin. Hierher gehört mit Übertragung auf Nicht-Räumliches auf die Gefahr hin u.dgl. (s. "auf") Weiter wird hin mit Ortsadverbien verbunden, die an und für sich eine Ruhelage bezeichnen, so daß daraus Zielbezeichnungen werden: überallhin, nirgendshin, dorthin, "dahin" (siehe dort), "wohin". Die beiden Elemente können auch durch dazwischengeschobene Wörter getrennt sein; dann ist hinstärker betont: nirgends mag er hingehen, da gehe ich nicht hin, wo gehst du hin?; wo ich hingehe. In diesem Fall wird die Richtungsbezeichnung stärker hervorgehoben gegenüber dem Verbalbegriff, der umgekehrt stärker hervortritt, wenn hin sich enklitisch an das Ortsadverb anlehnt. Vgl. die analogen Verhältnisse bei ↑ "her". Schließlich kann hin auch für sich stehend Zielbezeichnung sein, indem die genaue Bestimmung des Ziels durch den Zusammenhang gegeben wird, z. B. ich gehe auf den Ball, gehst du auch hin?; auch durch einen Relativsatz kann diese Bestimmung gegeben sein: du wirst hingehen, wo kein Tag mehr scheinet (Schiller). Hierher auch hin in Zusammensetzungen wie Hinfahrt, Hinreise mit dem Gegensatz Herfahrt oder Rückfahrt. Übertragung auf unräumliche Verhältnisse bei hinreichen, "hinlangen".
4 Bei der Verbindung der beiden Gegensätze hin und her braucht keine Vorstellung von bestimmten Punkten vorzuliegen, sie ist nur der Ausdruck für abwechselnde Bewegung nach entgegengesetzten Richtungen (vgl. "hier"[6]): übertragen hin und her gerissen seinsich nicht entscheiden können‹; auch substantivisch nach langem Hin und Hernach langem Überlegen‹. Frühneuhochdeutsch ist hin und her zuweilen soviel wie ›hierhin und dorthin verstreut‹: den zwölf Geschlechtern, die da sind hin und her (Luther). In ähnlicher Bedeutung wie hin und her erscheint auch hin und wieder, ursprünglich ›hin und zurück‹: er hat mich gesund hin und wieder gebracht (Luther); gewöhnlicher ›abwechselnd nach verschiedenen Richtungen‹: es werden Wasser in der Wüste hin und wieder fließen (Luther); das Schaf sprang hin und wieder(Lessing); so stand er auf und ging in dem Zimmer hin und wieder(Goethe); das unstet hin und wieder springende Gespräch(Mörike); auf Unräumliches übertragen: nach einigem Hin- und Widerreden (Goethe); sie gedachten hin und wieder (Goethe); ›hierhin und dorthin verstreut, hie und da‹: in den Schulen hin und wieder (Luther); hin und wieder heute nur in zeitlicher Bedeutung ›manchmal‹ üblich.
5 Die Natur gewisser Verben bringt es mit sich, daß hin die Richtung auf den Boden oder eine Unterlage bezeichnet. So ist es gekommen, daß dies als zur Bedeutung von hingehörig aufgefaßt wird, vgl. hinfallen (dazu ↑ "hinfällig"), hinsinken, hinstolpern, hinstürzen, hintaumeln, hinknien, hinwerfen, hinlegen, hinstellen, hinsetzen, hinsäen, hinschütten, hinstreuen, hinschreiben, hinkritzeln, hinzeichnen, hinsudeln; hingestützt auf Grazien und Musen(Schiller).
6 Vielfach wird hin in verblaßter Bedeutung gebraucht, wenn nicht an einen Anfangs- oder Endpunkt der Bewegung gedacht wird, sondern nur an ihren Verlauf (vgl. "her"[3]). Anzutreffen ist ein solches hinbesonders in den Verbindungen über… hin, durch… hin, zwischen… hin(daß die Wasser zwischen den Bergen hinfließenLuther), neben… hin (das Wasser lief an der rechten Seite des Tempels neben dem Altar hin gegen Mittag Luther), an… hin (dessen Rauch an der Erde hinziehtGoethe); seltener vor… hin: er lief vor (Variante für) Ahab hin (Luther); huscht doch die Freud' auf Flügeln vor uns hin (G.A.Bürger); heute üblicher vor… her in räumlichem Sinn, jedoch auch vor sich hin (arbeiten, blicken usw.); vgl. auch noch einer Halle, welche in der Breite der Kirche hinläuft (Goethe). Hier anzuschließen sind umhin (↑ "umhinkönnen"), obenhin, "leichthin", vielleicht auch "schlechthin" (siehe dort). Ohne eine präpositionale Bestimmung wird "dahin" vorgezogen, doch kommt auch hinschwimmen, hinirren, hinschleichen, hinbrausen u.dgl. vor. Allgemein üblich ist ein solches hinmit Übertragung auf zeitliche Verhältnisse, teils neben transitiven Verben: hinbringen, hinziehen, hinfristen, hinschleppen (sein Leben u.dgl.); teils neben intransitiven Verben, die durch die Verknüpfung mit hin zuweilen transitiv werden: hinbrüten, hindämmern, hinträumen, hintändeln, hintrödeln, hinjammern u.dgl. B.Horlitz, Untersuchung deutscher Richtungsbestimmungen am Beispiel von hin, 1976.
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