Hermann Paul - Deutsches Wörterbuch
Herr
ahd. herro< heriro, Komparativ von her (nhd. ↑ "hehr"), wohl Lehnübersetzung von lat. seniorder Vornehmere‹, mhd. herre (nur vor Namen und Titeln schon her), daher neuhochdeutsch noch Herre als mundartliche und poetische Nebenform, flektiert Herren und Herrn (so umgangssprachlich überwiegend, vor Namen und Titeln ausschließlich); zunächst1 Bezeichnung für den Gebieter über von ihm Abhängige im Gegensatz zu ⇑ "Sklave", "Knecht", "Diener". Von seinem Herrn abfallen (L308 Kaspar Stieler), herr und meister (Goethe; L059 DWb) herr des hauses (Luther; L059 DWb); A113 Georg Wilhelm Friedrich Hegel kontrastiert: das selbständige [Wesen] [und] das unselbständige… , jenes ist der Herr, dies der Knecht (1807; Phänomenologie des Geistes IV (A), 146); noch bei L004 Johann Christoph Adelung nachgestellt für »Obrigkeiten«: Der Kaiser, unser allergnädigster Herr, bereits seit dem Mittelhochdeutschen (vgl. L059 DWb) auf Gott bezogen der HERR sol Herr vber euch sein (A180 Martin Luther, Richter 8,23), daher heute umgangssprachlich scherzhaft anerkennend in der Formulierung
vor dem Herrn, z. B. ein großer Angler vor dem Herrn(L337 WdG), dazu die »ausrufformel« (L059 DWb) meine Herrn! wohl aus ursprünglich bairischem Singular mein Herr! und Herrgott (s. unten); für Jesus: ach herr… das du da ligst auf dürrem gras (Luther; L059 DWb), dazu herrje (s. unten); im Sinne von ›Ehemann‹ – nun ich alt bin und mein Herr auch(Luther) – noch bei A222 Friedrich Schiller: mein lieber Herr und Ehewirt (Tell 2,2), erweitert, wobei das Merkmal der Herrschaft zurücktritt zugunsten des Ausdrucks von Besitz- bzw. Beziehungsverhältnissen, bereits mittelhochdeutsch des waldes herre (Iwein; L059 DWb), herr des pferdes (16. Jahrhundert; L059 DWb), im ⇓ "S050" Diminutiv HerrchenBesitzer eines Hundes‹ (↑ "Frau"); in der festen Wendung
Herr über etwas, bei A180 Martin Luther: Herrn… vber ewren glauben (2.Korinther 1,24), Herr über seine Leidenschaften (L004 Johann Christoph Adelung), häufig verneint: wir sind nicht mehr Herr über das, was daraus entsprungen ist, aber wir sind Herr, es unschädlich zu machen(Goethe); neuhochdeutsch häufig prädikativ und attributiv ohne Artikel, besonders in festeren Wendungen (↑ "Meister"): Er ist sein eigen Herr (L308 Kaspar Stieler), Die Frau ist Herr und nicht der Mann(ebenda); dazu "Hausherr" (L308 Kaspar Stieler), Standesherr (wohl erst 18. Jahrhundert; L059 DWb); im Mittelhochdeutschen weiterentwickelt zu
2 Standesbezeichnung, zunächst für freie Vasallen, dann auch Ministeriale, Bischöfe, Äbte, Mitglieder des Stadtrats, dazu Ratsherr (mhd. ratherre), Pfarrherr (↑ "Pfarre"), Domherr, "Feldherr", "Freiherr", Kammerherr (alle L308 Kaspar Stieler), Herrenhaus (mhd. herrenhus), zu (1) und (2) Fem. Herrin (L037 Petrus Dasypodius); daher seit dem Mittelhochdeutschen
3 als ⇓ "S011" Anrede ursprünglich Adelszeichen wie jetzt ↑ "von", zunächst für Höhergestellte (min) herro, dann auch für Gleich- bzw. niedriger Gestellte sowie für außerhalb des Ritterstands Stehende, daher gesellschaftliches Leitbild schon bei L308 Kaspar Stieler: Du bist ein feiner Herr, so im Vergleich zu ↑ "Dame", entsprechend dem Unterschied von ↑ "Mann" und "Frau"; als Adelszeichen dann von der Höflichkeitsbezeichnung des Bürgertums zurückgedrängt, daher mit Attributen zur Hervorhebung des Vornehmeren: gestrenge Herren (L308 Kaspar Stieler), junger Herr (↑ "Junker"), gnädiger Herr: heißt gnädiger Herr, das Bürschchen dort (1842 F.Freiligrath, Trotz alledem), in Verbindung mit Personennamen und Titeln Herr Beyer, Herr Becker (L033 Joachim Heinrich Campe), so auch bei B.A024 Bertolt Brecht mit Anspielung an (1) Herr Puntila und sein Knecht Matti(1948), Herr Pfarrer (L004 Johann Christoph Adelung), mein Herr Verleger (ebenda), ohne Artikel besonders »bei Aufschriften auf Briefen« (L033 Joachim Heinrich Campe); seit dem 16. Jahrhundert indirekt gebraucht (L059 DWb), in der Anrede mit Pronomen zu wem wollen Sie, mein Herr? (L033 Joachim Heinrich Campe), unflektiert auch die Kartoffeln, der Herr?(Böll; L337 WdG), auch als Objekt in der direkten Rede Ihr Herr Vater (L004 Johann Christoph Adelung), in der festen Verbindung ⇓ "S211" Alter Herr seit ca. 1870 für den nichtstudentischen Angehörigen einer studentischen Verbindung (L115 Helmut Henne/ L115 Georg Objartel 1875), dann auch im Sinne von ›Vater‹; im 18. Jahrhundert weiter verallgemeinert
4 »in weiterer Bedeutung… Ehrenwort oder Titel, [für] alle männliche Personen von einigem Stande, [der] von Geringern… von Personen ihres Standes und von Vornehmern« (L004 Johann Christoph Adelung) in der Anrede oder Erwähnung gebraucht wird: Die Gesellschaft bestand aus zehn Herren und zwölf Damen (L033 Joachim Heinrich Campe), beim Tanzen jeder Herr führt seine Dame(ebenda), dann weiter verallgemeinert »ohne Rücksicht auf Rang, Stand« etc. (L102 Theodor Heinsius), »im Laufe des 20. Jahrhunderts [weiter] neutralisiert« (GG 3, 63), daher im Sport Brustschwimmen der Herren (L337 WdG), dazu Herrenmensch (analog zu ↑ "Untermensch"?) in Anlehnung an A200 Friedrich Nietzsche (1883 Zarathustra) und seiner Vorstellung vom überlegenen Menschen, daher »herrischer Mensch« (L269 Daniel Sanders/ L269 J. Ernst Wülfing), Herrenrasse"S032" (A200 Friedrich Nietzsche): eine Herren-Rasse, deren Aufgabe sich damit erschöpfte, zu regieren (Bd. 12, 426).
Herrenreiter um 1900 ⇓ "S124" Lehnübersetzung von engl. gentleman riderder sein eigenes Pferd reitet‹: Ein österreichischer Aristokrat… eleganter Mann… wie zum Herrenreiter geboren (1924 Th.A183 Thomas Mann, Zauberberg 22), danach seit etwa 1920 Herrenfahrerder sein eigenes Auto fährt‹, beim Trabrennen Gegensatz zu Berufsfahrer.
Herrgott mhd. herregot, < herre got kontrahiert, häufig mit Possesivpronomen: scheint doch unsers herrgotts sonne (Wieland; L059 DWb), »ein fluch« ist Herrgott! (L059 DWb), dazu Herrgottsfrühe in der Verbindung
in aller Herrgottsfrühe (Simrock; L059 DWb); süddeutsch im Sinne von ›Kruzifix‹, daher HerrgottschnitzerHolzschnitzer religiöser Figuren‹.
herrje auch herrjemine, ojemine, ↑ "jemine", wohl verkürzt aus Herr Jesu bzw. Herr Jesu domine (lat. ›Herr‹), ⇓ "S057" Empfindungswort, »ausruf der verwunderung und des schreckens« (L059 DWb): herr Jeh, wie schön! (Lichtenberg; L059 DWb); Flattern auf und in die Höh' / Ach herrje, herr jemine! (1865 W.A033 Wilhelm Busch, Max und Moritz, 1.Streich); heute Ausdruck von Ärger oder Bedauern: Wie alles den Bach runtergeht / Ach herrje! Doch wieder die alte Leier! (A071 Robert Gernhardt, Körper 51).
Herrschaft ahd. herscaf(t), mhd. herschaft Fem. wie ↑ "herrlich" zu "hehr" im späten Mittelalter an Herrangelehnt; ⇓ "S175" an Herr(1) und (2) anschließend zunächst
1Gewalt über Menschen, Länder, Güter‹ im Sinne von ›Regierung, Befehl‹: Herrschaft vnd gewalt (L200 Josua Maaler), Fürstliche… königliche Herrschaft (L308 Kaspar Stieler), präpositional mit über: Herrschaft über Land und Leute (L004 Johann Christoph Adelung), mit unter: Ein Land unter seine Herrschaft bringen (ebenda); seit der Französischen Revolution negativ gedeutet und dem Begriff der ↑ "Freiheit" entgegengesetzt: Nur wer nicht gesetzlich regieren kann, maßt sich der Herrschaft an (Seume; GG 3), seither zunehmend als »historischer Befund« (GG 3,61) registriert, dazu "Gewaltherrschaft" (1813) – bei L033 Joachim Heinrich Campe als deutsche Entsprechung zu Despotie –, Volksherrschaft von L033 Joachim Heinrich Campe für ↑ "Demokratie" (ebenda), "Weltherrschaft" (17. Jahrhundert; L059 DWb); übertragen, z. B. auf Charakterzüge feigheit hat keine herrschaft (Herder; L059 DWb), Die Herrschaft über sich selbst haben (L004 Johann Christoph Adelung); seit dem Mittelhochdeutschen und bis ins 19. Jahrhundert
2 in räumlichem Sinn: ein Herrschaft oder gebiet (L200 Josua Maaler); daran anschließend bereits mittelhochdeutsch
3 übertragen, Brieve an die Könige vnd Herrschafften (A180 Martin Luther, 1.Makkabäer 15,15), kollektiv wie oft trat nicht die herrschaft schon herein (Goethe; L059 DWb), daran anschließend schon mittelhochdeutsch
4Dienstherrenschaft‹: Jeder Diener soll seine Herrschaft treulich meinen [›achten, lieben‹] (L308 Kaspar Stieler), häufig Plural es muß die Policey… auch das Gesinde wider unbillige und harte Herrschaften schützen (1787 L173 Johann Georg Krünitz 17,566); so, im Wilhelminischen Geist, bis zu Anfang des 20. Jahrhunderts Wenn die Herrschaft nicht zu Haus ist (L269 Daniel Sanders/ L269 J. Ernst Wülfing); daneben erweitert zu
5 Bezeichnung für »vornehme Personen« (L004 Johann Christoph Adelung) ohne den Begriff des Gebieters: Es ist eine fremde Herrschaft hier angekommen (ebenda), so seit dem 18. Jahrhundert als Anrede meine Herrschaften! (vgl. L059 DWb), aber schon mhd. ir herschaft; heute auch als tadelnder Ausruf (vgl. L337 WdG).
herrschaftlich (L308 Kaspar Stieler), zunächst wertfrei herrschaftliche güter (ebenda), dann auch negativ – befahl er mir auf eine recht herrschaftliche art (Schnabel; L059 DWb) – bzw. positiv wertend: einen behaglich herrschaftlichen eindruck (Hesse; L059 DWb).
herrschen ahd. herison, mhd. herschen, hersen, verwandt mit "herrlich", aber wie "Herrschaft" an Herr angelehnt; an Herr(1) anschließend
1regieren, Gewalt ausüben‹, von Gott er herrschet mit seiner gewalt ewiglich (Luther; L059 DWb), im politischen Sinn »die Handlungen anderer bestimmen« (L064 Johann August Eberhard/ L064 Johann Gebhard Ehrenreich Maaß/ L064 Johann Gottfried Gruber 41852), im Gegensatz zu ↑ "regieren" ohne Angabe von Mittel und Zweck (vgl. GG): autokratisch herrschen und dabei doch republicanisch regieren (I.Kant; L059 DWb); gewöhnlich präpositional mit über, frühneuhochdeutsch und vereinzelt bis ins 18. Jahrhundert literarisch mit Dativ sollst der Erde herrschen (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Prometheus 66), mit Akkusativ wie gleichbedeutend "beherrschen" (bei L308 Kaspar Stieler noch beherren): der den Weltkreis, wie er will, herrscht, im Partizip herrschender Blick, Wille (beide Klopstock; vgl. L059 DWb); abstrakt übertragen
2längere Zeit überwiegend gelten‹: Also… herrsche die Gnade durch die gerechtigkeit (A180 Martin Luther, Römer 5,21), rings um sie herrschet todesstille(Hölty; L059 DWb), im Partizip die augenblicklich herrschende ansicht (L059 DWb), weiter ⇓ "S227" verblaßt zu »vorhanden sein«: hier herrscht Ordnung (L320 Trübner), dazu vorherrschen 1482 bezeugt, dann erst wieder bei L033 Joachim Heinrich Campe, »unendlich öfter in uneigentlichem, als in eigentlichem sinne gebraucht« (L059 DWb), häufig attributiv und partizipial: die vorherrschende Meinung (L033 Joachim Heinrich Campe); seit dem 19. Jahrhundert
3gebietend sprechen‹: als du mit kaltem Tone herrschtest: Nimm's (Grillparzer), ↑ "anherrschen".
Herrscher ahd. hersari, mhd. herscher, wie Herr(1) auf Gott bezogen dem Herrn dem Herrscher (A180 Martin Luther, 2.Mose 23,17), bei A131 Friedrich Hölderlin Herrscher der Natur (Hymne an die Freiheit; 1,141), in politischem Sinn ein herrscher… dem eignen herzen gehorchet (Schiller; L059 DWb).
herrisch mhd. her(i)sch; zunächst nicht abwertend
1 im Anschluß an Herr(1) mit einem herrischen mantel oder ehrenrock behängt (vgl. L059 DWb), auf eine entsprechende Handlung bezogen: die freier, die hier obwalten so herrisch (Voß; L059 DWb), dann auch ⇓ "S031" pejorisiert
2stolz, überheblich‹: Ein herrischer Sinn (L308 Kaspar Stieler), wie Kinder… Sind sie mürrisch und voll herrischen Eigensinns (A131 Friedrich Hölderlin, Die Launischen).
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